Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Schlüssel und Blues. Eine Gutenachtgeschichte

© Klaus Herrgen


Konnte man zu spät ins Fegefeuer kommen? Daniel konnte es. Als er in das Gewölbe hinabstieg, war ihm klar, dass die Lichter bald ausgehen würden. Auch dieser freie Abend war für ihn wohl gelaufen noch bevor er richtig begonnen hatte. Die Schuld an solchen Verspätungen gab er den ständigen Prüfungen, Klausuren und Referaten; Seminare und Vorlesungen wollten vor- und nachbereitet sein. Was blieb da noch an freier Zeit?
Daniel hatte sich das Studium anders vorgestellt. Seine Eltern schwärmten noch heute von der Aufbruchstimmung und dem revolutionären Elan der Achtundsechziger. Was hatten die nicht alles angestellt! Damals kam es auf ein Semester mehr oder weniger nicht an, und wer dachte schon über Studiengebühren nach? Auch bereits bemooste Häupter konnten noch den Marsch durch die Institutionen antreten und bis in höchste Ämter gelangen. Aktivisten, die ihre Durchsetzungskraft auf der Straße an der Polizei erprobten, erhielten heute Personenschutz. Die hatten es geschafft - geiles Studium, klasse Karriere, reichlich Kohle! Daniel und seine Kommilitonen waren zu spät dran. Wollten sie überhaupt noch eine Chance haben, mussten Prädikatsexamina her. Da blieb nicht viel Zeit für feuchtfröhliche Abende in Studentenlokalen!
Als Daniel noch in der Oberstufe war, freute er sich auf die Uni. Dort würde er sich nicht mehr mit einer Fülle von Fächern herumplagen müssen, sondern sich weitgehend selbständig ein oder zwei Disziplinen widmen. So hatte er sich das vorgestellt, und daran war auch der Opa schuld, denn der blickte noch verklärter als die Eltern auf das freie Leben als Studiker zurück. Oh alter Burschen Herrlichkeit ...! Nicht mal den Hochschulort konnte sich Daniel aussuchen, davor war die ZVS, die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen. Stundenplan und Lektüre wurden weitgehend vorgegeben - Humboldt ade; den Namen erwähnte man besser gar nicht mehr - wirkte heute ewig gestrig -, und das Fach der Wahl, das als Erlösung von den zahlreichen Schulfächern gesehen wurde, zerfiel in Teilfächer und musste durch Begleitstudien ergänzt werden. Alles war in kürzester Zeit, der Regelstudienzeit, zu absolvieren. Chronisch überbelegte Seminare zog man im Vorlesungsstil durch.
Hatte Daniel Hausaufgaben als eines Primaners für unwürdig empfunden, hier bekam er sie reichlich. Im Besitz der Reife wurde man mehr und mehr an die Hand genommen. Was war von dem so gelobten freien Studium geblieben? Passives Pauken engte die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zunehmend ein, und es galt, sich das prüfungsrelevante Wissen so rasch wie möglich anzueignen.
Seinen akademischen Lehrern ging es nicht besser. "Über meinem Haupt nur noch die Sterne", so mochte mancher von der Zeit nach erfolgreicher Habilitation geträumt haben. - Ade Einsamkeit und Freiheit! Jetzt galt allenthalben der Primat des Nützlichen. Mochte die Nützlichkeit für den alten Kant ein Moment von zweitem Rang gewesen sein, das hinter der Erforschung der Wahrheit mit Hilfe der Wissenschaft zurückzustehen hatte, so hatte man sich heute am wirtschaftlichen Nutzen zu orientieren und für die Ansprüchen der Wirtschaft offen zu sein. Professoren wurden nun regelmäßig von einer zentralen Agentur evaluiert, mussten sich ständig Projekte ausdenken, Legitimationsattrappen aufbauen, Strukturpläne erstellen, neue Studien- und Prüfungsordnungen verinnerlichen, sich mit ungeliebten Kollegen vernetzen, interdisziplinäre Forschungszentren gründen, Drittmittel einwerben, gleichzeitig aber auch Kongresse besuchen, eifrig publizieren, Stunden über Stunden der akademischen Selbstverwaltung opfern und sich zu guter Letzt noch von ihren Studenten bewerten lassen. Wie wirkte sich diese Inflation der Ansprüche und Aufgaben auf eine sensible Forscherseele aus? Nun, es gab auch andere Temperamente, und die verstanden sich wirkungsvoll in Szene zu setzen. Aber verlangten Finanzautonomie der Hochschulen, Globalhaushalt und Selbstverwaltung nicht geradezu nach wendigen, innovativen, effizient arbeitenden Managertypen? Da hatte ein Spezialist für altrömische Münzen schlechte Karten, und die schönen Orchideenfächer, die eine Universität zieren und ihr Glanz verleihen können, gerieten mehr und mehr in Gefahr auszutrocknen. Zierde und Glanz hießen heute übrigens Exzellenz. Man musste auch sprachlich mit der Zeit gehen. Wollte man seiner Hochschule Anhänglichkeit beweisen und ihr etwas Gutes tun, so wurde man nicht Mitglied eines Förderervereins, sondern Alumnus, Alumna. Daniel scheute sich, diese Worte gegenüber Nichteingeweihten zu verwenden. Alumnus - was würde sich sein Frisör wohl darunter vorstellen? "Herr Heinzel, ich bin jetzt ein Alumnus!" Probieren Sie das doch einfach mal in der Nachbarschaft aus!
