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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Vermächtnis

© Susanne Hoffmann


Die Sonne tanzte noch einmal im Feuer, bevor sie hinter dem Horizont versank. Im Abschied malte sie ihm einen strahlenden Kranz, bis sich der Himmel zur Ruhe begab und sich in sein Sternentuch hüllte. Am kommenden Morgen würde sie ihm diese Decke entziehen und ihm in einem Flammenspektakel den neuen Tag verkünden.
Viele Male habe ich dieses Abschieds- und Begrüßungsritual beobachtet und jedes erschien mir vollkommen in seiner Einzigartigkeit. Noch immer empfinde ich tiefe Verbundenheit und Erfüllung bei diesem Anblick.
Das war nicht immer so. Als kleiner Junge verband ich, zumindest was die dunkle Jahreszeit betraf, mit dem Sonnenuntergang, dass ich ins Bett musste, auch wenn ich viel lieber noch gespielt hätte. Den Sonnenaufgang verabscheute ich sogar, denn sobald sich die Sonne zeigte, musste ich aufstehen. Erst nach unserem Umzug in ein kleines Haus mit Garten, sollte ich durch eine ungewöhnliche Begegnung einen anderen Zugang zu dieser Naturerscheinung bekommen.
Unser damaliger Garten grenzte an ein Nachbargrundstück, dessen Garten mir von Anfang an geheimnisvoll erschien, denn er lag hinter einer hohen Hecke verborgen. Das Nachbarhaus bewohnte ein alter Mann, den kaum einer sah, aber den ich öfter im Garten hörte. Im Dorf galt er als verwirrt und kauzig und so kümmerten sich meine Eltern nicht weiter um ihn. Was mich jedoch betraf, so hätte nichts meine Fantasie mehr anregen können, als ein alter Kauz. Wann immer ich ihn im Garten wähnte, begab auch ich mich in den unsrigen und hoffte, einen Blick durch die Hecke auf sein Tun und Treiben zu erhaschen. Mal sah ich ihn inmitten der buntesten Blumenbeete stehen, dann knien, dann wieder stehen, reglos, aber niemals lautlos. Ich hörte ihn sprechen, doch seine Worte verstand ich nicht. Ich war jedes Mal erstaunt über die vielen Blumen, die den Garten in ein Blütenmeer verwandelten. Unser Garten war ein Tümpel dagegen. Als ich meinen Eltern von meinen Beobachtungen erzählte, wurden sie ärgerlich und verboten mir, in die Nähe der Hecke zu gehen. Natürlich stahl ich mich weiter zur Hecke, so oft es ging. So verstrich die Zeit, ohne dass ich dem alten Mann und seinem Geheimnis näher gekommen wäre. Doch dann kam es zu diesem Zwischenfall in der Schule, der unserer Beziehung oder besser Nicht-Beziehung eine Wende geben sollte.
In meiner Klasse war ein Junge, der immer das letzte Wort haben musste. Als er sich wieder mal besonders hervor tat, forderte ich ihn heraus: "Du bläst dich ganz schön auf, aber sicher würdest du beim geringsten Widerstand platzen."
"Oh, hört den Poeten. Du hast doch sogar Schiss, nachts allein aufs Klo zu gehen."
Die Lacher waren auf seiner Seite und mir wurde der Kopf heiß, aber dann fragte ich so beiläufig wie möglich: "Gehst du denn nachts allein aufs Klo?"
Er antwortete mit einem breiten Grinsen: "Na logisch, ich bin doch kein Baby mehr."
"Siehst du", konterte ich, "und ich bin aus dem Alter raus, wo man überhaupt nachts aufs Klo muss."
Eins zu null für mich sagten die Blicke der Umstehenden. Doch mein Gegner gab sich noch nicht geschlagen. "Du magst ja ein ganz Schlauer sein, aber ein Schisser bist du trotzdem. Und wenn ich etwas Anderes behaupten soll, dann beweise mir das Gegenteil."
Durch meinen "Sieg" fühlte ich mich allem, was gefordert werden könnte, gewachsen und entgegnete großzügig: "Ich überzeuge dich gern. Was muss ich tun, um dich eines Besseren zu belehren?"
"Klingele bei dem alten Mann und bitte um ein paar Blumen aus seinem Garten. "Keine Angst", fügte er hämisch hinzu, "wir werden alle bei dir sein, wenn auch nicht sichtbar."
