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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das Indianer-Mädchen
© Karl-Heinz Schreiber
"Gottlob haben sie nicht verstanden, wo das Spektakel aufhörte und die Katastrophe begann."
(Thomas Mann, Mario und der Zauberer)
Ich weiß nicht, ob wir überhaupt hätten hinfahren sollen. Die Stimmung war von Anfang an unkontrollierbar. Die Familie verhielt sich kilometergemäß ungeduldig. Wie man die Perioden von Durst, Hunger und Langeweile bei Frau und Kindern als Ehemann und Vater einordnet und sozusagen verwaltet, das gehört zu den höheren Anforderungen des gutbürgerlichen Daseins. Eine Autobahnfahrt über zweihundert Kilometer wäre nicht das Schlimmste, solange Landschaft außen und Schläfrigkeit innen in etwa regulieren, was bei familiären
Beifahrern an Unduldsamkeit hochkommen könnte.
Hätte ich aber jemals geahnt, welche Kompliziertheit unseren familiären Samstagsausflug beenden würde, ich hätte mich schleunigst rechtzeitig verweigert. Wir hatten uns eigentlich und quasi gut vorbereitet. Die Fahrtroute war eindeutig. Das Auto war vollgetankt. Die Kinder waren eingestimmt auf einen Freizeitpark. Meine Frau und ich hatten uns elterlich vorprogrammiert. Sogar das Wetter wollte gütlich sein. Und der Autobahnverkehr war nicht hinderlich. Also kamen wir genügend flott an und bezahlten unseren Eintritt.
Nun wollten wir uns also in all die Erlebnismöglichkeiten ergeben. Schließlich gilt für Eltern auch der karitative Aspekt den eigenen Kindern gegenüber. An Wochenenden findet häufig eine Sympathiewerbung seitens der Eltern gegenüber ihren Kindern statt. So tolerant wie an Wochenenden sind Eltern sonst nie. Vielleicht noch an Geburtstagen oder an Weihnachten. Im familiären Zusammenleben geht es ja eigentlich nur stetig darum, was man sich alles zumuten kann. Nun staunten wir über die vielfältigen Erheiterungsmöglichkeiten.
Man kann es nur als Erwachsener begreifen! Alles muss bestens organisiert sein, um spontan erlebt werden zu können.
Es kam also zur Abfolge dessen, was bezahlt und noch eher vermutet, erwartet und nicht gewusst wurde. Da ist eben ein Erlebnispark für unsere Nachgeborenen ebensoviel wert wie die ganze elterliche Authentizität aus den sechziger und siebziger Jahren. Auf Dauer lassen sich unsere Kinder freilich nicht mit Erlebnissen abspeisen, die mit Eintrittsgeld abgegolten werden. Und selbst wenn es mit den eigenen Kindern funktionieren sollte, hat man das Problem, die Unzufriedenheit der anderen von den eigenen Kindern
abzuhalten.
So hatten wir uns also gewollt amüsiert durch dieses nachempfundene Westerngelände bewegt und uns zwischendurch auch am Imbissstand gestärkt. Im Laufe des Nachmittags merkten wir Eltern, dass wir älter waren als unsere Kinder, ohne aber recht zu wissen, woran wir dies eigentlich feststellten. Aber auch der Reiz unterschiedlicher Spielangebote wirkt auf Kinder differenziert. Nun war jedenfalls für den Nachmittag eine Vorführung mit fliegenden Indianern angekündigt. Zahlreiche Familien und vergleichbare Sonntagstouristen
hatten sich längst rechtzeitig auf einem großräumigen Platz um einen sechsundzwanzig Meter hohen Baumstamm versammelt.
Der Chef der Indianertruppe erklärte, dass es sich bei der Vorführung keineswegs um eine Show handle, sondern um das Sonnen-Ritual der Totonaken-Indianer. Die Leute mussten sich die sentimentalen Erklärungen über die rituelle Bedeutung des Kommenden anhören, obwohl sie für ihr Eintrittsgeld lediglich, aber auch mindestens einen Nervenkitzel erwarteten. Endlich stiegen fünf Indianer mit ihrer spezifischen Geschicklichkeit den Stamm hinauf. Der Chef der Truppe versprach, dass gleich einer auf der oberen kleinen
Fläche des Stammes tanzen werde. Tatsächlich stellte sich einer dieser Indianer auf die minimale Plattform, welche die Schnittfläche eines Stammes am schlanken oberen Ende belässt. Er stand dann ruhig mit verschränkten Armen da oben, während sich die vier übrigen, in einer behelfsmäßigen Halterung hangelnd, jeweils ein Seil um ihr rechtes Bein befestigten.