Man musste nicht unbedingt Geisteswissenschaftler sein, um besorgt in die Zukunft zu blicken, überall sah man scheinbar überflüssige Menschen. Die Nischen, in die sie sich hätten verkriechen mögen, waren schwer zu finden und meist besetzt. Daniel hatte den Blues noch bevor der DJ die entsprechenden Scheiben auflegte. Die kamen immer ganz zum Schluss, und wer dann noch allein war, fühlte sich auch so. Wer bis zu dieser finalen Schmuserunde niemand hatte, der würde das Lokal so allein verlassen wie er gekommen war. Da waren nicht wenige im Fegefeuer, bei denen zu dieser Stunde Torschlusspanik ausbrach. Taxierende Blicke schweiften in die Runde. Noch wollte man den Abend nicht verloren geben, noch waren die harten Rhythmen angesagt. Eine heiße Musikdusche von erheblichem Betäubungspotential strömte durch das Gewölbe. Um die kleine Tanzfläche herum standen bullige Typen. Sie stierten sprachlos auf die Leiber, die im flackernden Licht zuckten. Sich an ihren Biergläsern festhaltend, glotzten sie auf tätowierte Bäuche, Arschgeweihe und Stringtangas, die beim Tanzen immer wieder sichtbar wurden.
Während die Tanzenden und ihre Gaffer in Rausch und Trance die Zeit vergaßen, hatte der Exodus aus dem überfüllten Gewölbekeller begonnen. Wer den letzten Bus erwischen wollte, musste jetzt gehen, doch nicht jeder und jede schaffte den rechtzeitigen Absprung. Damit war die Stunde der Autobesitzer gekommen. Ihre Nähe wurde gesucht, und beim Gedanken an einen langen, vielleicht sogar einsamen Heimweg durch die Dunkelheit war man gern bereit, den potentiellen und hoffentlich einigermaßen nüchternen Fahrern Aufmerksamkeit zu schenken. Das tat denen nun so gut, dass sie noch länger bleiben wollten. Müde und genervt bei dem Gedanken an die Aufgaben, die der kommende Tag stellen würde, geriet das Warten auf die Mitfahrgelegenheit mitunter zu einer besonderen Tortur.
Aber noch immer stiegen junge Leute in das studentische Kellerlokal hinunter. Jedem Klappen der Tür folgte ein Schwall kühler Luft, der die Rauchschwaden leicht bewegte. Der Auftritt unter den Blicken der anderen verursachte den späten Gästen sichtbar Anspannung. Die Jungs am Kicker blickten kurz auf die Neuankömmlinge, nahmen nach einem knallend gefallenen Tor einen tiefen Zug aus der Zigarette und fragten sich vielleicht, was die Leute von ihrem späten Auftritt erwarteten. Wollten sie morgen von einem ausgiebigen Zug durch die Gemeinde schwärmen, dem sie hier eine weitere Etappe zugefügt hatten? Das Bier dürfte sie nicht hier herunter gelockt haben. Zwar war es nicht teuer, sondern mit Abstand das preiswerteste Getränk, das hier ausgeschenkt wurde, aber man musste schon sehr durstig oder benebelt sein, um es ohne Murren in sich hineinzugießen. Alternativen zu diesem Gebräu, das ohne jede bewusstseinserweiternde Wirkung war, gab es nicht. Die Gaststätte war fest in der Hand der Brauerei. Markenbewusstsein konnte man am Zigarettenautomaten demonstrieren.
