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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Griff ins Leere
© Carsten Benecke
Die Tür ist verschlossen. Noch einmal drückt sie die Klinke herunter. Sie hält Ausschau nach Objekten, die im Weg stehen, die Tür blockieren. Hat sie die Klinke tief genug nach unten gedrückt? Sie macht einen letzten Versuch.
Dann besteht kein Zweifel mehr. Viele Male ist sie durch diese Tür hinausgegangen. Diesmal ist sie verschlossen. Hinter ihr sitzt Norman immer noch weinend auf dem Boden. Warum kümmert sich Frederik nicht um ihn? Er will doch die Kinder in den nächsten drei Tagen bei sich haben. Sie hat überhaupt nicht mit in die Wohnung kommen wollen. Die Szene, die Fred ihr auf der Straße gemacht hat, ließ ihr keine andere Wahl, glaubt sie. Wieder hat sie versucht mit ihm etwas zu klären, das von ihrer Seite längst geklärt
ist. Was hat sie denn geglaubt, was sie hier gewinnen konnte, als sie sich wieder auf eine dieser Diskussionen einließ. Dass er seine Belagerung aufheben würde? Dass er ihr Leben endlich ihr überlassen würde?
Frederik steht noch immer auf dem Balkon, die Hände auf das Geländer gestützt. Die breiten Schultern wirken eingefallen und schwach. Sie blickt sich im Flur um, kann aber nirgends einen Schlüssel entdecken. Sie sucht nicht in der Küche. Er hat sie nicht eingeschlossen, um es ihr dann so einfach zu machen. Inzwischen hat auch Laila angefangen zu weinen. Und Frederik rührt sich noch immer nicht. Gudrun kann die Tränen ihrer Kinder nur noch mit Mühe ertragen. "Dann hau halt ab. Die Gören kannst du gleich mitnehmen."
‚Wie kaputt muss ein Mensch eigentlich sein, wenn er so in Anwesenheit seiner Kinder spricht.' Sie geht zur Balkontür. In seinen Rücken hinein fragt sie nach dem Wohnungsschlüssel, doch Frederik rührt sich nicht.
Sie wendet sich ihren Kindern zu und geht auf die Knie. "Kommt ihr zu mir?" Laila und Norman flüchten in die Arme ihrer Mutter. Das Schluchzen wird langsam leiser und verklingt schließlich ganz. Frederik drückt seine Zigarette im Blumenkasten aus und stellt sich in die Balkontür. "Du bist ja noch da", stellt er nüchtern fest. "Ich muss jetzt gehen. Schließ bitte die Tür auf." Ihre Stimme ist matt. Solange er sich im Kampf mit ihr befindet, versucht, sie in seinen Besitz zu bringen,
kann sie nur abwarten. Mit einem weiteren Kraftaufwand wird sie das Problem nicht lösen. Er ist ihr mit seinen 1,96 Körpergröße und seinen muskulösen Armen klar überlegen. Laila kuschelt sich tiefer in die Arme ihrer Mutter. "Meine Mama. Meine Mama", murmelt sie mit geschlossenen Augen. Frederik geht vor seiner Familie auf die Knie. "Warum tun wir uns das an?" Seine Stimme ist schwach. "Frederik, ich will gehen." "Wir klären das jetzt. Ich liebe dich." "Das haben
wir alles schon besprochen." Gudrun zieht ihre Kinder noch näher zu sich. Die kleinen Köpfe ruhen an ihrer Schulter. Sie ist auf seinen nächsten Ausbruch vorbereitet und versucht alles, diesen zu verhindern. Sie will nicht, dass ihre Kinder diesen Krieg mit ansehen müssen. Sie muss einfach nur hier raus.