Dieser fünfte Indianer stand nun aber nur da und blickte in irgendeine Ferne, vielleicht zum großflächigen Parkplatz außerhalb des Geländes oder bis zur nahen Autobahn womöglich bis in seine Heimat in Mexiko. Bei diesen Indianern, habe ich mir sagen lassen, spielen die geographischen Entfernungen ohnehin keine entscheidende Rolle sie sehen mit einen inneren Auge. Der uns da oben seinen Körper aufgerichtet hatte, saß vielleicht in Wahrheit zuhause in seinem Dorf und zerkaute geduldig einen Maiskolben, Einem
Indianer ist wohl in dieser Hinsicht allerhand zuzutrauen, Wie anders hätte er sich wohl dort oben so unbeweglich behaupten können, wenn ihn nicht sein Geist auf eine für uns Europäer unerklärliche Weise ausbalanciert hätte.
So sehr hatte ich mich in diesen Indianer hinein vertieft, dass ich fast nicht erschrak, als ich unvermittelt das Gefühl hatte, ich selbst stünde dort droben, weit weg von allen Autobahnen, Elternpflichten und Eintrittsgeldern. Die Sonne schien konsequent. Kein Geräusch war zu hören. Da plötzlich quengelte wie ein Stich mit infantiler Brutalität ein kleines Mädchen dazwischen: "Mami, der tanzt doch gar nicht!" Nur Kinder trauen sich, Beschwerden mit solch unangemessener und rücksichtsloser Direktheit
vorzubringen.
Während dieser Indianer in sechsundzwanzig Metern Höhe wahrscheinlich schon allein damit sein Leben riskierte, dass er ungesichert auf dieser esstellergroßen Plattform stand ich behaupte, keiner von uns Umstehenden hätte dies gewagt plärrte da ein kleines, offensichtlich total verzogenes Mädchen in diesen heiligen Akt der Konzentration. Ich war innerlich so aufgewühlt, dass meine Blicke dieses Mädchen nur sukzessive zu erfassen vermochten. Zuerst registrierte ich nur ein feist-schmollendes Grinsen, dann
sah ich die rechte Hand mit einer übervollen Eistüte, die linke Hand mit einer Limonadendose übelster Marke und vor dem Mädchen stand vornüber gebeugt die Mutter mit einer hingestreckten Styroporschale mit überquellenden Pommes Frites. Bei all meinem Ärger über diese Störung dachte ich mir doch mit einem Male, dass sich das Mädchen dermaßen bedrängt vorkommen musste, dass es seinen elementaren Zorn oder war es Schmerz? hinauszuschreien nicht an sich halten konnte.
Irgendwie hatte ich in diesem Moment die Lust an der Vorführung verloren. Hätte ich vorhin noch eine Neigung verspürt, diesem Mädchen eine Ohrfeige zu verpassen, fiel mir jetzt komischerweise auf, dass es eigentlich ein hübsches kleines Ding war. Die Mutter kümmerte sich nicht weiter um die Äußerung, aß einfach selbst von den Pommes Frites, indem sie sich von dem Mädchen wegdrehte. Während ich mich umschaute, musste ich den Eindruck gewinnen, ich hätte die Beschwerde des Mädchens als einziger gehört.
Wie durch einen unergründlichen Bann drehte sich mein Kopf unversehens nach oben. Da sah ich, wie der auf dem Stammende stehende Indianer direkt zu dem Mädchen blickte. Ich war wie starr, nein, ich zuckte nur noch meinen Kopf eine imaginäre Linie zwischen dem Indianer und dem Mädchen hin und her, langsam aber ruckartig.
Auch das Mädchen hatte mittlerweile die Ortung aufgenommen, Ja, wenn es so etwas gäbe: die visuelle Witterung. Und dann, nach wie vielen Malen Hin und Her weiß ich nicht, führte mich der Blick dieses Indianers auf das Mädchen, so dass ich jetzt erst sah, wie es die Arme weit von sich gestreckt hatte, das Eis und die Limonadendose seinen Händen entglitten waren und es saß in einem Rollstuhl! Mir wurde fast dunkel vor Wut und Ratlosigkeit. Und dieses arme Geschöpf hatte ich ohrfeigen wollen! Natürlich sollte jemand
für es tanzen! Und wenn es dieser Indianer nicht tun wollte, würde ich es eben tun! Und es war mir, als begänne ich mich zu bewegen, langsame Schritte von mir fort, zu mir hin ...
Ein kreischender Aufschrei, ein dumpfer Aufprall, der Indianer lag verrenkt auf dem staubigen Boden. Während ein entsetztes Raunen wellenartig durch das Publikum toste, erhob sich das Mädchen wie selbstverständlich, ging zu dem Indianer, streichelte ihn und lächelte ihn an: "Aber du hättest doch noch für mich tanzen sollen."
Mich selbst ergriff eine makabre Panik, ich riss meine Familienmitglieder an mich und während wir auf den Ausgang zustürzten, sah ich noch mit einem letzten Blick nach hinten, wie sich die vier anderen Indianer kopfüber an ihren Seilen hängend unverständlich langsam um den Stamm drehten, insgesamt sechsundzwanzig mal, bis sich die Seile aufgewickelt hatten und die Indianer dem Ritual gemäß wieder auf dem Boden angekommen waren.
Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.