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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Begegnung im Traum

© Hiltrud Baier


Sie sah ihn nur kurz, vergaß ihn wieder, schaute in ihr Buch. Weg, weit weg. Ihre Gedanken versanken. Sie befand sich in einer anderen Welt, wollte dort auch bleiben. Aber das Rucken des Zuges brachte sie zurück in die Realität. Raus hier, laufen, fahren, laufen, arbeiten, freundlich sein, ab und zu lächeln und am Abend die Reise zurück. Wieder war sie dort, wieder versank sie in die andere Welt, in den Traum.
Einmal rechnete sie aus, wie viele Tage, Wochen, Monate sie schon in dieser Traumwelt lebte. Zweihundert Tage, über ein halbes Jahr. Sie wollte mehr!
Er sah sie, immer wieder, sie aber beachtete ihn nicht. Sie wollte ihn nicht sehen. Krampfhaft hielt sie sich an ihren Helden fest, sie wollte nicht nach draußen.
Einmal sprach er sie an. Sie schaute kurz auf, sagte ein paar knappe Worte, lächelte. Ein Mann, der sie beachtete. Als er ging, sah sie, dass er groß war. Er passte kaum durch die Tür nach draußen.
War auch er ein Traum?
Ein Jahr verging. Ein Jahr voller Einsamkeit, Traurigkeit und Flucht. Sie weinte mit ihren Helden, lachte mit ihnen, traf sich mit ihnen und verließ sie wieder. Abschied, immer wieder Abschied, und doch hinterließen ihre Helden Spuren. Sie gingen und waren doch immer noch bei ihr.
Lange Zeit später sah er sie wieder. Sie erkannte ihn immer noch nicht. Er stand neben ihr und reichte ihr ein kleines Kärtchen. Rot war es, grellrot, beschrieben mit einem Namen, den sie nicht kannte und einer Adresse, die ihr fremd war.
"Vielleicht haben Sie Lust mir zu schreiben?"
"Vielleicht."
Da war es wieder, dieses Lächeln, versunken, ungläubig.
Sie legte die Karte in ihre Schreibtischschublade. Bei jedem Öffnen knallte ihr die leuchtend rote Farbe entgegen. Sollte sie? Sollte sie nicht?
Sie überlegte, Tage, zwei Wochen, dann schrieb sie.
"Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder, Haus und Garten. Wollen Sie mich immer noch treffen?"
Ehrlich wollte sie sein, von Anfang an. Sie war es immer, auch zu ihrem Mann und zu ihren Kindern.
Sie ging mit ihm, verließ Mann und Kinder, Freunde, Haus und Land. Sie ging in die Fremde mit einem Vertrauten, mit ihrem Geliebten.
Sie las nicht mehr so viel, sie schaute. Diese Schönheit, sie blendete sie. Sie schloss die Augen. Wo war sie? In der Wirklichkeit, im Traum?
Die Jahre vergingen. Jahre des Zweifelns, der Trauer, Jahre des Glücks über die neu gefundene Freiheit. Frei von vorgefertigten Träumen. Sie lebte nun ihren eigenen, schweren Traum, aber sie lebte ihn nicht mehr allein. Er war an ihrer Seite und zeigte ihr, wie schön das Leben sein konnte.
Als sie starb, war sie nicht allein. Er legte sich zu ihr, schmiegte sich an sie und sie lächelte ihr Lächeln, wie im Traum.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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