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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ful bei Fatme

© Christine Schöning


Zwischen Büchern fühle ich mich zu Hause. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber lange Regale, am besten solche, die von der Decke bis zum Boden reichen und in denen sich Bücher wie Sardinen in der Dose aneinander pressen, vermitteln mir ein Gefühl der Geborgenheit. Immer wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann flüchte ich in die städtische Bibliothek. Hier komme ich zur Ruhe. Für mich ist es ein Zauberort, denn es gibt kein Problem und keine Frage, über die vor mir nicht irgendjemand schon einmal nachgedacht und das Ergebnis seiner Anstrengungen zwischen zwei Buchdeckel gepresst hätte. Ich liebe es, mich in diesem zu Papier gewordenen Gedächtnis zu bewegen, und darin nach Herzenslust zu stöbern. Außerdem ist die Bibliothek ein Ort der Stille oder sagen wir mal besser er war es, bis Fatme auftauchte. Ich blätterte gerade in einer Ausgabe von Goethes "West-östlicher Diwan", da stand sie plötzlich vor mir, als wäre sie gerade aus dem Boden gewachsen. "Hallo, ich bin Fatme, die neue Bibliothekarsassistentin. Kann ich helfen", fragte sie fröhlich. Was fiel dieser Person eigentlich ein, mich zu stören? Ich war sauer. Zugegeben, ich war wütend auf die ganze Welt. Weil mal wieder eine meiner Beziehungen zu Männern nicht funktioniert hatte und ich mich ernsthaft fragen musste, wie viel Schuld ich daran trage. Eine Frage, über die ich gar nicht nachdenken wollte, weil ich mich vor der Antwort fürchtete. Und ich war sauer, dass sie mich dabei erwischt hatte, wie ich mich genüsslich in meinem Elend suhlte. Ich hatte es mir in meiner Krise gerade so schön bequem gemacht. In so einer Situation kann man einfach keine Zuschauer gebrauchen, die einen vielleicht darauf aufmerksam machen könnten, dass es auch andere Menschen mit Problemen auf dieser Welt gibt. Ich wollte in Ruhe gelassen werden., basta. Da fehlte mir gerade noch eine türkische Bibliothekarassistentin mit Helfersyndrom. "Danke, ich komme gut allein zurecht. Kümmern Sie sich mal lieber um ihre Arbeit oder noch besser, um ihre türkische Verwandtschaft", zischte ich ihr zu, natürlich im Flüsterton, um die anderen Besucher, die in der Leseecke lümmelten, nicht zu stören. Zu meiner Verteidigung kann ich sagen, dass ich normalerweise nicht so giftig bin. Um ehrlich zu sein, ich hasse unausgeglichene Menschen, aber diese Frau hatte mich doch eindeutig provoziert. Ich meine, sie hatte mich noch nie in ihrem Leben gesehen, glaubte aber, mir helfen zu können oder schlimmer noch, zu müssen. Aber obwohl ich ihr gerade eine Frechheit ins Gesicht gesagt hatte, schaute sie mich nur an. Sie hatte große braune Augen, die mich von oben bis unten scannten und ich versuchte darin zu lesen, was sie jetzt vielleicht dachte. Ich tippte auf "Rassistin". Ich hätte das mit der türkischen Sippe einfach nicht sagen sollen, dachte ich. Ich hätte am besten gar nichts sagen sollen, außer: "Nein, Danke. Sie können nichts für mich tun". Es hat schon seinen Grund, warum ich mich zwischen Büchern verkrieche, wenn ich in einer solchen Stimmung bin. Mann kann mich in diesem Zustand einfach nicht auf die Gesellschaft loslassen. Doch Fatme schien das herzlich wenig auszumachen. Sie antwortete auf meine Tirade nur eins: "Ägyptisch." Ich schaute sie völlig verwirrt an. "Wie", frage ich verdattert. "Es muss heißen ägyptische Verwandtschaft, nicht türkische", erklärte sie und lächelte mich an. "Ach so", erwiderte ich lahm und wandte mich dem Regal zu. Es sollte so aussehen, als ob ich den Goethe wieder an seinen Platz zurückstellen wollte. In Wahrheit versuchte ich nur, ihr nicht in die Augen sehen zu müssen, weil ich mich für meine Grobheit schämte. Möglicherweise lag es daran, dass meine Beziehungen früher oder später, meistens aber eher früher, scheiterten. Wenn ich das Gefühl habe, es gibt da jemanden, der mir zu nahe kommen könnte, dann bekomme ich angst. Dann will ich raus aus der Sache und das geht am schnellsten, wenn ich andere verletze. Bei Fatme hatte ich allerdings versagt. Oder sie hatte mich und mein Spiel durchschaut. "Warum bist du so niedergeschlagen", wollte sie wissen. Was antwortet man auf so eine Frage? Kann man einem Menschen, den man gar nicht kennt, von seinen Ängsten erzählen? Einem Pfarrer vielleicht oder einem Arzt, der im Grunde ein Pfarrer mit medizinischen Kenntnissen ist, aber einer türkischen, äh pardon, einer ägyptischen Bibliothekarassistentin? Der Witz an der Sache war, ich wollte es ihr tatsächlich gern erzählen. Einfach alles. Dass ich glaubte einen Fehler gemacht zu haben, dass es da einem Mann in meinem Leben gab, der mir sehr fehlte, das ich mich einsam fühlte, dass ich mich manchmal dabei ertappte, dass ich nur darauf wartete, dass das Telefon endlich klingeln würde und er dran wäre. All das wollte ich gern erzählen, aber ich konnte nicht. Es war so, als hielte mir eine unsichtbare Hand den Mund zu. Aber ist das