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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Iphianassa

© Klaus-Peter Möller


So weit bin ich umhergetrieben, durch so viele Länder hat es mich gejagt, bis ich endlich hier, an diesem Ufer, einen Ort fand, wo ich sein kann. Hier habe ich gelebt all die Jahre hindurch. Hier lastete nicht dauernd der Fluch auf mir, der mich so niedergedrückt hatte, daß ich kaum noch atmen konnte. Hier, in der Fremde, bei den Barbaren, an dieser unwirtlichen Küste fand ich eine neue Heimat. Sie haben mich aufgespürt. Es war zu erwarten gewesen. Ich glaube, sie hätten mich am Ende der Welt gefunden. Nicht einmal der Blutbann, der auf dieser Insel liegt, hat sie davon abhalten können, ihr Vorhaben zu versuchen. Als man mir die beiden Verhafteten vorführte, sie hatten fremde Kleidung angelegt, um ihre Herkunft zu verschleiern, und sie hatten sich hinter falschen Namen versteckt, um sich nicht zu verraten, blieb mir fast das Herz stehen. Der Gedanke durchzuckte mich schmerzhaft und grausam süß. Jetzt war also die Reihe an mir, Rache zu nehmen. Wie lange habe ich auf diesen Tag warten müssen. Ich wußte das Gesetz auf meiner Seite. Alle Griechen, die es an diese Küsten verschlug, mußten sterben. Wenn nicht die Gottheit durch meinen Mund den König um Milde anrief. Wie viele von ihnen habe ich hingeopfert. Ich sah sie in ihrer Angst, und ich sah sie verröcheln. Innerlich blieb ich kalt. Was gingen mich noch die Griechen an? Aber jetzt war mein Tag gekommen, jetzt würde ich endlich gerächt für alles, was sie mir angetan haben, was ihr mir angetan habt. Natürlich habe ich ihn sofort erkannt. Was willst du hier? Du bist nicht mein Bruder. Mein Bruder nicht. Ich hätte schreien mögen. Vor Wut und vor Haß. Ich verbarg mich hinter der Würde der Priesterin. Ich habe gelernt, meine Gefühle zu beherrschen. Ich habe es lernen müssen. Wie hätte ich sonst leben können hier auf dieser Insel. An all den Orten, wohin es mich verschlagen hatte. Es war ein langer Weg. Aber in mir brausten die Stimmen wie wachgewordene Wölfe, wenn nach der langen Winternacht ein erster Frühlingsstrahl ihren Schlaf vertreibt. Was willst du hier, pochte es in meinen Schläfen, was willst du von mir? Warum laßt ihr mich nicht endlich in Frieden? Soll das alles wieder von vorne beginnen? Forderst du endlich die alte Schuld? Soll ich jetzt an dir zur Mörderin werden? An meinem Bruder? Du kennst doch das Gesetz, das es Fremden unmöglich machen soll, diese Ufer zu betreten. Bin ich nicht auch eine Fremde hier? Eine Fremde, die sich nur durch jahrelangen entsagungsvollen Dienst vor der Gottheit, mehr noch vielleicht durch das Wohlwollen des Königs das Ausnahmerecht erworben hat. Ist etwa die Kunde davon an deine Ohren gedrungen, daß ich in den letzten Jahren so ausgiebig davon Gebrauch gemacht habe, daß es kaum noch zu Blutopfern kam? Hat dich das so verwegen, so sicher gemacht? Aber du hast dich verrechnet. Muß ich nicht gerade in diesem Fall das Opfer einfordern mit aller Strenge? Warum mißachtest du alle Gesetze und alles Recht? Dein widerliches Grinsen. Du versuchtest, mich mit dem Orakel einzuschüchtern und zu erpressen. Was geht mich Delphi an? Wer glaubt denn an die verworrenen Sprüche, die auf Bestellung von den lasterhaften und korrupten Priestern des Apoll aus einer halbwahnsinnigen Pythia herausgequält und von dienstwilligen Dichterlingen und heuchlerischen Hermeneuten verfälscht und zurechtgelogen werden. Als wir uns gegenüberstanden, das erste Mal nach so langer Zeit, versuchtest du, mich zu umarmen, wurdest sogar grob, als ich dich zurückstieß. Um Gottes Willen, komm mir keinen Schritt näher. Ich weiß alles. Ich weiß nichts. Was ist? Sagtest du. Als ob nichts gewesen wäre. Ich bin doch dein Bruder. Ja, leider, was kann ich dafür? Du bist mein Fleisch und Blut. Du ekelst mich an. Wie sehr du mich an deinen Vater erinnerst. Du bist ihm ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Du hast dieselbe Figur, dieselben Gesten, du sprichst wie er. Soll denn das niemals aufhören? Mir schaudert vor deinen Händen. Es klebt Blut daran. Aber du, hast du es denn nicht auch gewollt? Was ist das für eine Schuld, die uns verfolgt, die uns rasend macht, die uns zu Schatten werden läßt, während wir noch