Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis
www.online-roman.de
Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der kürzeste Roman der Welt
© Angelika Brox
Prolog
Professor Raphael A. Muhr und seine Frau Carola liebten einander über alles. Als Großtante Auguste ihnen eines Tages ein wunderschönes Jugendstilhaus vererbte, schien das Glück des jungen Paares vollkommen zu sein. Doch kurz nach dem Einzug in das prächtige alte Haus wurde Carola schwer krank und starb.
Der Professor konnte diesen Schicksalsschlag nicht verwinden und stürzte sich in die Arbeit. In jeder freien Minute schrieb er an seinem Grundlagenwerk "Die Produktion neuzeitlicher Kurzgeschichten am Beispiel der Internetliteratur unter besonderer Berücksichtigung der Gruppe www.42erAutoren.de".
1. Kapitel
Müde kehrte Professor Raphael A. Muhr von der Universität heim und wollte die Haustür aufschließen. Doch daraus wurde nichts, denn der Schlüssel brach ab und eine Hälfte blieb im Schloss stecken.
"Wie soll ich jetzt ins Haus kommen?", fragte der Professor. "Ich wollte doch heute Abend an meinem Buch weiter schreiben."
Seit Carola nicht mehr lebte, hatte er begonnen, mit sich selbst zu sprechen.
Glücklicherweise war der Professor nicht nur gebildet, sondern auch handwerklich geschickt. So holte er den Werkzeugkasten aus der Garage und baute das Türschloss aus.
2. Kapitel
Sogleich bestätigte sich die Richtigkeit von Murphys Gesetz "Jedes gelöste Problem gebiert ein neues Problem".
Kaum hatte er das Schloss entfernt, wurde dem Professor klar, dass jeder hergelaufene Einbrecher nun ohne weiteres ins Haus eindringen und ihn bestehlen konnte. Um die Einrichtung wäre es nicht schade gewesen, aber das Manuskript seines im Entstehen begriffenen Grundlagenwerkes ... nicht auszudenken!
Der Professor zupfte sich nachdenklich am Ohr und fragte: "Habe ich nicht kürzlich auf dem Speicher so ein antiquarisches Türschloss mit zugehörigem Schlüssel gesehen?"
Er eilte auf den Dachboden und kramte in Großtante Augustes Sammelsurium alter Schätze. Schließlich entdeckte er das Gesuchte: ein schweres eisernes Schnappschloss, in dem ein Schlüssel steckte, der auch gut an einer Mönchskutte hätte hängen können.
Eilig kehrte Professor Muhr mit seinem Fundstück zur Haustür zurück.
Bisher schien noch kein Manuskriptdieb seine Chance erkannt zu haben.
Der Professor baute das antike Schloss ein, ließ die Haustür zufallen und drehte probehalber den Schlüssel nach links und nach rechts. Er ließ sich überraschend leicht bewegen.
"Das habe ich ja prima hingekriegt", sagte der Professor und wandte sich in Richtung Arbeitszimmer, wo sein Manuskript auf ihn wartete.
3. Kapitel
"Das war alles?", rief eine empörte Stimme hinter ihm.
Der Professor fuhr herum. War etwa doch ein Fremder ins Haus eingedrungen, während er auf dem Speicher nach dem Schloss gesucht hatte? Hektisch blickte er um sich, aber es war niemand zu sehen. Wurde er langsam verrückt? Mit sich selbst sprechen, na ja, das ging ja noch, aber Stimmen hören ...?
"Raphael, du drehst allmählich durch", sagte er streng.
"Ich heiße nicht Raphael, du schnurriger Kauz! Wo ist Auguste?", meldete sich die Stimme wieder.
Sie schien irgendwie aus der Tür zu kommen.
Der Professor beschloss, höflich zu sein.
"Auguste ist gestorben. ICH bin Raphael. Und wer bist DU, wenn ich fragen darf?"
"Ich heiße SPUKSCHLOSS. SPUKSCHLOSS JUNIOR, um genau zu sein. Auguste hat mich einfach ausbauen lassen, weil ich ihr zu spukig war. Nett von dir, dass du mich wieder eingebaut hast! Mir wurde ganz schön langweilig auf dem Speicher."
