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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Lebenswandel

© Frank Brehm


Die Stadt, aus der ich komme, hat schon seit Jahren keinen richtigen Winter mehr gesehen. Jede Schneeflocke, so sie denn überhaupt in gefrorenem Zustand den Boden erreicht, verwandelt sich auf der Stelle in Matsch, vermischt sich mit dem Dreck der Autos, Straßen und Passanten zu einer nassen graubraunen Masse, die eklige Ränder an den Schuhen hinterlässt. Spuren eines gnadenlosen Fortschritts.
Hier draußen gibt es ihn noch, den richtigen Winter. Kein Relaunch mit Schneekanonen. Hier findet er noch seine Nische. Hier werde auch ich meine Nische finden. Schneebedeckte Hügel ziehen an mir vorbei, der Himmel legt sich darüber wie eine wärmende Decke, unter mir spüre ich das rhythmische Klacken der Schwellen. Das alles hat eine beruhigendere Wirkung auf mich als jede Chillout-CD in meiner Sammlung. Leben wie in Watte gepackt. Genau das brauche ich.
Kati hat meinen BMW zu Schrott gefahren. Der andere hätte kein Licht angehabt, hat sie gesagt. Sie war schon ziemlich angeheitert, als ich ihr die Wagenschlüssel zuwarf. Ich habe nicht darüber nachgedacht. Falls ich mir noch einmal einen Wagen zulegen sollte, dann sicherlich keinen BMW. Ich investiere nicht mehr in Statussymbole. Ich habe es in etwas Besseres investiert - in etwas, das Bestand hat.
Ich sitze allein in meinem Abteil, kaum jemand fährt diese Strecke. Nach Unterreichenbach kommt man nicht mit Hochgeschwindigkeit, nicht erster Klasse, nicht einmal elektrisch. Nur die Regionalbahn 16 verkehrt dreimal wöchentlich dorthin, gezogen von einer alten Diesellok. Ich bin auf dem Weg nach Unterreichenbach, um mir mein neues Haus anzuschauen und einige Umbaupläne mit dem Architekten zu besprechen. Ich blicke aus dem Fenster und denke an meine Kindheit, an eine fast vergessene Zeit vor der so genannten Selbstverwirklichung, vor dem großen Sehen und Gesehenwerden. Mit platt gedrückten Nasen an kalten Fensterscheiben erwarteten wir sehnsüchtig den ersten Schneefall des Jahres. Und sobald nur eine hauchdünne weiße Schicht auf den Bäumen und Feldern lag wie Puderzucker auf einem Kuchen, haben wir schon unsere Schlitten hervorgeholt und die Kufen erst mit Schmirgelpapier aus Vaters Werkzeugkiste und anschließend mit Kerzenwachs oder Speckschwarten präpariert. Den kleinen Abhang, den wir auf der Dorfwiese hinunterrutschten, bis unsere Hände und Füße steif waren vor Kälte, nannten wir übermütig Rodelberg.
Damals haben wir die Zeit genossen mit dem, was wir hatten, heute verplanen wir sie mit dem, was wir wollen. Das Gefühl von gestern soll nun zu meiner Zukunft werden, denn ich ertrage das Heute nicht mehr. Ich halte die Angst nicht mehr aus, ständig etwas zu verpassen, das sich niemals wirklich lohnt. Ich habe genug von erdrückenden Sommern und leidenschaftslosen Wintern, von lärmenden Tagen und hellen Nächten, von versiegelter Erde, verräucherter Luft und vernebelten Sinnen. Und ich will die Stimmen nicht mehr hören, die ewig fordern, drängen und verlangen, die pausenlos daherreden und leere Versprechungen machen. Nicht eine Stimme, die mich verzaubert.
Es ist noch nicht lange her, da quoll mein Kalender über vor Terminen, die ein volles Portemonnaie und pralle Lebensfreude versprachen. Nach der Arbeit gingen wir oft ins Barique, ›unserem‹ Franzosen in der Keplerstraße. Jedes Mal tranken wir einen anderen Rotwein und stritten darüber, welchen wir schon hatten. Ich habe es genossen, aber nie einen großen Unterschied geschmeckt. Oft genug saß eine andere Frau neben mir. Ich fand sie alle gleich begehrenswert. Wirklich kennen gelernt habe ich keine. Und so bin ich am Ende doch allein nach Hause gegangen und habe den Rechner noch einmal angeworfen, obwohl ich bereits im Büro mehrmals meine E-Mails und die Börsenkurse gecheckt hatte. Das penetrante Sirren des Computers nahm ich immer erst dann wahr, wenn ich kurz vor dem Schlafengehen alle Systeme abgeschaltet hatte. Nun bin ich entschlossen, auch denjenigen Teil meines Systems abzuschalten, der ständig surrt und rotiert, immer auf Standby geschaltet ist und permanent neue sinnlose Datenpakete empfängt, die selbst die letzten Sicherungskopien des Rodelbergs zu überschreiben drohen.