leben, die uns keine Hoffnung läßt. Hört das denn niemals auf? Soll die schwarze Pest fort und fort ätzend in unseren Adern brennen von Geschlecht zu Geschlecht? Soll ich nun den Brudermord noch häufen auf den Kindesmord, den Mord am Gatten, an der Mutter? Soll ich die Mörderkrone tragen? Ich muß mich erst fassen, sagte ich zu dir, wir müssen klug sein, du weißt, in welche Situation du mich gebracht hast. Da fielst du vor mir auf die Knie und weintest, ich sollte dich nicht ermorden. Ich dürfte es nicht. Habe ich etwa nicht gehandelt im göttlichen Auftrag? Wir konnten das doch nicht ungestraft lassen. Er war doch unser Vater. Wer wir. Er war auch dein Vater. Sprich nicht von ihm. Ich weiß, daß du ihn nicht mochtest. Hast du mir nicht immer durch unzweideutige Reden zu verstehen gegeben, wie verhaßt er dir gewesen ist. Ich mußte es tun. Und Elektra wollte es auch. Elektra? So habt ihr es gemeinsam ausgebrütet? Natürlich, was denkst du. Und sie? Lebt sie? Du nicktest. Und Chrysostomus? Was ist mit ihm? Schrecklich, die Geste, mit der du mich über sein Schicksal in Kenntnis zu setzen versuchtest. War er dir nicht einmal ein Wort wert? Mit dem langgestreckten Zeigefinger fuhrst du dir den Hals entlang. Ruckartig. Versteinert die Mine. Ich wußte es längst. Dennoch fuhr mir der Schmerz wie ein Schnitt durch die Haut. So ist Elektra als einzige verschont geblieben? Wir beide sind doch auch noch da, du und ich. Was heißt das? Hast du Aulis vergessen? Die Lage, in der du dich befindest? Mußt du diese Sache mit Aulis wieder hervorholen? Deine Mutter hat auch immer davon gesprochen. Ich glaube, sie wollte es nicht vergessen. Wenn es nur das gewesen wäre. Aulis. Weißt du, was dein Vater getan hat? Welche grausige Schuld auf ihm lastete? Weißt du es? Wenn du es wüßtest, es wäre dir nicht möglich, aufrecht zu gehen, du müßtest versinken vor Scham, sein Sohn zu sein, von seinem Samen gezeugt, du würdest dich selbst verfluchen und alles, was dein ist und aus deinem Vaterhaus. Und wenn mir etwas noch mehr verhaßt sein kann als er, so bist du es. Warum begegnest du mir so feindselig, so abweisend? Iphianassa, ich bin doch dein Bruder. Das ist doch alles so lange her. Faß mich nicht an, Orestes, faß mich nicht an. Oh wie widerlich er ist. Weißt du überhaupt, warum Agamemnon mich weghaben wollte? Er mußte befürchten, daß ich, sobald er mich nicht mehr mit seiner furchtbaren Gegenwart unter Druck setzen konnte, verraten würde, was ich wußte. Wir konnten diesen Krieg niemals gewinnen, schon in seinem Anfang stand nur Lüge und Verrat. Die Sache mit Kalchas war natürlich auch von vorne bis hinten erlogen. Weil der Priester sich weigerte, dem Wunsch des Königs zu willfahren, wurden ihm die Augen ausgestochen. Es sollte ein Tier dargebracht werden. Das hatte er verlangt. Aber Agamemnon bestand darauf, daß ihm die Artemis im Traum erschienen wäre, und daß sie von ihm verlangt hätte, die erste Jungfrau, die ihm in die Arme laufen würde, zu opfern. Weshalb mußten wir denn diese überstürzte Reise nach Aulis antreten, Mutter und ich. Sie ahnte gleich, daß es nichts Gutes bedeuten konnte. Vielleicht wußte sie etwas. Ja, ganz bestimmt, je mehr ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher wird es mir, daß sie wußte, was da gespielt werden sollte. Nur ich war völlig arglos und naiv. Bildete mir etwas ein von Hymenaios und Eileithyia. Sah mich in Hochzeitskleidern, träumte von Achill und seinen Umarmungen. Als wir in das Lager kamen, du glaubst gar nicht, wie widerlich sich die Kerle da benommen haben. Sie waren noch gar nicht aufgebrochen vom griechischen Boden, erst wenige Wochen von zu Hause fort, doch schon verroht, verwildert, sie waren wie reißende Tiere. Schreiend und johlend umringte uns die geile Männermeute. Man sah es ihnen an, am liebsten hätten sie uns vom Wagen gezerrt und wären ohne weiteres über uns hergefallen. Damals besaß der König ja immerhin noch ein wenig Respekt. So rissen sie nur ihre säuischen Witze. Ich kam mir vor, als wäre ich von einer übermächtigen Hand aus dem hellen, lichten Tag in den finsteren Hades geschleudert worden, mitten unter die Schatten der Verdammten. Ich fühlte mich erniedrigt und beschmutzt. Wenn sie gewußt hätten, welches Schauspiel inszeniert werden sollte und welche Rolle