Sie wird seiner Verletztheit Raum geben. Auch wenn er keinen Anspruch mehr darauf hat. Sie sieht ihn lange an. "Komm mal her." Sie lädt ihn ein in diese Umarmung. Ihm ist, als würde er endlich zu seiner Familie zurückkehren. Ganz ruhig sitzen sie dort auf dem Boden. Eine angenehme Wärme breitet sich aus. Mit ihrer linken Hand kann sie etwas Metallenes in seiner Hosentasche spüren. Sein Atem ist tief und gleichmäßig. Sie hat nur einen Versuch und es muss schnell gehen. Mit drei Fingern kann sie das Ende
der Karabinerkette aus seiner Gesäßtasche ziehen, bevor er reagiert. Er richtet seinen massigen Oberkörper mit einer schnellen Bewegung auf, wodurch sich ihre Hand von seiner Hose nur noch schneller entfernt und die Kette samt Schlüsselbund zu Tage fördert. Sie will die Kette zu sich ziehen, doch es gelingt ihm, das durch die Luft fliegende Ende, an dem die Schlüssel hängen, aufzufangen. Beide reißen an der Kette und ihre Körper biegen sich vor und zurück. Gudrun versucht die Kinder, die mit schreckgeweiteten
Augen das Geschehen beobachten, auf dem Boden abzusetzen. Als ihr dies gelungen ist, bricht Norman wieder in markerschütterndes Geheul aus. Laila flüchtet sich diesmal mit ihrer Angst in die Fürsorge für ihren Bruder. Sie nimmt seinen Kopf in ihren Arm und streichelt über sein Haar. "Alles nicht so schlimm, Norman. Alles nicht so schlimm." Die beiden Erwachsenen reißen nun mit aller Gewalt an der Kette. Ihre Hände schmerzen schon. Für einen kurzen Moment kommt er ihr mit seiner Hand entgegen, so dass
kein Zug mehr auf der Kette ist. Im nächsten Moment zieht er sie mit aller Kraft zu sich. Sie schreit auf vor Schmerz. Dann verschwindet das Schlüsselbund wieder in seiner Hosentasche.
Blut tropft auf die vergilbte Auslegware. Sie versucht mit der rechten Hand die Tropfen aufzufangen, doch die Blutung ist zu stark. Ihre Tochter springt voller Panik auf. "Mama." Einen Moment steht Frederik da wie betäubt. Dann verschwindet er in Richtung Küche. "Halb so wild Laila. Kümmere dich um deinen Bruder." Laila kann ihre Angst nur noch mühsam beherrschen. Sie kehrt zu dem am Boden liegenden Norman zurück und streicht ihm über das Haar. Sie beugt sich zu seinem Kopf, den er in seinen
Händen vergraben hat, hinunter und flüstert: "Alles in Ordnung, Norman." Dabei kämpft sie mit den Tränen.
Frederik kehrt mit einer Kompresse und einer Mullbinde zurück. Er fordert Gudrun auf Platz zu nehmen. "Es geht schon." "Ich fahr dich ins Krankenhaus." "Nicht nötig. Das schaff ich allein." "Und wenn du unterwegs zusammenbrichst." "Ich schaffe es allein. Danke. Kümmere dich lieber um die Kinder." Frederik verlässt das Zimmer. Sie hört, wie er die Wohnungstür aufschließt. Laila und Norman hocken immer noch zusammengekauert auf dem Boden. Gudrun kniet sich zu ihnen,
versucht die Angst zu vertreiben und die Unsicherheit. Sie spricht von ihrem Wiedersehen und von den schönen Tagen, die sie mit ihrem Vater verbringen werden. Sie umarmt beide, will sie in ihrer Liebe baden und weiß, dass es nichts gibt, das die letzte viertel Stunde vergessen machen kann.
Ein dumpfes Geräusch ertönt aus dem Schlafzimmer und gleich danach ein verzweifelter Schrei, der ihre Kinder erneut zusammenfahren lässt. Sie ist erschöpft. Sie kann jetzt gehen, kann sich um ihr Leben kümmern, um ihr Überleben. Sie will Bewerbungen schreiben, muss Anträge stellen, wird alles tun, ihre Miete zu bezahlen und ihre Schulden, die sie allmählich erdrücken.
Doch erst muss sie ins Krankenhaus. Mit der rechten Hand hebt sie den Daumenballen der linken leicht an. Der Riss ist lang und tief. Ein Pflaster wird kaum ausreichen. Immer noch dumpfes Poltern aus dem Schlafzimmer. Sie kann ihn vor sich sehen. Oft genug war sie Zeuge dieser Selbstbestrafungszeremonie, bei der seine Fingernägel sich in seinen Hals graben, er nach den herumstehenden Möbeln tritt und nicht aufhört, bevor etwas Wertvolles zertrümmert oder sein Gesicht von roten Striemen so gezeichnet ist, dass
er es kaum noch wagt, aus dem Haus zu gehen oder Freunde zu treffen. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürt sie in sich wieder das Bedürfnis, ihn zu halten, ihn zur Ruhe zu bringen. Zu Beginn ihrer Beziehung, konnte sie diese Ausbrüche nie mit ansehen, wollte sie ihn mit der Kraft ihrer Liebe heilen. Doch die Gefühle, die beim Anblick seines wutverzerrten Gesichtes in ihr aufstiegen, verblassten mit der Zeit, bis sie nichts mehr empfand, wenn er so tobend vor ihr stand. Sie hatte erkannt, dass ihre Führsorge nichts
bewirken konnte. Das zärtliche Gefühl, das nun in ihr aufsteigt, ignoriert sie zunächst. Sie konzentriert sich auf den Schmerz, den er ihr zugefügt hat. Und sie konzentriert sich auf ihre Kinder, die immer noch schluchzen. Dann dringt Stille aus dem Schlafzimmer.