Die Jungs am Kicker fühlten sich wohl; sie waren angeheitert und hatten anscheinend keine höheren Ansprüche an diesen Abend. Wieder knallte ein Ball von Jubel und dem Klacken der Trefferanzeige begleitet ins Tor. Inzwischen hatten die späten Gäste ein bekanntes Gesicht in der Menge entdeckt, auf das sie zusteuern konnten.
Wieder öffnete sich die Tür, und der Typ, der ein Typ sein wollte, hatte seinen Auftritt. Er war ganz in Schwarz gekleidet und gab sich existentialistisch umdüstert. Mit kritischem Blick musterte er die Menschen um sich herum. Sie konnten seinem hohen Anspruch nicht genügen. Der Typ, der ein Typ sein wollte, suchte die astreine Frau. Einmal hatte er sie hier angetroffen - vielleicht war das aber auch nur ein Traum - und seitdem kam er regelmäßig, blickte sich kritisch um, ohne je die Traumfrau zu entdecken, ließ noch schnell den Intellektuellen raushängen und trat ab. So auch heute. Daniel stand nahe der Tür. Der Typ musste an ihm vorbei. Die beiden späten Gäste waren sich nicht ganz unbekannt. In der Tür drehte sich der Typ nochmals um, blickte in die Runde und sagte dann beim Hinausgehen: "Un seul être vous manque, et tout est dépeuplé"; sprachs und war draußen. Daniel stutzte einen Augenblick, dann hätte er ihm gern "Lamartine" hinterher gerufen, aber so ganz sicher war er sich auf die Schnelle nicht, und mal wieder war er ein wenig zu langsam, wenn es galt, schlagfertig zu sein. So blieb ihm das kleine Erfolgserlebnis versagt, und der Typ, der ein Typ sein wollte, konnte sich mal wieder sehr schlau vorkommen.
Jetzt kam ein ganz besonderes seltener Vogel: der Flügelmensch - eine wahrer Einzelgänger, eine echte Rarität. Im Sommer konnte man ihn in kurzen Hosen in der Stadt antreffen. Unter einem Arm trug er einen altertümlichen Schulranzen, den anderen streckte er beim Gehen wie einen gebrochen Flügel steif und unbeweglich von sich. Er sah aus, als hätte er den Anschluss an die Wandervögel verpasst. Er war Jahrzehnte zu spät und wäre, so wie er auftrat, schon damals in der munteren Jugendbewegung als gebrochener Sonderling aufgefallen. Der nun heute hier! Das konnte nicht unkommentiert bleiben. Daniel versuchte, nicht hinzusehen. Blicke, so fühlte er, mussten dem Betrachteten wie dem Betrachter wehtun. Weit gefehlt! Daniel hätte wissen müssen, dass seltene Käuze nicht von jedem Schutz erwarten können. Diesmal war es Helge, der ihn aufs Korn nahm. Helge war ein Bild von einem Mann, das heißt äußerlich stimmte es bei ihm, insoweit hatte es die Natur gut mit ihm gemeint. Er besaß die Gestalt eines Wikingers und trug sein schönes blondes Haar lang wie die Achtundsechziger, mit denen er sonst rein gar nichts gemeinsam hatte. Aber das wusste er nicht. Sein schöner Schädel war viel zu leer, als dass er irgendwelche Mängel an sich hätte feststellen können. Schön, stark und dumm, dazu Kind vermögender Eltern - ihn focht nichts an, er konnte glücklich sein. "Na", sagte er, indem er mit überlegenem Grinsen auf den schmächtigen Flügelmenschen herabschaute, dem gerade sein Billigbier gezapft wurde, "na", und bei diesem zweiten "na" schauten schon allerhand Gäste erwartungsvoll auf diese Szene; ohnehin war Helge durch seine stattliche, blendende Erscheinung ihrer Aufmerksamkeit gewiss. "Na, suchst du hier auch mal was zu picken? Wird Zeit für dich! Du wirst auch nicht schöner!" Darauf konnte der Kauz nicht reagieren. Er hatte keine Chance, denn dieser Recke war körperlich und geistig unverwundbar. Etliche Umstehende lachten. Hätte jetzt einer für den Flügelmenschen ritterlich Partei ergriffen, so wäre der Wikinger nur zu gern mit ihm vor die Tür gegangen, um dort einen noch größeren Auftritt zu haben. So ritterlich war man nun auch wieder nicht. Man musste vernünftig sein. Die Kasse zahlte für Zahnersatz und Brillen kaum noch etwas dazu. Da darf man nicht den Helden spielen. "Helge, du bist ein Arsch!" Wer hatte das gewagt? Der Arsch war sprachlos. Gegen die elegante Carla kam er nicht an. Er grinste, winkte ab und war bald verschwunden. Sicherlich fuhr er in seinem heißen Schlitten von seinen Getreuen begleitet neuen Abenteuern entgegen.