uns dabei zugedacht war, vielleicht hätten sie sich etwas anständiger benommen. Doch selbst das ist nicht sicher, nicht einmal wahrscheinlich, womöglich wären sie noch hemmungsloser gewesen. Die heiligen Opfer und Gebräuche sind ihnen ja nur ein Spott. Nichts achten sie als Gewalt, die größer ist als ihre eigene Gewalt, als List und Tücke, durch die sie überlistet und betrogen wurden. Was bedeutet ihnen ein Menschenleben, das Leben einer Frau? Nichts weiter. Kaum ein Hundefell. Man wärmt sich einen Augenblick daran und wirft es dann mit einem Fußtritt in den Staub. Von solchen Wesen ist kein Mitgefühl zu hoffen. Als ich ihre lüsternen Blicke sah, mit denen sie mich überall maßen, erschrak ich wie vor dem Haupt der Medusa. Was sollen wir hier? Weshalb sind wir hergekommen? Sind das die Hochzeitsgäste? Mutter war schon während der Fahrt so sonderbar gewesen. Ich meinte, sie hätte sich doch wenigstens ein bißchen freuen können. Sie hat mich im Arm gehalten, wie ein kleines Kind, und die ganze Zeit über vor sich hin gewimmert. Der Singsang glich keinem Freudenlied. Eher einer Totenklage. Fährt so eine Königin zu ihrem König? Zum Hochzeitsfest der Tochter? Ich glaube, sie wußte alles. Die einzige, die nichts ahnte, war ich. Auch Kalchas mußte etwas mitbekommen haben, obwohl er geblendet war und isoliert gehalten wurde. Nur ihm habe ich es zu verdanken, daß ich überhaupt noch lebe. Er hat sich den Trick mit der Hirschkuh einfallen lassen. Über dem Opferplatz lag eine bleierne Hitze. Der neugierige Mob hielt vor Schaulust den Atem an, während ich zum Altar geführt wurde. Als das rote Blut schäumend in die Schale schoß, ging ein Raunen durch die lauernde Menge der Kriegsbestien. Und mitten in die angespannte Stille hinein ertönte der Schrei. Laut schrie der Priester auf und das ganze Heer schrie trunken vor Begeisterung. Ein Wunder, ein Wunder. Ein göttliches Zeichen! Sie waren nicht mehr zu halten, sie stürzten zu ihren Zelten, rissen die Waffen an sich, rannten zu den Booten. Das ganze Lager war in Aufruhr. Ich lag neben dem verröchelnden Tier und fühlte, wie mich etwas heiß überströmte, meine Augen verklebte, mein Gesicht, meinen Leib. Ich verspürte einen süßlichen Geschmack auf den Lippen. Ich begriff nicht, was mit mir geschah. Ich war meiner selbst entrückt. Mitten in der Nacht kamen sie dann, um mich zu holen. Ich konnte nichts sagen, es war, als hätte ich einen Nebelvorhang vor den Augen. Zuerst wuschen sie mich, dann gaben sie mir neue Kleider. Über heimliche Pfade wurde ich aus dem Lager geführt. Ich weiß nur noch, daß sie mich weiterreichten wie einen kostbaren Gegenstand, immer war jemand bei mir, der mich an die Hand nahm. Abends sprachen sie leise miteinander. Ich verstand nicht, was sie redeten, aber ich fühlte mich geborgen bei ihnen. Anfangs konnte ich kaum gehen, und sie mußten mich auf beiden Seiten stützen. Mit der Zeit lernte ich das Laufen wieder. Immer weiter brachten sie mich auf diese Weise, fort von dem grausigen Ort, der meine Heimat gewesen war, der mir das Leben geschenkt hatte und der mich aufwachsen sah. Schließlich bestiegen wir ein Boot und fuhren viele Tage über das Meer. Ich saß im Heck des Schiffes und konnte nicht fassen, was geschah. Ich sah das Ufer am Horizont verschwinden, in meinem Herzen regte sich nichts. Als sie mich hierhergebracht hatten, brach ich zusammen wie ein gefällter Baum. Sieben Wochen lang lag ich ohnmächtig im Tempel, kam nur für kurze Augenblicke zu mir, ohne mich selbst oder das, was sich um mich her ereignete, wahrzunehmen. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte sterben. Ich wußte, daß mich nur noch ein kleiner Schritt vom Abgrund trennte, und ich war bereit, ihn zu gehen. Ich ließ mich fallen, fiel, immer tiefer. Es war vorbei mit mir. Meine Wärterinnen hatten mich bereits aufgegeben. Ich fühlte, daß ich ganz unten angekommen war. An den dunkel fließenden Wassern, in denen das Vergessen rinnt. Ich hörte bereits das schaurige Gejaule des hundertäugigen Hundes, der den Eingang zur Hölle bewacht. Es machte mir keine Furcht. Ich sah schon den Chairon herannahen mit seiner lautlos hingleitenden Fähre. Aber dann hatte ich diesen Traum. Eine weiße Hirschkuh kam auf mich zu und sprach zu mir: Kehre um, Iphianassa! Das war das erste