Raphael spürte, wie auf Nacken und Armen pucklige Gänsehaut entstand.
"Ich habe Halluzinationen", sagte er. "Ein Türschloss, das einen Namen hat und sprechen kann!"
"Ich kann nicht nur sprechen, ich kann auch spuken", sagte Spukschloss junior beleidigt.
Professor Muhr hielt es für klüger, darauf einzugehen.
"So? Wie sieht deine Spukerei denn so aus?"
Statt einer Antwort begann das Schloss, blau zu leuchten und leise zu summen. Der Professor fühlte eine magische Anziehungskraft von der Klinke ausgehen. Ohne es wirklich zu wollen, berührte er sie und öffnete die Haustür.
"Aaah", seufzte Spukschloss junior zufrieden, "endlich mal wieder eine Abwechslung!"
Der Professor schaute in seinen Vorgarten. Der hatte sich merkwürdig verändert. Wo die Rhododendron- und Forsythienbüsche hätten stehen sollen, befanden sich prall gefüllte Bücherregale, und anstelle der Gartenpforte erblickte er einen Schreibtisch aus massivem Eichenholz, auf dem ein Stapel Manuskriptpapier lag. Irgendwie kamen ihm die Dinge bekannt vor.
Erschrocken knallte er die Tür wieder zu.
4. Kapitel
Spukschloss junior lachte.
"Da staunst du, mein Lieber! Was sagst du nun?"
Der Professor staunte tatsächlich. "Wie hast du das gemacht?", fragte er.
"Ganz einfach", erklärte Spukschloss junior. "Wenn du den Schlüssel einmal nach links und einmal nach rechts drehst, erkenne ich deine Gedanken. Und wenn du anschließend die Tür öffnest, bringe ich dich dorthin, wo du dich am wohlsten fühlst. Gut, nicht wahr?"
Professor Muhr nickte beeindruckt, und es entstand eine Gesprächspause.
"Äh, sag' mal, Verehrtester", meldete sich das Schloss nach einer Weile, "willst du eigentlich wirklich dein ganzes Leben mit Büchern verbringen?"
Der Professor überlegte, und plötzlich standen Tränen in seinen Augen.
Er räusperte sich und sagte mit heiserer Stimme: "Seit meine Frau tot ist ..."
Wieder begann das Türschloss, blau zu leuchten und leise zu summen, und wie hypnotisiert streckte der Professor die Hand aus, drehte den Schlüssel nach links und nach rechts und öffnete die Tür.
5. Kapitel
Eine unfassbar weite Marmorhalle erstreckte sich vor seinen Augen, unterbrochen von Alabastersäulen, vergoldeten Wasserbecken, leise plätschernden Springbrunnen und bestickten Diwanen. Farbenprächtige Blumen in silbernen Schalen verströmten einen betörenden Duft. Angenehme Musik, deren Ursprung er nicht ausmachen konnte, umschmeichelte seine Ohren. Überall lagerten oder wandelten anmutige Frauengestalten in seidenen Gewändern. Eine von ihnen schritt lächelnd auf ihn zu.
Ungläubig riss er die Augen auf.
"CAROLA?"
Sie schloss ihn in die Arme und flüsterte in sein Ohr: "Raphael, wie schön, dass du da bist!"
Epilog
Professor Raphael A. Muhr hatte vergessen, den Türschlüssel mitzunehmen.
Er bemerkte es erst drei Tage später. Inzwischen war seine Haustür natürlich zugefallen.
Als ihm klar wurde, dass er nicht mehr zurück konnte, bedauerte er dies jedoch keine Sekunde.
So sind Carola und Raphael A. Muhr wieder glücklich vereint, und die Fachwelt wartet noch heute auf das Standardwerk "Die Produktion neuzeitlicher Kurzgeschichten am Beispiel der Internetliteratur unter besonderer Berücksichtigung der Gruppe www.42erAutoren.de".
Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.