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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Pforte

© Ruth Elbert


Irgendwie hatte ich das Gefühl, als hätte ich das Tor schon einmal gesehen.
Sieben Stufen führten dort hinauf. Auf den Sprossen lag Schnee, weiß und unschuldig. Keine noch so kleine Spur zeichnete sich ab. Rechts und links verschneite Büsche mit winzigen, roten Beeren.
Lange stand ich vor den Stufen, schaute zu dem Tor hinauf. So einfach und doch elementar sah es aus. Gerne würde ich einen Schritt tun, aber etwas hielt mich zurück, als wenn unter der Erdoberfläche ein Magnet befestigt war.
"Komm, gehe durch mich hindurch und ich werde dir wundersame Dinge zeigen", klang es leise in meinem Inneren.
Hinter dem Eingang konnte man die Konturen eines Hauses erkennen. Es war weiß und zeichnete sich kaum vom Schnee ab. Nur das schwarze Dach bildete einen klaren Kontrast. Zwei Fenster schauten durch die Tür zu mir herüber.
Kein Leben war zu erkennen.
Sieben kleinere Holzstückchen bildeten den Mittelteil der Pforte, sieben die Zahl der Vollendung. In sieben Tagen schuf Gott Himmel und Erde. Zwei große Holzbalken formten jeweils den Abschluss, als wenn sie die Wächter eines geheimnisvollen Reiches wären. So wie die zwei Engel am Eingang des Paradieses, dachte ich. Ein Schloss war nicht zu erkennen, als wenn diese Tür zum Passieren offen stünde.
"Komm, gehe durch mich hindurch und ich werde dir wundersame Dinge zeigen."
Noch einmal ertönte diese leise Stimme in mir.
Ich konnte doch nicht einfach in diesen fremden Garten gehen!
Hinter der Pforte standen ein paar hohe, kräftige Tannen. Eindrucksvoll zeichneten sie sich von dem grauen Himmel ab. Sie streckten sich sehnsuchtvoll der Ewigkeit entgegen.
Wo hatte ich diese Tür bloß schon einmal gesehen? Sie kam mir merkwürdig vertraut vor.
Langsam hob ich mein Bein und wollte den ersten Schritt tun. Aber was war das? Als wenn ein Gummiband meinen Fuß wieder zur Erde zog. Angestrengt dachte ich nach, schaute wieder zu der schlichten Holztür hinauf.
"Komm, gehe durch mich hindurch und ich werde dir wundersame Dinge zeigen."
Wieder war diese Aufforderung klar und deutlich.
Ein kleiner roter Gartenpavillon, mit winzigen vereisten Fenstern stand einsam in dem Garten. Das Dach glich einem Kuchen der mit Puderzucker bestreut war.
Rechts vom Eingang befand sich ein Zaun. Oben war er ein wenig eingedrückt.
Hatte vielleicht schon jemand versucht, in diesen geheimnisvollen Garten einzudringen? Der kleine Zaun war mit einem roten Draht an dem großen Holzbalken befestigt. Es kam mir so vor, als wollte sich die Einzäunung festhalten, als bräuchte sie eine starke Stütze. Ja, manchmal brauchen wir Menschen auch eine Stütze. Wenn der Wind des Lebens versucht, uns umzupusten, wir uns im Sturm biegen und unsere Hände ins Leere greifen. Mir kam die Bibelstelle in den Sinn: Euer Glaube muss starke, tiefe Wurzeln haben, damit der Sturm des Lebens euch nicht umwehen kann.
Wieder schaute ich zu der Pforte hinauf. Mein Fuß berührte die erste Stufe.
Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Aber immer noch wurde ich zurück gehalten. Ich streckte mich nach vorne, wollte mich hochziehen. Unsichtbare Hände griffen durch die Treppenspalten nach meinen Beinen. Sie wollten mich zurückziehen, mich zu Fall bringen. Ich pustete und pustete.
Die zweite Stufe war schon nicht mehr so schwer. Da war die Zahl sieben wieder. Sieben Stufen musste ich erklimmen. Steile, glatte Stufen, mit weißem Schnee bedeckt. Die Äste der Büsche kamen mir wie Fangarme vor. Sie streiften mein Gesicht, berührten meinen Körper. Unsichtbare Stricke umwickelten mich. Ich fühlte mich wie in eine Jacke ohne Ärmel. Wie sollte ich so die Tür erreichen! Sie kam mir unendlich weit entfernt vor.
Mühsam hob ich meinen Fuß und erklomm die dritte Stufe. Mein Blick fiel in den dunklen Abgrund zwischen den Sprossen. Kleine leuchtende Augen starrten mich an. Undurchdringliche Finsternis, so als schaute ich direkt in die Hölle.
Was passierte hier. Etwas zog mich nach oben, aber gleichzeitig war ich fast bewegungsunfähig. Immer wieder schaute ich in den Abgrund, bereit, jeden Moment zu fallen.
"Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Wieder diese sanfte Stimme.
Aber diesmal sprach sie andere Worte. Wer war der Weg? Meint die Stimme den Weg in den Garten?
Nur noch vier Stufen und ich wäre bei der Pforte. Ich streckte meine Hände aus, aber es reichte noch nicht. Zu groß war der Abstand. Für einen kleinen Moment schloss ich meine Augen. Alles drehte sich um mich. "Weiter, komm gehe weiter", sagte ich zu mir selber.
Der nächste Schritt und ich stand auf dem vierten Tritt. Nun konnte ich auch schon viel besser in den Garten schauen. Überall kamen kleine grüne Knospen aus dem Schnee heraus. Vereinzelt konnte ich Schneeglöckchen erkennen. Von dem Gartenhäuschen hingen lange Eiszapfen herab. An den Spitzen tropfte das Wasser zur Erde. Ein kleines Rinnsal floss langsam in den hinteren Teil des Gartens. Leider konnte ich nicht erkennen, wohin dieses Wasser strömte. Ein leises Rauschen war zu vernehmen. Es kam mir vor, als wenn dieser Strom in einen Wasserfall mündete. Unmöglich, dachte ich, in diesem Garten kann es keinen Wasserfall geben.
"Ich bin das lebendige Wasser", flüsterte die ruhige Stimme. Lebendiges Wasser, was war den das? Mir war ein bisschen komisch zu Mute. Irgendwie konnte ich all dies nicht so richtig einordnen.
Als ich auf die fünfte Stufe treten wollte, verlor ich das Gleichgewicht.
Entsetzt schloss ich meine Augen. Ich fühlte mich, als wenn ich aus dem fünften Stock eines Hochhauses fallen würde. Der Weg nach unten nahm einfach kein Ende. Rückschlag, totaler Rückschlag. Auf allen Vieren lag ich im Schnee und schaute zu der Pforte. Nur nicht aufgeben. Mühselig erklomm ich wieder eine Stufe nach der anderen. Mit letzter Kraft zog ich mich hoch und erreichte die sechste Stufe. Welch ein erhabenes Gefühl. Ich hatte es fast geschafft. Langsam richtete ich mich auf und hatte nun einen einmaligen Blick in die Anlage. Prächtige Pflanzen standen dort. Ein süßlicher Duft strömte mir in die Nase und verwöhnte meine Richtnerven auf erfrischende Weise. Ich hob den Kopf und sah, wie die Sonne zwischen dem wolkenverhangenen Himmel hervorschaute. Unsere Blicke trafen sich und ich bildete mir ein, sie lächele mir aufmunternd zu.
Nun noch eine Stufe und ich wäre vor der Tür. Aber meine Beine wollten mir nicht gehorchen. Der letzte Schritt fiel unendlich schwer. Aber ich musste durch diese Tür gehen. Sie zog mich unaufhaltsam an.
Meine Hand berührte das kalte Holz. Sanft liebkoste ich das Material, wischte den Schnee ab.
Nur noch ein Schritt und ich konnte durch die Pforte gehen.
"Öffne die Tür und trete ein. Ich bin die Tür. Wer durch sie hindurch geht, wird nimmermehr dürsten." Unendlich zärtlich und liebevoll klang diese mir schon so vertraute Stimme.
Nun streckte ich meine Hände aus und drückte gegen das Holz. Leise schwang es auf und der Durchgang schien endlich frei zu sein. Ungestört konnte ich nun in den Garten sehen. Er strahlte eine solche Helligkeit aus, dass ich für einen Moment meine Augen schließen musste.
Als ich sie wieder öffnete, war die Welt verändert. In dem Garten lag kein Schnee mehr. Ein malerisches Grün zeichnete die Landschaft. Vögel sangen die schönsten Melodien, die ich je gehört hatte. Aber das wunderbarste war die Bank am anderen Ende des Gartens. Auf dieser Bank saß eine Gestalt. Sie schaute mich gütig und aufmunternd an.
"Komm, mein Kind. Trete ein und ich werde dich erquicken. So lange habe ich auf dich gewartet. Endlich hast du diese erlösenden Schritte gewagt. Trotz der Rückfälle und Anfeindungen hast du es geschafft. Nun bist du Zuhause."
Sie streckte ihre Hände aus, an denen ich Wundmale erkannte. Ich ging durch die Pforte auf die Erscheinung zu und viel zu ihren Füßen. Langsam zog sie mich hoch und ich setzte mich neben sie auf die Bank. Zärtlich legte ER seinen Arm um meine Schulter.
Nun wusste ich, dass diese Tür das Ende des Weges in meinen Träumen war. Ich hatte mich danach gesehnt und es immer wieder aufgeschoben, diesen Weg zu gehen. Nun bin ich endlich angekommen. Ich war wirklich Zuhause!!



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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