Wort, das zu mir drang durch die Wand des Schweigens. Am nächsten Morgen nahm ich das erste Mal wieder etwas Wasser zu mir und ein wenig Nahrung. Drei Mal erschien mir die Hindin im Traum in drei aufeinanderfolgenden Nächten. Es war der Ruf, der mich aus dem Totenreich zurückgeholt hat. Allmählich gelangte ich wieder zu Kräften. Der Weg zurück ins Leben war unendlich mühsam. Schritt für Schritt tastete ich mich voran, wie ein Neugeborenes, mußte alles von neuem lernen. Essen. Laufen. Sehen. Und doch schien es zuerst so, als ob ich nur auferstanden wäre, um noch einmal auf dem Altar geschlachtet zu werden. Thoas, der etwas erfahren hatte, schickte seine Geheimpolizei in den Tempel, um mich verhaften zu lassen. Ohne seine Erlaubnis hätte ich das Land betreten und damit mein Leben verwirkt. Ich war noch nicht so weit wiederhergestellt, daß ich mich hätte verteidigen können, doch ich begriff, daß mir das Leben, das ich schon als ein Geschenk angenommen hatte, wieder geraubt werden sollte, daß ich die furchtbaren Todesängste und Qualen noch einmal durchleiden sollte. Ich stürzte zusammen und verlor erneut die Besinnung. Diesmal war die Nacht, die sich über mich legte, noch tiefer als zuvor. Und wieder war es die weiße Hindin, die mich zurückrief. Kehre um, Iphianassa. Du wirst als Gast im Hause meiner Schwester leben, bis ich selbst komme, um dich zu rufen. Ich begriff nichts. Aber ganz tief in meinem Innern glomm etwas auf wie ein kleines Fünkchen in der tiefsten Finsternis. Ich wußte nur, ich war gerettet. Es dauerte lange, bis ich wieder zu mir kam. Aber immer war dieser kleine leuchtende Punkt in mir, den nichts wieder zum Erlöschen bringen konnte, und der mich anzog wie der Polarstern die Blicke der Seefahrer. Ich war wie neu geboren. Zum dritten Mal aus den Klauen des Todes gerettet und auf wunderbare Weise bewahrt. Alkinoos hatte dem König von meinem Traum erzählt, von den sonderbaren Worten, die ich im Zustand der Umnachtung stammelnd hervorstieß. Thoas gab mich frei. Beugte er sich dem Willen der Götter? Oder liebte er mich schon damals? Ich konnte gehen, wohin ich wollte. Ich begann, die Frauen in ihren Hütten zu besuchen, ich wanderte hinaus zu den heiligen Stätten. Viele Tage verbrachte ich in Tempeln und Heiligtümern, ganze Wochen, in traumschwerem Heilschlaf oder im Gespräch mit den Priesterinnen. Immer wieder erzählte ich meine Geschichte. Stets mit denselben Worten. Hielt ich es an einem Ort nicht mehr aus, zog ich weiter. Ich war so voller Unruhe. Ich reiste in die Nachbarländer, immer weiter zogen sich meine Kreise. Allmählich begann ich zu begreifen, daß die Frauen mir nicht nur aus Mitleid zuhörten, sondern weil viele von ihnen selbst ähnliches erlebt hatten, und weil es ihnen wohltat, Worte zu hören, die zu sagen sie sich vielleicht niemals getraut hätten. Was ich ihnen zu berichten hatte, war ihre eigene Geschichte. Auch wenn sie es sich nicht einzugestehen wagten. Deshalb verstanden sie mich auch sofort, wenn ich zu reden begann. Kauerten zusammengesunken am Feuer und nickten zu jedem Wort, das ich sagte. Lächelten still in sich hinein. Die guten Gesichter. Die sanften, furchtsam blickenden Augen. Weinend, schluchzend lagen wir einander in den Armen, wenn ich nicht mehr weitersprechen konnte. Auch für sie war es eine Befreiung, wenn ich ihnen von mir erzählte. Viele Länder hatte mein Fuß berührt, nur den Boden Griechenlands hütete ich mich zu betreten. Endlich kehrte ich nach Tauris zurück. Die Vergangenheit war mir wie abgestorben, nun sollte mir noch einmal ein neues Leben geschenkt werden. Ich wollte vergessen, ich wollte noch einmal neu anfangen. Es mußte doch auch für mich eine Möglichkeit geben. Ich beschloß, auf Tauris zu bleiben. Ich wurde Priesterin. Ja, ich wollte Taurierin sein. Und ich schwor einen heiligen Schwur, niemals wieder nach Argos zurückzukehren. Oft wiederholte ich mir diese Worte, und wenn es anfangs der Haß und die Angst gewesen waren, die mich den Fluch auf das Vaterland immer wieder erneuern ließen, so kam mit der Zeit auch die Dankbarkeit hinzu. Denn ich habe hier eine neue Heimat gefunden, auf dieser unwirtlichen Insel, hier konnte ich leben, ruhig und zufrieden. Und jetzt kommst du, und reißt alles wieder auf. Ich sollte mit dir nach Hause zurückkehren!? Nach