Carla war in Begleitung ihres Faktotums Biedermeier ins Fegefeuer geraten. Das geschah gelegentlich. Biedermeier hätte sich in diese Auseinandersetzung nicht eingemischt, dazu war er gar nicht der Kerl. Auch hieß er gar nicht Biedermeier, sondern schlicht Meier. Carla hatte ihm diesen Namen verpasst. Sie hatte ihn so treffend getauft, dass er die Namenserweiterung nicht mehr loswurde. Er blickte leicht gequält, wenn man ihn hier so nannte. War er Carla böse? Konnte er ihr überhaupt böse sein? Er ließ es sich gefallen, wie er sich überhaupt alles von ihr gefallen ließ. Während der Existentialist stets allein kam und auch der Flügelmensch als Einzelgänger bekannt war, tauchte Biedermeier nie ohne die schöne Carla im Fegefeuer auf. Er verehrte sie und diente ihr hingebungsvoll, und da hatte er allerhand zu tun. Carla hatte reichlich Probleme. Sie war bereits Ende Zwanzig und noch immer weit vom Examen entfernt. Schon als Kind war sie weit herumgekommen. Ihr Vater war Botschafter, und der Lebenszuschnitt der Eltern hatte die Tochter geprägt. Sie besaß Stil, beherrschte mehrere Sprachen, war stets elegant und teuer gekleidet und passte so gar nicht in diesen Studentenkeller. Dass sie hierher kam, lag daran, dass sie nebenan im Wohnheim für Studierende mit Kindern wohnte. Mochte die uneheliche Geburt des Nachwuchses für ihre Eltern schon eine herbe Enttäuschung gewesen sein, so nicht minder diese Adresse ihres einzigen Kindes. Doch verhielten sie sich diplomatisch und überwiesen ihrer Tochter mehr als das Übliche, sie nannten es "Entwicklungshilfe", und blieben ansonsten weit weg. Carla war mit ihrer kleinen Jasmin und wiederkehrenden Partnerproblemen überfordert - dazu kam noch das Studium. Wie hätte sie das ohne Biedermeier schaffen können? Er passte auf die Kleine auf und tröstete sie, wenn die Mutter keine Zeit hatte. Da kam es schon vor, dass er lange auf Carlas Rückkehr warten musste, um dann auch sie zu trösten, wenn ihr Rendezvous ein Reinfall war. Anschließend durfte er Jasmin in den Kindergarten bringen, danach ging er zur Vorlesung, während Carla sich mal richtig ausschlafen musste. Dann brachte er ihr seine Mitschrift, damit sie das Versäumte nachholen könne. Dabei passierte es schon mal, dass seine sorgfältigen Aufzeichnungen in Carlas chaotischem Haushalt verloren gingen. Immer wieder nahm Carla Anläufe, ihr Leben besser zu organisieren und ihr Studium in den Griff zu bekommen. Der erste Schritt war meist eine hoffnungsvolle neue Affäre. Das ging regelmäßig schief. In ihrer gelegentlichen Verzweiflung hatte sie den schönen Helge bestimmt auch schon ausprobiert. Nicht von Ungefähr konnte sie ihn einen Arsch nennen. Biedermeier wartete auf seine Stunde. Die würde nie kommen. Seine Eltern hatten bemerkt, dass eine Frau im Spiel war. Der brave, angepasste Junge hatte immer weniger Zeit für sie. Nur noch selten kam er nach Hause. Er würde doch hoffentlich sein Studium nicht vernachlässigen, wo er immer so strebsam gewesen war? Jetzt, so kurz vor dem Examen? Die große Schwester kreuzte auf, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Sie gab Entwarnung. "Das wird garantiert nichts. Die Frau ist nicht seine Kragenweite, die ist mehr als eine Nummer zu groß." Diese Meldung an die besorgten Eltern blieb Biedermeier nicht verborgen, und so hatte er zu all seinen Mühen und Enttäuschungen noch diesen Schmerz. Ja, Schmerz! Es verletzte ihn zu erfahren, wie seine Schwester ihn sah. Das tat genauso weh wie damals, als seine Mutter ein Foto betrachtete, das Robert Capa zeigte, und verträumt sagte: "So einen Sohn habe ich mir immer gewünscht." Die biedere Frau eines gewissenhaften Steuerberaters hatte in diesem Augenblick völlig verdrängt, dass ihr Sohn neben ihr saß.