Dabei bin ich vor nicht einmal einem Jahr mitten ins Stadtzentrum gezogen, direkt an den Ludwigplatz, in einen topsanierten Altbau. Hohe Stuckdecken, blitzendes Parkett, ausladender Südbalkon. Der Mensch ist, wie er wohnt, sagte ich mir. Und ich wohnte von nun an traumhaft schön und sündhaft teuer. Ich hatte gut ein Dutzend Mitbewerber ausgestochen, was mich durchaus mit einem gewissen Stolz erfüllte. Alles kam so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Mein neues Domizil wurde zur Anlaufstelle Nummer Eins für meine Freunde und Bekannten, Beinahe-Freunde und Fast-Bekannten. Claudia schaute oft nach ihrem Workout im Fitnessstudio bei mir vorbei, Kati fast immer, wenn es galt, nach einem Prosecco auf eine nahe Party weiter zu ziehen und Piet schleppte ständig neue DVDs und Videospiele an. Johnny brachte eines Abends nicht nur seine Freundin, sondern auch deren beste Freundin mit. Ihr Freund hatte sie unlängst verlassen. Johnny hoffte wohl, dass uns in Zukunft wunderschöne Pärchenabende ins Haus bzw. in meine neue Wohnung stünden. Zu diesem Zeitpunkt aber hatte die Freundin seiner Freundin schon keine Chance mehr bei mir. Hinter ihrer ultraschlanken Figur, den kussecht bemalten Lippen und der Armani-Sonnenbrille im Haar witterte ich nur noch den verachtungswürdigen Prototyp des Modern Way of Life. Noch dazu war sie der Meinung, dass ich mit den ultrakurzen Haaren, wie ich sie jetzt trug, wesentlich vorteilhafter aussah als auf dem Foto im Flur. Sie konnte ja nicht wissen, dass ihr vermeintliches Kompliment nach hinten losgehen würde. Schuld daran war Monique.
"Wie schön doch der Blick auf den Friedenspark ist", rief Monique aus dem Wohnzimmer, während ich in der Küche das Essen anrichtete. "Im Sommer, da trommeln sie zwar manchmal bis tief in die Nacht, aber damit würde ich mich auch arrangieren." Kultivierter Neid, den ich genoss, zumal Monique mich noch vor ein paar Monaten kaum eines Blickes gewürdigt hatte. Ich hingegen hatte mich sofort in ihre grünen Augen und ihre frechen Sommersprossen verguckt. Und als sie gesagt hatte, dass ein Mann für sie Ecken und Kanten haben müsste, war es um mich geschehen. Ich wusste zwar nicht genau, welche Ecken und Kanten ich besaß, aber es mussten einige sein. Als ich die Vorspeise aufgetischt hatte, fragte sie mich, ob es einen besonderen Anlass für dieses opulente Menü gebe.
"Den gibt es tatsächlich", sagte ich mit bedeutungsvoller Stimme. "Und du erfährst ihn natürlich als Erste." Wir pulten die Schalen von den Garnelen und lachten. Um die Spannung zu erhöhen, ließ ich mir Zeit bis zum Hauptgang, bis ich ihr unverwunden gestand, dass ich mich in sie verliebt hatte, und zwar vom ersten Augenblick an. Es ging mir so leicht von den Lippen, wie der Rehrücken auf der Zunge zerging. Irgendwie fühlte ich mich stolz, einer Frau auf diese filmreife Art meine Liebe zu gestehen und war mir noch dazu meiner Sache ziemlich sicher. Anscheinend zu sicher, denn Monique schwieg zunächst, nahm einen großen Schluck Rotwein und ließ ihn eine ganze Weile im Mund herumschwappen. Ich spürte Hitze in mir aufsteigen und legte mein Besteck zur Seite. Monique sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Dann setzte sie ein Lächeln auf, von dem ich nicht wusste, ob es nicht auch intrigante Züge trug.
"Beweis es mir!", verlangte sie. Mein Herz klopfte wie wild. Hatte ich etwa gewonnen? Erwartete sie, dass ich auf sie zuging, ihre Hände nahm und sie küsste? Ich sprach mir gerade innerlich Mut zu, da sagte sie: "Rasier dir den Kopf für mich! Du weißt doch, wie sexy ich Männer mit Glatze finde." Dann biss sie gelangweilt in eine Olive.