Hause!? Mit dir!? Nach Mykene!? Wo man mich gequält hat!? Wo mich mein eigener Vater zur Schlachtbank führte!? Wo alle, die ich liebe, tot sind, ermordet, von deiner Hand hingemetzelt!? Warum läßt du mich nicht in Ruhe!? Ich will nicht mit dir gehen! Ich kann nicht! Die kleine Narbe auf deiner Stirn ist kaum noch zu sehen, doch ich habe sie sofort wiedererkannt. Weißt du noch, ich habe dir diese Wunde geschlagen. Du wolltest mir den Speer des Pelops wegnehmen, den ich in meiner Kammer unter dem Bett aufbewahrte. Onkel Ai hatte ihn mitgebracht. Von einer Reise nach Pisa hatte er ihn mitgebracht, wo er ihn in einem Sumpf gefunden hatte. Ein längliches schwarzes Stück Holz. Woher willst du denn wissen, daß er von Pelops ist? Aber sieh doch, hier, die Buchstaben. Mit etwas gutem Willen konnte man den Namenszug im Rest des Schaftes lesen. Was steht da? Pelops? Ich lese Pothos. Du hast geschrien und mich gehänselt, und du wolltest mir den Speer einfach aus den Händen reißen. Ein faules Stück Holz. Der Speer des Urahnen. Gib her. Nein. Niemals. Schließlich stach ich nach dir. Als ich das Blut aus der Wunde treten sah, erschrak ich. Das habe ich nicht gewollt. Heute weiß ich es besser. Ich wollte dich verletzen. Schon damals. Ich haßte dich, weil du ein Junge warst, und weil du mein Bruder warst, und weil ich in dir mich selbst haßte und unser ganzes Geschlecht. Ich wollte nicht zu euch gehören, wollte keine aus diesem verruchten Haus sein. Immer suchte ich nach Gründen, meine Herkunft aus einem anderen Geschlecht abzuleiten. Doch unsere Ursprünge hüllen sich in geheimnisvolles Dunkel. Es gibt keine Gewißheit. Nur Ahnungen. Und das unentrinnbare Schicksal, das sich, wie es scheint, heute vollenden will. Mit furchtbarer Konsequenz schließt sich in diesem Augenblick sein verhängnisvoller Kreis und führt mich zu dem Punkt zurück, vor dem ich geflohen war, bis ans Ende der Welt. Es gibt kein Entrinnen! Wieder stehe ich vor dir mit dem Speer in der Hand. Wer, wenn nicht die Unsterblichen, denen sich alles beugen muß, haben es so bestimmt? Wieder stehe ich vor dir, und diesmal werde ich dich nicht verfehlen. Orest, du bist des Todes. Nichts rettet dich mehr. Und Elektra trifft mein tödlicher Fluch. Warum zittere ich wie im Fieber. Was ist das, was mich durchschüttelt. Warum läßt es mich nicht los. Ist dies nicht der Augenblick, auf den ich so lange gewartet habe, brennend vor Ungeduld? Rache für all die Schmach, die ihr mir angetan habt. Blutige Rache! Heute liegt es in meiner Hand, unser Geschlecht zu entsühnen. Warum zögerst du, Ipianassa? Die Zeit des Handelns ist da! Laß den Augenblick nicht ungenutzt verstreichen. Goldmund! Wie oft, wenn ich wach lag in den Nächten, habe ich mir dein Gesicht vorzustellen versucht. Es trägt die Züge der Mutter. Ach Mutter, Mutter, wie mag es dir in all den Jahren ergangen sein? Was machst du, so ganz allein mit den Männern. Ohne mich. Ich habe so oft von dir geträumt. Ich habe geschrien und geweint, weil du so unerbittlich fern von mir gewesen bist. Wie schön war es, wenn du dann zu mir kamst, mich in die Arme nahmst und beruhigend zu mir sprachst, um mich zu trösten. Wie sehr habe ich mich verzehrt nach einem Lebenszeichen von dir. Trotz allem, was ihr mir angetan habt, auch du, Mutter, trotz alle dem. Ich werde deine Rächerin sein, Mutter, hättest du das gedacht? Jetzt ist dieser Augenblick gekommen, und alles ist so ganz anders, als ich es mir immer vorgestellt hatte. Jeden, der von dir kommt, wie wollte ich ihn umfangen und küssen mit all den Küssen, die ich dir zugedacht hatte. Wie oft habe mich danach gesehnt. Komm doch, komm. Nimm mich in die Arme. Führe mich heim. Mir graut vor dir, Bruder, du hast etwas Entsetzliches an dir! Du bist gekommen, um mich zu holen. Ich weiß es. Aber wie kann ich mit dir gehen? Du bist mir so fremd, Orestes. Ja, sieh mir in die Augen, damit ich ein Zeichen im Grunde deiner Seele schauen kann. Irgendeinen vertrauten Zug, der mich den Weg zu dir wiederfinden läßt. Warum siehst du mir nicht in die Augen? Du sollst mir in die Augen sehen. Nichts. Nichts. Fremd und unnahbar stehst du da. Weltweit fern. Warum ist dein Blick nur so unstet. Nein, sag nichts. Du brauchst mir gar nichts zu sagen. Ich weiß schon alles. Alles, verstehst