Jetzt verließ die Nationenschläferin das Lokal. Ihr leidenschaftliches Interesse an Völkerkunde und ihr unermüdliches Suchen nach neuen Eindrücken und Erfahrungen führte sie oft unter das bunte Völkchen im Fegefeuer. Heute ging sie mit zwei Männern. Daniel kannte sie. Die beiden waren unzertrennlich und taten alles gemeinsam. Auch sie hatten ihre Absichten. In den nächsten Tagen würden sie zur Unterhaltung und Erheiterung ihrer Freunde Tonaufnahmen vorspielen, die sie jetzt unbemerkt in ihrem Zimmer machen würden. Der eine fotografierte auch. Er zeigte den Mädchen einschlägige Magazine, die er bei sich daheim nie hätte kaufen dürfen, bereitete sie so auf ihre Rolle vor und verschoss manchen Film. Während die Freunde sich dieser Bildergalerie erfreuen durften, erzählte er den Modellen, dass er mit seiner komplizierten Kamera noch nicht recht vertraut sei und dass die Bilder leider alle nichts geworden seien. War das nicht gemein? In Daniel kämpften Neugier und Schaulust mit dem Über-Ich. Das Über-Ich hatte es also mit zweien zu tun. Wie geht so ein Kampf wohl aus? Ein Landsmann der beiden, der bemerkte, wie Daniel dem Trio nachblickte, wandte sich ihm zu und sagte: "Ihr habt scheiß Moral." Was sagt man dazu? Dann setzte er noch eins drauf, denn er sah gerade, wie sich der hübscheste seiner Landsleute mit einer hässlichen Frau verdrückte. "Wir sind die Geier eurer Betten. Ihr habt scheiß Moral."
Wenn jeder auf seinem Zimmer bliebe, gäbe es viele Konflikte nicht, aber noch war Daniel nicht dazu aufgelegt, allein in seinen vier Wänden zu hocken. Er wollte diesem Abend noch etwas abgewinnen, wollte den Alltag abstreifen. Zerstreuung durch Gespräche war bei dieser Beschallung nicht zu haben. Peng! Und wieder wurde mit lautem Hallo ein Tor am Kicker gefeiert. Vielleicht war Daniel nicht genügsam genug. Was wollte er noch? Während er darüber nachdachte, erfassten seine Augen den entscheidenden Schlüsselreiz. Der war eine Die und stand auf zwei Beinen neben Jutta. Jutta kannte er noch von der Penne. Das war ein Anknüpfungspunkt. Jetzt wollte er es wissen. Er gab sich Mühe und setzte seinen ganzen Charme ein. Bald drehte er sich mit Isabella, so hieß der Schlüsselreiz, zu einschmeichelnden Melodien auf der engen Tanzfläche. Sie lag gut im Arm und dann lag seine Hand ... Ach, sie ließ es geschehen, und er spürte ihren Herzschlag. Das Leben kann so schön sein! Isabella! Nie wieder würde er bei diesem Namen an einen Oldtimer aus dem Hause Borgward denken. Jetzt nur noch diese Isabella! Diese Arme konnten in den Arm nehmen! Und dann wurde es zu heiß im Fegefeuer. Isabella und Jutta empfanden das auch. Alles lief wie von selbst. Daniel bot sich an, seine Begleiterinnen nach Hause zu fahren, und Isabella war bereit, zu dieser späten Stunde noch einen Kaffee zu kochen. Unterwegs stellte Jutta fest, dass sie nun doch schon zu müde war, wofür Daniel volles Verständnis hatte. Er setzte zunächst Isabella vor ihrer Tür ab. Sie wollte noch etwas Ordnung schaffen - "You never get a second chance to make a first impression"; Daniel sollte derweil Jutta nach Hause chauffieren. In den Minuten, in denen er mit Jutta allein war, versuchte er so viel wie möglich aus ihr herauszubekommen. Isabella war frei. Ihr Freund musste vor einigen Wochen in seine ferne Heimat zurückkehren, und da gestand sie sich ein, dass sie sich ein Leben als Frau eines Forstbeamten im Regenwald nicht vorstellen konnte. Inzwischen begann sie, die Trennung zu überwinden. "Ich fahre besser noch mal kurz zur Tankstelle", war Daniels Reaktion auf diese Eröffnung. Jutta blickte zur Tankuhr und grinste. "Ich glaube, das ist nicht nötig. Sie hat zwar die Pille abgesetzt, aber der Tag passt gut in ihren Kalender." "Mann oh Mann", dachte sich Daniel, "kann die Frau direkt sein. Was erzählen die sich denn alles? Meine sanfte Isabella?" Es fiel ihm auf, dass er schon an "seine" Isabella dachte. Alles ging so schnell. Wenn das der Opa wüsste! Bei dem dauerte alles länger. Von Jutta hatte er sich bald verabschiedet. Süffisant grinsend hatte sie eine gute Nacht gewünscht. Die Frau war nicht verliebt, nur deshalb konnte sie so unromantisch sein.