"Ha!", sagte ich, weil mir nichts besseres einfiel und nippte behelfsweise an meinem Glas Wein. Das konnte sie nicht ernst meinen! Verwirrt fragte ich sie, ob ich erst noch das Zitronenparfait hinter mich bringen dürfte, obwohl mir längst der Appetit vergangen war.
"Schade, schade, du traust dich nicht. War ja zu erwarten." Monique wandte ihren Blick demonstrativ von mir ab. Derart herausgefordert, stand ich kurzerhand auf und stützte mich siegessicher mit beiden Händen auf die Tischplatte.
"Hast du eine Ahnung!", sagte ich, ging entschlossen ins Bad, nahm meinen Bartschneider und verpasste mir mit einem einzigen Strich einen umgekehrten Irokesenschnitt. Ich holte einmal tief Luft, dann machte ich weiter, als ob meine Hände ein Eigenleben entwickelten, war wie im Rausch, dachte nur an Monique und die Chance auf unsere erste gemeinsame Nacht. Schließlich stierte auf einen Haufen wolliger Haarbüschel am Boden, dann sah ich in den Spiegel. Ich war kahl! Ich sah furchtbar aus! Ich hatte mich der Selbstverstümmelung ersten Grades schuldig gemacht.
Erst jetzt bemerkte ich, dass Monique amüsiert im Türrahmen lehnte. "Sieht gut aus. Vielleicht kommen wir ja ins Geschäft. Wer weiß?"
"Ins Geschäft kommen?", stammelte ich.
"Du weißt doch: Alles braucht seine Zeit. Das Essen war übrigens vorzüglich. Ich muss aber jetzt leider los. Hab noch 'ne Verabredung. Zum Glück nicht zum Essen." Sie lachte höhnisch, ich brachte keinen Ton heraus. "Nun schau doch nicht so jämmerlich drein!", sagte sie mit mitleidiger Stimme. "Kopf hoch!"
Die zufallende Wohnungstür war das Letzte, was ich von Monique mitbekam. Ich blickte wieder in den Spiegel und in ein Gesicht, das ich nicht wieder erkannte. Ich ließ ich den Rasierapparat zu Boden fallen, warf mich aufs Bett und schlug auf das Kopfkissen ein. Noch nie kam ich mir so gedemütigt vor. Ich weinte zum ersten Mal seit Jahren, und als die Tränen getrocknet waren, beschloss ich, mein ach so beneidenswertes Leben gründlich zu überdenken. Zuerst wollte ich Monique bestrafen, die ganze Welt bestrafen, die mich umgab, aber ich kam nicht umhin einzusehen, dass ich am Ende selbst die Schuld an meiner eigenen kleinen Misere trug. Die Geschichte mit Monique behielt ich für mich und sagte zu meiner Nicht-Frisur lediglich, dass ich mal etwas Neues ausprobieren wollte. Nun probiere ich wirklich etwas Neues aus: ein neues Leben.
Vor kurzem erzählte mir Frau Kraus aus der Buchhaltung während des Kantinenessens in einem Anflug kollegialer Schwafellaune, dass ihr Onkel ein Haus verkaufen wolle. "Da ist es wunderschön, richtig idyllisch", schwärmte sie. "In wolkenlosen Nächten ist der Himmel mit Sternen übersät. Nicht so wie hier in der Stadt. Hinter dem Haus befindet sich eine große Wiese, die direkt in den Wald übergeht, und linker Hand fließt der Reichenbach. Man kann ihn vom Schafzimmer aus rauschen hören." Frau Kraus biss seufzend in ein Stück Salzkartoffel. Am nächsten Tag nahm ich telefonisch Kontakt zu ihrem Onkel auf. Als Kolumnenschreiber würde ich auch von außerhalb arbeiten können.
Piet zeigte sich von meinen Plänen geschockt. "Du willst aufs Land ziehen? Bist du verrückt geworden? Du wirst am Provinzmief ersticken. Ausgerechnet du!", sagte er und gestikulierte mit den Armen.
"Mein Gott! Was redet ihr denn alle? Ihr seht mich ja schon mit den Pflanzen reden und in den Wald scheißen!"
"Nun übertreib mal nicht." Piet beugte sich zu mir rüber und strich sich mit der Hand über das Kinn. "Da fällt mir ein: Brauchst du nicht einen Nachmieter? Also, ich würd ja gern. Aber Claudia hat bestimmt auch schon angefragt, oder?"
"Es läuft über nen Makler", sagte ich.