du! Habe ich nicht all die Qualen selbst durchlitten, all die Mordgedanken. Als ich das erste Mal den Dolch zückte, den ich Agamemnon zugedacht hatte, heimlich, in meiner Kammer zog ich ihn aus dem Versteck hervor, wie erschrak ich da vor meinen eigenen Gedanken. Das ist schwarz, das ist schwärzer als das schwärzeste Gift. Später habe ich ihn immer bei mir getragen. Er war mein einziger Freund. Du glaubst gar nicht, wie oft ich ihn aus seiner Scheide gezogen habe, du kannst dir nicht vorstellen, mit welchen Flüchen seine Schneide vergiftet war. Ja, ja, ja, ich weiß. Ich kenne die Gebote. Auch das der Elternliebe. Was aber geschieht, wenn ein Vater nicht der Liebe würdig ist und keine Achtung verdient? Nicht einmal Achtung. Ich habe ihn nie geliebt. Wie habe ich gebetet, sooft er außer Haus war, zur Jagd oder zu einem dieser orgiastischen Gastmahle, mit welcher Inbrunst, er möge vom Pferd stürzen, sich den Hals brechen. Und wenn er dann spät nachts nach Hause kam, grölend und stinkend, wenn er im Hause herumbrüllte und mit den Stühlen warf. Wie bitter war die Enttäuschung, als ich jedesmal sah, die Götter hörten mich nicht. Starr sehen sie auf uns herab, mitleidlos, ohne Gefühl. Welche Ängste ich da litt, das wirst du niemals verstehen können. Wie sehr wünschte ich, er sollte an dem Wein, den er wie ein Schwein in sich hineinsoff, krepieren. Doch er kotzte alles wieder heraus. Wie das stank und grülzte. Und dann die Schreie, wenn er sie schlug. Das war das Schlimmste. Und dann, wenn es wieder still wurde. Oh Gott, da habe ich sogar an den Unsterblichen gezweifelt. Wie konnten sie so etwas zulassen? Warum fuhr nicht endlich der Strahl der Rache wie ein Blitz auf dieses Haus nieder, um uns alle miteinander zu verschlingen? Ich konnte es nicht begreifen. Aber das Schlimmste ist so unaussprechlich, so unmenschlich, daß sich die Sprache selbst weigert, es zu sagen, daß die Luft verfaulen würde, die es hören müßte, und daß der Tag, der es sähe, finster würde. Und niemals wirst du dieses von mir erfahren. In jenen Nächten war mein Freund immer bei mir. Dann zog ich ihn hervor aus seiner ledernen Hülle. Kalt und scharf blinkt der Stahl in meiner Hand. Einmal stand ich sogar über ihm, als er dalag in seinem Unflat wie ein Schwein. Aber mein Mut reichte nicht aus, es zu tun. Oh hätte ich es doch getan, wie vieles wäre anders gewesen! Die Welt wäre zum Stillstand gekommen und hätte begonnen, sich anders herum zu drehen. Hätte ich es nur gewagt. Aber es war eine furchtbare Tat. Ich konnte es nicht. Ich wußte mir keinen Rat. Da setzte ich die Schärfe an meine eigene Brust, um endlich all das nicht mehr mit ansehen zu müssen. Es war wie ein Spiel, ein böses, grausames Spiel. Ich wollte ja nicht sterben. Ich suchte doch nur nach einem Ausweg. Ich wollte aus diesem Sumpf heraus, in dem ich zu ersticken drohte. Egal wie. Als ich mir dann in einem Augenblick der Raserei die Adern öffnete, als das Blut aus mir hervorsprudelte, wie aus einem Springbrunnen, da erschrak ich vor dem Tode, wie ich noch nie in meinem Leben erschrocken war. Ich wollte schreien, aber mein Hals war mir wie zugeschnürt. Gut, dachte ich, gut, da ist es also passiert. Gut, daß das alles vorbei ist. Was dann geschah, weißt du. Ein Messer habe ich nie wieder in die Hände bekommen. Aber die Narbe ist geblieben. Da, siehst du sie, dicht am Handgelenk, blutig und rot? Schlimmer sind freilich die unsichtbaren Narben, sie schwären und eitern, brechen immer wieder auf. Wie ihr dauernd getan habt, du und Elektra. Aber hinter meinem Rücken, da seid ihr über mich hergezogen. Sie war nicht wie eine Schwester. Elektra war eiskalt. Man kam nicht an sie heran. Niemand kam an sie heran. Sie ging umher wie ein Mann in Kleidern. Keiner mochte sie. Niemals hatte sie einen Freund. Erst viel später habe ich begriffen, warum sie so war. Damals zählte ich sie zu den Bestien. Sie steckte ja dauernd mit dir unter einer Decke. Bedeutet hast du ihr im Grunde genommen nichts, Orestes, wenn sie auch mit dir wie mit ihrem Vertrauten sprach. Sie hat dich nur benutzt. Sie war von Ehrgeiz wie zerfressen. Sie konnte es nicht mit ansehen, wenn einem anderen eine Freude zuteil wurde. Dabei war sie selbst unfähig, sich über irgendetwas zu freuen. Wie haßte sie unseren Bruder