Isabella wohnte in der Altstadt, und es dauerte eine Weile, bis er einen Parkplatz gefunden hatte. Durch die verwinkelten engen Einbahnstraßen lief er zu ihrem Haus, einem alten Bürgerhaus, das bessere Zeiten gesehen hatte. Über drei hohen Etagen thronte eine Mansarde, deren ovale, ja fast bullaugenartige Fenster man von dem Fußweg vor dem Haus aus nicht sehen konnte. Die schwere, altertümlich verzierte Haustür war verschlossen. Die aufgeklebten Namenschilder an den Klingeln ließen auf häufigen Mieterwechsel schließen. Bei den unteren Klingeln standen durchweg mehrere Namen. Nach oben nahm die Anzahl der Namen auf den Klingelschildern ab. Ihr Name stand ganz oben und allein. Die Mansardenwohnungen schienen nicht so reich bevölkert, sie mussten kleiner sein. Und schon bei dem Gedanken daran schwebte ihm ein gemütliches Nest unter dem Himmel vor. Neben ihrem Namen war noch ein Zettel aufgeklebt. Das war doch hoffentlich keine Absage! "Dreimal klingeln, dann zur Gesichtskontrolle auf die andere Straßenseite gehen, wieder rüberkommen, dann Schlüssel auf den Kopf." Er klingelte, ging rasch zur gegenüberliegenden Straßenseite, von wo aus er zur Mansarde hinaufblickte. Bald erschien hinter einem Bullauge ein Gesicht, kaum zu erkennen. Er hatte erwartet, dass sie ihm zuwinken würde. Die Fenster mussten sich doch öffnen lassen, wie sollte das mit dem Schlüssel sonst funktionieren? Er trat wieder vor das Haus und richtete Blick und Hände nach oben. Peng! Da hatte ihn der große Schlüssel, der zu der schweren, altertümlichen Tür passte und nur in einer dünnen Tüte steckte, hart auf die Nase getroffen. Das tat richtig weh. Nur der Gedanke, dass er gerade im Begriff war, aus dem Fegefeuer kommend in den siebenten Himmel aufzusteigen, ließ ihn den stechenden Schmerz vergessen. Oben angekommen fiel ihm zuerst ein Poster auf. Es klebte an einer Tür und zeigte eine kämpferische alte Frau. Darunter stand: "No Pasarán!". Das war doch La Pasionaria. Wie hieß die doch gleich mit bürgerlichem Namen? "Bürgerlich" war doch in diesem Zusammenhang ganz unpassend. Na, wie hieß die doch? Er durfte doch nicht so unwissend aufkreuzen. "You never get a second chance ..." Dolores. Das sind die Falten von Dolores. Dolores und weiter? Warum ausgerechnet die? Was hatte das zu bedeuten? Da ging die Tür auf. Die sanfte Isabella blickte auf seine schwellende Nase und konnte nicht mehr an sich halten. Als sie sich vor Lachen bog, konnte er in ihr Zimmer blicken. Da waren noch Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. Auf dem Tisch lag ein Buch: "Ödipus' Schwester". Mann oh Mann, Daniel - hier betrat er ganz offensichtlich nicht den siebenten Himmel, in dem ein sanfter Engel mit dem schönen Namen Isabella wohnte und ihn gleich über all seine Schmerzen hinweg trösten würde. Er war vom Fegefeuer in die feministische Löwengrube geraten. Und jetzt gute Nacht.



Eingereicht am 24. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Attrktivitätsforschung «««
»»» Haarausfall «««
»»» Schmetterlinge «««
»»» Schmetterlinge «««
»»» Pusteblumen «««
»»» Wintergedichte «««
»»» Wintergedichte «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Naturgedichte «««
»»» Liebesgedichte «««
»»» HOME PAGE «««