Vorsichtig setzt sie ihre Kinder aufs Sofa. Mit der rechten Hand streicht sie Laila durchs Haar. "Passt du ein bisschen auf deinen Bruder auf? Ich muss mit eurem Vater etwas besprechen." Laila nickt mit großen Augen, macht aber keine Anstalten, Norman überhaupt wahrzunehmen. Gudrun nimmt vorsichtig die Hand ihrer Tochter und legt sie auf die Schulter ihres Sohnes. Durch dieses Signal erwacht Laila aus ihrer Starre und wendet sich ihrem Bruder zu.
Gudrun klopft vorsichtig an die Schlafzimmertür. Keine Antwort. Langsam macht sie die Tür auf. Er liegt auf dem Bett, atmet schwer. Wenn er ihr Hereinkommen bemerkt hat, lässt er es sie nicht wissen. Sie setzt sich neben ihn. Nach einem kurzen Zögern greift sie nach seiner Hand. Noch immer reagiert er nicht. Sie beachtet das Blut nicht, das auf die Matratze tropft.
Wieso hat sie es so weit kommen lassen? Immer weiter hat sie ihn auf Distanz gehalten, hat ihm nie eine Chance gegeben, ihr nahe zu sein. Sie hat ihn kämpfen lassen. Und während der ganzen Zeit, in der er sich abmühte, und sie ihm klarzumachen versuchte, dass sie diese penetrante Aufmerksamkeit nicht wünscht, hatte sie ihn innerlich angefeuert. Warum wird ihr dies in diesem Augenblick klar? Weil er mit seiner Kraft am Ende ist? Weil sie weiß, dass er aufgegeben hat? Sie drückt seine Hand. Noch immer keine Reaktion.
Sie beugt sich über ihn, streicht durch sein Haar. Er dreht sich leicht zu ihr. Seine Augen öffnen sich. Die Mattheit in seinem Blick erschreckt sie kurz. Dann lächelt sie, will ihm einen Teil ihrer Kraft, ihres Lebenswillens schenken, damit er aufstehen und sie halten kann. Ihr wird klar, dass er die richtige Frage gestellt hat. Warum tun sie sich das an? Warum tut sie ihm das an? Sie beugt sich tiefer. Ihre Lippen berühren seinen Mund flüchtig. Er steht auf, verlässt den Raum und kehrt wieder mit Verbandmaterial
zurück.
Diesmal lässt sie sich von ihm verarzten. Er handelt mechanisch. Sie findet keine Wärme in seinem Blick. "Bis zum Krankenhaus muss das reichen", stellt er kühl fest. "Fährst du mich?" "Das kannst du doch alleine." Sie sieht ihn verliebt an, beugt sich vor. Sein Körper wird starr. Die Tür öffnet sich ein kleines Stück. Gudrun sieht Lailas Augen durch den Türspalt blinzeln. "Komm rein." Laila folgt der Aufforderung umgehend und setzt sich auf den Schoß ihrer Mutter. Jetzt
steht Norman im Türspalt. Doch noch bevor Gudrun ihren Sohn ebenfalls zu sich bitten kann, erhebt sich Frederik mit den Worten: "Du musst los." Gudruns Griff um die Hüfte ihrer Tochter wird fester. "Wollen wir nicht reden?" "Vielleicht später." Er geht an seinem Sohn vorbei durch die Tür, ohne ihn zu beachten. Gudrun schluckt trocken. Sie steht auf, geht durch den Flur zur Wohnzimmertür. Dort sitzt er in einem Sessel, sieht aus dem Fenster und rührt sich nicht. "Fred",
sagt sie nur und sieht ihn weiter an. Kurz wendet er ihr sein immer noch versteinertes Gesicht zu. "Es tut mir Leid", bringt er hervor. Im nächsten Moment lösen sich die starren Züge in einem Schluchzen auf. Er vergräbt das Gesicht in seinen Händen. "Mir auch", murmelt sie. Mit vorsichtigen Schritten schleicht sich Laila an ihren Vater heran. Einen Meter vor ihm bleibt sie stehen, dreht sich um und schaut ihre Mutter fragend an. Dann tritt sie an den Sessel und streicht ihm über den Kopf.
In Gudrun steigen Tränen auf. Sie wünscht sich, dass jemand kommt und ihr so über den Kopf streicht, ihr verspricht für sie da zu sein, egal welche Fehler sie macht, und egal wie sie sich in den nächsten zwei Minuten verhalten wird. Sie wünscht sich so sehr, alles richtig zu machen, für ihre Kinder, für ihren Mann, für ihre Familie. Doch alles, was sie spürt, ist diese unendliche Müdigkeit.
Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.