Chrysostomus, weil er der einzige war, dem unsere Mutter ihre Liebe schenkte. Denn Chrysostomus war anders. Es war, als gehörte er gar nicht zu unserer Familie. Es war etwas Helles, Freundliches an ihm. Er war so weich und zerstörbar. Ach Goldmündchen, Goldmündchen, du bist das Einzige, was mich noch mit Griechenland verbindet. Weißt du noch, wie der Onkel Aigisth manchmal zu uns kam. Ai, Ai, hast du uns auch etwas mitgebracht? Immer holte er irgend etwas Interessantes aus seiner Tasche hervor. Eine Muschel, in der das Rauschen des Meeres eingeschlossen war. Eine wunderbar duftende Blume. Ein sonderbares Tier, das er aus irgendeinem Schächtelchen hervorzauberte. Diesmal habe ich euch etwas ganz Besonderes mitgebracht. Denn ich war auf meiner letzten Reise am Ende der Welt. Dort befindet sich ein Gebirge, das man den Kaukasus nennt, und das bis an die Sterne reicht. Wenn man ganz oben auf dem höchsten Gipfel dieses Gebirgszuges steht und sich dann noch ein bißchen ausstreckt, dann kann man sogar bei Vater Zeus in die Küche kucken. Und dieser Stein hier, das ist die Spitze des allerhöchsten Gipfels der ganzen Welt! Denkt euch nur, der Berggipfel ist gespalten, wie ein riesiger Kamelrücken, und ich war zuerst auf den falschen Höcker geklettert. Als ich oben ankam, da hatte ich die Bescherung. Ich mußte wieder herunter und auf den anderen Zipfel. Schließlich sollte es die Spitze sein. Sonst wäre es ja nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Stein, den man an jedem Weg auflesen kann. Es blieb mir also nichts übrig, als wieder herabzusteigen, die Schlucht zwischen den beiden Spitzen zu durchqueren und auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern. Das war aber ziemlich gefährlich, weil genau in der Kerbe zwischen diesen beiden Gipfeln ein furchtbarer Drache haust. Hast du den Drachen getötet, Onkel Ai? Wieso getötet? Nein, natürlich nicht, ich hatte ja gar kein Schwert bei mir. Ich habe ihn ausgetrickst. Du mußt nämlich wissen, daß die Drachen dumm sind, und die schrecklichsten unter ihnen, das sind gerade die dümmsten. Stundenlang konnte Onkel Ai von seinen Abenteuern erzählen, die er auf seinen Reisen durch die Welt erlebt hatte. Nur du konntest es nicht verstehen, was wir für einen Narren an diesem Sonderling gefressen hatten, und Elektra sagte, wir sollten die Märchen des Onkels nicht für bare Münze nehmen. Aber wenn er es doch selbst gesagt hat, daß die Drachen dumm sind. Einmal brachte Onkel Ai eine verwundete Dohle mit. Irgendwer hatte ihr mit einem Pfeil den Flügel durchschossen. Man darf doch kein Tier einfach so aus Spaß töten. Sie haben doch auch eine Seele und eine eigene Sprache, und sie leiden genau wie wir. Diese Dohle hier hat mir erklärt, daß sie wieder gesund werden könne, wenn sich ein unschuldiges Mädchen ihrer annehmen und sie mit liebevoller Geduld pflegen würde. Ich hätte sie am liebsten selbst behalten, gerade weil sie so klug zu erzählen weiß. Aber bin ich etwa ein Mädchen? Vielleicht weißt du ja jemanden, an den ich mich wenden kann, etwa eine deiner Freundinnen oder ein Mädchen hier im Dorf. Ob ich jemanden weiß? Ja, ja, natürlich weiß ich jemanden, ich bin es ja selbst, Onkel Ai, ich bin doch ein Mädchen. Und du willst also wirklich? Und ob ich wollte. Wochenlang habe ich den Vogel gehegt und umsorgt. Zuerst wollte er nicht einmal fressen. Ich habe ihm mit einer Hand den Schnabel aufgesperrt und mit der andern kleine Brotkügelchen hineingeschoben. Stundenlang hockte ich vor dem Käfig, den Chrysostomus für die Dohle gebaut hatte, und versuchte, mich mit ihr zu unterhalten. Doch der Vogel saß nur traurig da und schaute mich an mit seinen kohlenschwarzen Knopfaugen. Ich schmeichelte, ich bettelte, ja ich schimpfte auf das Tier. Es gab keine Antwort. Dem Onkel Ai hast du stundenlang Geschichten vorgeschwatzt, aber mit mir willst du wohl überhaupt nicht reden. Du denkst vielleicht, ich verstehe deine Sprache nicht. Das kann sogar sein. Aber ich könnte sie doch lernen. Wir könnten es doch wenigstens einmal versuchen. Nicht? Na schön, dann werde ich dir eben etwas vorplaudern, und du mußt mir zuhören. Ich hatte ja genug auf dem Herzen. Und weil sie mir ihren Namen nicht verraten wollte, taufte ich die Dohle auf den Namen Roah. Es dauerte lange, bis Roah wieder