Ich war in die Falle getappt. Alles hätte ich mir vorstellen können, nur das nicht. Mir war aber auch klar, dass ich jetzt nicht mehr zurück konnte. Zu weit hatte ich mich aus dem Fenster gelehnt, also sprang ich. Wir verabredeten eine Zeit, wann die Begegnung stattfinden sollte und dann klingelte ich zum ersten Mal in meinem Leben bei unserem Nachbarn. Als ich die leisen, aber sicheren Schritte hinter der Tür hörte, wurde mir schwummerig. Doch bevor mehr passieren konnte, öffnete sich die Tür und ich blickte in ein zerfurchtes, aber lächelndes Gesicht. Haben nicht sogar die Augen verschmitzt geblinzelt, als er mich sogleich herein bat? Es schien mir fast, als hätte er mich erwartet. Er geleitete mich hinaus durch eine kühle, dunkle Diele in den Garten, der sich mir jetzt in seiner ganzen Schönheit zeigte. Doch tatsächlich sollte diese Begegnung eine Offenbarung für mich werden. Der alte Mann bemerkte meinen offenen Mund und bot mir einen Platz inmitten der Blumen an. Zum Sitzen gab es überall abgesägte Baumstümpfe, zum Trinken reichte er mir Wasser, das er einer Quelle entnahm, die lustig in seinem Garten sprudelte. Inmitten dieser Schönheit verstand ich instinktiv, warum dieser alte Mann so abgeschieden lebte und der Garten nicht jedem Blick und Tritt zugänglich war.
Merkwürdigerweise hatte der alte Mann immer noch nicht nach meinem Anliegen gefragt, aber während ich den Duft der Blüten einatmete, hatte ich erneut das Gefühl, dass er es schon wusste. Inzwischen rutschte ich unruhig auf meinem Baumschemel hin und her. Da begann mein Gegenüber zu sprechen: "Ich weiß, dass die meisten Leute mich für verrückt halten. Deshalb meiden sie mich lieber, ohne sich die Mühe zu machen, mich näher kennen zu lernen. Dabei stünde dieser Garten jedem offen, der ihn betreten wollte. Du glaubst, du hättest mich unbemerkt beobachtet, aber ich habe deine heimlichen Blicke gespürt und dann angefangen, dich zu beobachten. Ich wusste, dass du eines Tages vor meiner Tür stehen würdest, und jetzt freue ich mich, dass du da bist."
Ich war sprachlos, obwohl mir unendlich viele Fragen auf der Zunge lagen.
Wieder lächelte der alte Mann verschmitzt und sagte: "Ich bin alt und werde bald fort gehen. Doch bevor ich diese Welt verlasse, möchte ich dir erzählen wie es zu diesem Garten kam." Er nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort: "Als ich mich intensiv mit der Frage beschäftigte, wer oder was ich sei, erkannte ich irgendwann, dass in mir ein schöpferischer Kern ruht, aus dem ich die Pflanze erwachsen lasse, die man Leben nennt. Und ich sah Abertausende von Blüten, die es ständig hervor treibt. Ich erkannte, dass jede einzelne Blüte für eine mögliche Erfahrung steht, die wir in unserem Leben machen können. Doch die Zeit begrenzt hier den Horizont und so können sich in einem Leben nicht alle Blüten gleich weit entfalten, weil ein einzelnes Leben nicht ausreicht, um alles Mögliche zu erfahren. Doch die Zeit ist es nicht allein, die Einfluss auf die Entfaltung der Blüten nimmt. So hängt es insbesondere von der Pflege der Pflanze ab, welche Erfahrungen gemacht und wie sie gemacht werden. Vernachlässigt man sie, werden auch die Blüten verkümmern. Schenkt man ihr hingegen Zuneigung und Liebe und begießt sie regelmäßig mit Freude, werden sich ihre Blüten voll und einzigartig in ihrer Schönheit entfalten und die Erfahrungen des Lebens werden in ihrer Vielfalt ihre Göttlichkeit offenbaren. Als mir dies alles klar wurde, legte ich diesen Garten an. Und so siehst du in ihm mein ganzes Leben, das reich war an Erfahrung und überwältigend in seiner Fülle." Der alte Mann schwieg und ich spürte seine Worte in mir auf eine Art und Weise nachklingen, die mich tief berührte, doch deren Ausmaß und Tragweite mir erst im Laufe meines Lebens richtig bewusst werden sollte.
Wir wohnten noch lange neben dem Garten, der sich mit jedem neuen Nachbarn veränderte, aber nie so prachtvoll erblühte wie in der Obhut des alten Mannes. Seine Geschichte jedoch dauerte in mir fort, und so brachte auch mein Leben unzählige Blüten hervor, von denen eine das tiefe Empfinden beim Erleben eines Sonnenunter- und Sonnenaufgangs ist.



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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