verwunderlich? Schließlich bin ich in einer Kultur aufgewachsen, in der man nicht jedem sein Herz ausschüttet. Das ist unfein. Es ist ein Zeichen von Schwäche. In dieser Gesellschaft darfst du alles sein, Lesbe, Autonome sogar Vegetarierin, aber bloß nicht schwach. Wenn du gefragt wirst "Wie geht es dir", dann antwortest du "gut", selbst wenn dein Hund gerade vom angetrunkenen Nachbarn überfahren wurde. "Kopf hoch, egal was es ist, das wird schon wieder. Inscha' Allah", murmelte sie, zog den Goethe wieder aus dem Regal und ordnete ihn an anderer Stelle wieder ein. "Wieso sagst du das", fragte ich mit fester Stimme, damit sie nicht merkte, wie mich unser merkwürdiges Gespräch aufwühlte. "Was soll das heißen Inscha' Allah?" Jetzt lächelte sie mich an. "Weißt du was, ich habe gerade ein bisschen Ful in der Gemeinschaftsküche für die Angestellten gemacht, setz dich doch zu mir und ich erkläre es dir." Wir fuhren mit dem gläsernen Aufzug ins Erdgeschoss. Ich schaute die ganze Zeit auf die Digitalanzeige, auf der die Stockwerke im Countdown rückwärts angezeigt wurden und fragte mich, was ich eigentlich hier machte. Es war ziemlich dunkel, aber im Keller gab es sowieso nur die Schließfächer und eben besagte Gemeinschaftsküche, auf deren grauen Eingangstür ein Schild mit der Aufschrift "Privat" klebte. Fatme ging zielstrebig zum Kühlschrank und holte eine weiße Porzellanschüssel heraus, die sie auf dem Tisch in der Mitte des Raumes abstellte. Sie wedelte mit ihren Händen herum in Richtung der Stühle, was wohl so viel wie setz dich bedeuten sollte. Ich ließ mich auf einen der wackligen Holzstühle plumpsen und während Fatme ein Baguette zurechtschnitt, warf ich einen Blick in die Schüssel. Sah irgendwie komisch aus, das Zeug. Ich wollte ja wirklich niemandem zu nahe treten, aber dieses Mus, dass sie Ful nannte, sah aus, wie schon mal gegessen. Ich verzog leicht angeekelt die Mundwinkel, aber obwohl Fatme mir den Rücken zudrehte, musste sie es wohl gesehen haben, denn sie sagte wie auf Kommando: "In arabischen Ländern ist Ful eine Delikatesse. Das Püree wird aus Kichererbsen gemacht und mit Salz, Pfeffer, Zitronensaft und Knoblauch abgeschmeckt. Ich sage dir, das ist ein Gedicht." Na ja, über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, dachte ich. "Was mich viel mehr interessiert ist, was es mit Inscha' Allah auf sich hat", sagte ich, um auf das eigentliche Thema zurück zu kommen. Während Fatme ihr Baguette mit Ful bestrich, erklärte sie es mir. "Inscha' Allah bedeutet so Gott will", sagte sie und biss in ihr Brot, als sei damit alles Wesentliche gesagt. "Aha, aber ich verstehe es trotzdem noch nicht", antwortete ich. "Es ist doch ein Mann, der dich in diesem kummervollen Zustand versetzt hat, oder etwa nicht. Es sind doch immer Männer, die uns Frauen so traurig machen", stellte sie fest und grinste. Ich fand es ziemlich unpassend über das Unglück anderer Menschen zu lächeln, hielt aber diesmal die Klappe und nickte stattdessen zustimmend. "Und ich sage dir, es wird schon werden, Inscha' Allah. Das zeigt die Erfahrung." Ich war entrüstet. Das sollte schon alles gewesen sein? "Du weißt doch gar nicht, worum es geht, wie kannst du dann so etwas sagen", meckerte ich und biss beleidigt in das Baguette mit dem Ful. Das Zeug schmeckte tatsächlich, auch wenn es eklig aussah. Ich schnappte mir eins der Messer, die auf dem Tisch lagen und bestrich das Weißbrot mit einer dicken Schicht aus Kichererbsenpüree. Fatme nahm meinen Heißhunger befriedigt zur Kenntnis und liess sich auf eine weitere Diskussion mit mir ein. "Natürlich wissen weder du noch ich, was morgen, übermorgen oder in einer Woche geschehen wird. Das weiß nur Gott allein. Natürlich könnte ich dir einfach sagen, was ihr Europäer am liebsten hören wollt: Alles wird gut. Aber das wäre, schlichtweg gelogen, weil wir Menschen, wie gesagt, das gar nicht wissen können. Vielleicht kommt der Typ, der dich so traurig gemacht hat, wieder zurück, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise hat er bereits eine andere oder er hat beschlossen alle Brücken hinter sich abzubrechen und über die sieben Weltmeere zu schippern. Letztlich liegt alles, was geschieht in Gottes Hand und deshalb ist "so Gott will" das Ehrlichste, was ich dir sagen kann." Das sah ich ein und es hatte auch etwas tröstliches zu wissen, dass es eine höhere Macht gab. "Du meinst "que sera sera"", frage ich noch mal nach, nur um ganz sicher zu gehen, dass ich es auch wirklich verstanden hatte. "Ja genau", antwortet Fatme. "Ich glaube, jetzt hast du's begriffen. Deshalb macht es eigentlich auch keinen Sinn, weiter Trübsal zu blasen, denn es werden auch wieder bessere Zeiten kommen, Inscha' Allah." Genau dachte ich plötzlich auch und schmierte mir noch ein Brot zurecht. Während ich kaute fiel mir noch was ein: "Übrigens Fatme", plapperte ich mit vollem Mund. "Erinnere mich daran, dass ich mir später ein Buch über arabische Küche ausleihe."



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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