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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das erste Mal
© Anja Liedtke
Wir hatten die Bravo gelesen, Konsalik und Simmel, Schiller und Lessing, hatten die Dornenvögel im Fernsehen gesehen, Greace und La Boom die Fete im Kino. Wir waren vorbereitet. Auf das erste Mal. Wir waren auch vorbereitet, weil wir das Vorspiel schon erlebt hatten. Oft. Der erste Kuss, das erste Streicheln der viel zu kleinen Brüste, die erste Hand im
Baumwollhöschen, die erste Berührung des männlichen Glieds, die Hand des Freundes auf unserer, seine Hand, die uns lehrte.
Wir stellten uns das erste Mal voller Schmerz und Lust vor. Und wir konnten kaum den roten Flecken auf dem weißen Laken erwarten, der uns als Frau ausweisen würde. Der blutige Fleck, der am nächsten Morgen sichtbar würde, wenn die Kerzen erloschen wären, und das helle Morgenlicht uns zum ersten Mal als Frau sähe. Zum ersten Mal würden wir das Laken selbst abziehen und die Bettwäsche waschen - wie eine erwachsene Frau. Und wir würden mit dem Laken in den Händen dastehen und uns erinnern, wie es gewesen war. Wie
erwachsene Frauen es tun. Deshalb also blickten sie manchmal so geistesabwesend. Warum nur lächelten sie nicht dabei? Wir würden lächeln! Wir hätten unser kleines großes Geheimnis. Wir hätten das große Geheimnis gelüftet. Wir wären nun eine von den Eingeweihten, eine von den Wissenden. Wir wären Frau. Und voller Stolz.
Überlegen lächelnd würden wir uns an den Teenager erinnern, der wir gester das Mädchen, das sein erstes Mal geplant hatte. Wir hätten gewartet, bis die Eltern eine ganze Nacht lang aus dem Haus gewesen wären. Hätten Essen gekocht, wie eine erwachsene Frau, hätten Vaters Wein aufgemacht und Hunderte von Kerzen ums Bett herum aufgestellt, hätten Streichelblues aufgelegt und uns den unbekannten Gefühlen überlassen und uns ihnen hingegeben. Jedem einzelnen Gefühl, jedes in aller Ruhe und Ausgiebigkeit ausgekostet…
Heller als Hundert Kerzen strahlte der Scheinwerfer aufs Bett. Wir hatten vergessen, wenigstens das Licht zu löschen. Frank Zappa lief noch auf voller Lautstärke und übertönte den elterlichen Fernseher. Wir hatten uns wohl nur küssen und streicheln wollen, wie immer, zwischen Tür und Angel, wie immer hastig, bevor jemand käme. Frank Zappa übertönte die Küsse und das Klopfen an der Tür. Der Mann und die Mutter drangen gleichzeitig ein. Der Schmerz ihres Eintretens tat mehr weh als das andere Eindringen. Viel mehr.
Wir verkrampften und zerquetschten ihn, den kleineren Eindringling. Die stehende Mutter sagte erschrocken und hilflos: "Was macht ihr denn da?", und ging hinaus. Wir sahen sie solange wie möglich nicht wieder. Auch unser Freund ging schnell. Wir waren allein.
Am nächsten Morgen suchten wir unter Tränen wenigstens nach dem Blutfleck auf dem weißen Laken. Aber nicht mal der war da. Wir hatten uns wohl schon mit einem Tampon entjungfert. Wir zogen die Bettwäsche nicht ab, sondern warfen uns darauf und weinten wie die Mädchen. Wir kochten kein Essen für den Freund, zündeten keine Kerzen für ihn an. Wir wurden nicht stolz und nicht zur Frau. Wir wurden nur älter.
Eingereicht am 19. Dezember 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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