Piet pfiff durch die Zähne. "Courtage also. Locker zweitausend Euro. Hab ich Recht?"
"So ungefähr."
"Alles Verbrecher."
Das war vor einem halben Jahr. Nun liege ich liege wach in meinem Bett und höre nichts als das Plätschern des Reichenbachs und das Rauschen des Windes in den Bäumen. Es ist Sommer. Es ist dunkel. Es ist still. Ich kann nicht richtig schlafen und rede in letzter Zeit oft mit mir selbst. Nicht, dass es mir etwas ausmacht, denn mir hört ja niemand zu. Ich stelle mir Fragen und gebe mir Antworten von universeller Gültigkeit. Habe ich mich richtig entschieden? Ich denke schon. Bin ich jetzt ein glücklicherer Mensch? In gewisser Weise ja. Bin ich am Ende nur geflohen statt heimgekehrt? Das muss man in Betracht ziehen. Ich hätte nicht gedacht, dass ein munterer Bach ein nerviges Geräusch produzieren könnte und schließe das Fenster.
Claudia rief in den ersten Wochen nach meinem Umzug ein paar Mal an, doch sie schien sich lediglich vergewissern zu wollen, wie schlecht es mir in meinem neuen Zuhause ging und wollte mir deswegen Trost zusprechen. Sie hatte meine Wohnung auch ohne meine Fürsprache bekommen, und fühlte sich wohl dennoch irgendwie in meiner Schuld. Kati war kürzer angebunden, die Sache mit dem BMW war ihr offenkundig peinlich. Es ginge nun vor Gericht, sagte sie, und dass ich mir um mein Geld keine Sorgen zu machen bräuchte. Piet hat mich als Einziger besucht. Stundenlang versuchte er, mich für irgendwelche abstrusen Geschäftspläne zu begeistern, aber als ich ihm deutlich zu verstehen gab, dass ich weder Interesse noch Geld dafür aufbringen würde und könnte, ist er wieder gefahren, ohne sein Bier auszutrinken. Sonst hat niemand die achtzig Kilometer auf sich genommen, die meine alte von der neuen Welt trennen. Ich überlege mir einen Hund zuzulegen.
Die Leute im Dorf treten mir freundlich, aber reserviert gegenüber. Sie reden über ihre Kinder, ihre Nachbarn und ihre Vorgärten, über den Niedergang des Handwerks und über das bevorstehende Schützenfest. Ich kann da nicht mitreden und sage nur ›Ja, ja‹ oder ›Tatsächlich?‹ Danach reden sie bestimmt über mich. Den engsten Kontakt habe ich zu der allein erziehenden Mutter im Haus gegenüber. Hin und wieder gehen wir am Waldrand entlang spazieren. Immer kommt sie auf die Stadt zu sprechen und fragt mich über sie aus. Sie überlege ernsthaft, sagte sie zuletzt, ob das Stadtleben nicht besser für sie wäre. Seit sie ihren Mann verlassen hätte, ließen die Leute im Dorf sie doch ziemlich links liegen. Und neue Kontakte zu knüpfen sei in der Provinz sehr schwierig.
"Die Stadt ist eine Stadt. Eine Stadt wie jede andere", sagte ich und kickte einen Zweig beiseite.
"Aber sie ist doch lebendig. Man lernt viel schneller Leute kennen. Man kommt auf andere Gedanken. Und ich könnte auch wieder anfangen zu arbeiten", sagte meine Nachbarin.
"Jeder muss selbst wissen, was er will", erwiderte ich.
"Ich habe das Gefühl, du willst mir nicht helfen." Meine Nachbarin ließ den Kopf hängen. Sie scheint sich einsam zu fühlen und sich vorgenommen zu haben mich zu mögen. Aber sie ist nicht wirklich mein Typ. Sie könnte mehr aus sich machen.
Ich habe mich einer Protestbewegung angeschlossen, die sich gegen die geplante Stilllegung der Bahnlinie nach Unterreichenbach zur Wehr setzt. Es fehlen nur noch achtzig Unterschriften, dann hat das Vorhaben Aussicht auf Erfolg. In der Stadt werde ich die noch fehlenden Unterschriften schon zusammenbekommen, sage ich mir. Und obwohl ich wieder einen Wagen habe, einen Peugeot Kombi, bekenne ich Farbe und entscheide ich mich für die Fahrt mit dem Zug. Grüne Hügel ziehen an mir vorbei, der graue Himmel lastet schwer auf ihnen. Unter mir spüre ich das rhythmische Klacken der Schwellen, aber ich achte nicht darauf und blättere in der Men's Health, die ein Reisender im Zug vergessen hat.



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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