zu Kräften kam. Erst nach vielen Wochen begann sie, im Gatter herumzuflattern. Gierig fraß sie alles, was man ihr vorsetzte. Nach den Händen, die ihr Gutes tun wollten, hackte sie mit dem Schnabel. Voller Mißgunst sah Elektra, wie es Roah von Tag zu Tag besser ging. Ein Vogel, dem einmal der Flügel gebrochen war, wird nie wieder fliegen. Woher weißt du das? Vater hat es gesagt. Zuerst hatte es ganz den Anschein, als ob er auch darin Recht behalten sollte. Aber das durfte nicht sein. Ich weiß nicht, woher ich die Gewißheit nahm, daß meine Dohle es schaffen würde. Noch nach einem halben Jahr, als die Wunde schon längst verheilt war und sich neue Federn gebildet hatten, flatterte sie hilflos in der Stube herum, und selbst wenn man sie hoch in die Luft warf, vermochte Roah nicht weiter als drei oder vier Schritte zu fliegen. Und auch du sagtest, es ist zwecklos. Gib es auf. Nein, nein, nein. Noch einen Monat, ein paar Wochen. Onkel Ai hat doch gesagt ... Er ist ein Narr. Das war die Stimme des Vaters. Ich werde dir einen gesunden Vogel kaufen. Aber ich wollte keinen anderen, ich wollte nur meine Roah. Eines Morgens war die Dohle fort. Spurlos verschwunden. Ich suchte sie im ganzen Haus, ich rief nach ihr, ich lief hinaus in den Garten und auf das Feld. Roah, Roah, wo bist du? Nirgends konnte ich sie finden. Roah, Roah! Ihr wird doch nichts passiert sein? Sie ist bestimmt nach Hause geflogen, versuchte Chrysostomus, mich zu beruhigen. Aber hier bei mir ist doch ihr zu Hause. Nein, sagte mein Bruder, sie hat eine Familie, Eltern und Geschwister. Denk dir nur, gestern abend sah ich auf dem Feld einen kleinen Schwarm von Dohlen, die ganz aufgeregt herumflatterten. Sie haben ihre Schwester nach Hause geholt. Das ist es. So konntest du trösten, Goldmündchen. Wie gut war es, einen Menschen wie dich zu haben. Onkel Ai hatte zwar behauptet, daß Dohlen sehr anhänglich wären und sogar richtig zahm würden, aber meine Roah habe ich niemals wieder gesehen. Doch als ich in meiner Krankheit lag und nicht mehr zu mir finden konnte, als ich schon den Zerberus gesehen habe und vor Schrecken wie gelähmt war, da schien es mir, als ob mich ihre Stimme rief. Roah! Roah! Roah! Es war wie von ganz weit her, aber ich wußte: Roah hatte mich gefunden. Später erzählte mir Alkinoos, der Priester, daß sich wirklich in jenen Tagen eine Dohle in der Fensteröffnung des Raumes, in dem ich lag, eingenistet hatte, die immer wiedergekommen war, sooft man sie auch vertrieb. Da hatte sie mich also gefunden. Da hat sie mir also einen Gruß gebracht von der Heimat, und von dir, Goldmündchen, Silberherz, und von Onkel Ai. Das muß in jenen Tagen gewesen sein, als die weiße Hindin das erste Mal im Traum zu mir kam. Goldmündchen. Was wohl aus dir geworden ist. Als dieser unselige Krieg mit den Troern begann, da hast du Frauenkleider angezogen, weil du hofftest, daß sie dich zurücklassen würden. Wir wußten ja alle, daß du anders warst. Du warst so weich, so empfindsam. Sie haben dich trotzdem mitgenommen. So wie du warst, in deinen langen Kleidern, die dir übrigens gar nicht schlecht standen. Sie haben dich auf einfach einen Wagen gesetzt und ins Lager geschleppt. Vielleicht, um ihren Spaß mit dir zu haben. Einen Krieger konnten sie nicht aus dir machen. In Aulis war es auch, daß ich dich das letzte Mal sah. Doch das war schon nicht mehr mein Goldmündchen, das war überhaupt kein Mensch mehr, das war nur noch der Schatten eines Menschen. Was haben sie nur mit dir gemacht. Du sprachst kein einziges Wort zu mir. Aber in deinen Augen las ich die ganze Qual des Daseins, deines Daseins. Du weißt ja nichts von alledem, du warst damals zu klein, Orestes. Als die Männer von zu Hause fortzogen, ranntest du hinterher mit deinem Holzschwert. Nehmt mich mit, so nehmt mich doch mit. Immerzu bist du herumgelaufen: Tod den Trojanern! Tod Priamos! Tod Hektor! Die Männer lachten nur über dich. Ich fand das überhaupt nicht komisch. Elektra hatte gerade wieder einen ihrer Tobsuchtsanfälle. So blieb ihr der Auszug erspart. Sie hätte sich wohl auch nichts daraus gemacht. Später, als ich ihr alles erzählte, als ich von dir sprach, Goldmündchen, von deinem herzzerreißenden Schreien, und wie du die Arme nach mir ausstrecktest wie ein Kind nach der Mutter, da blieb sie ganz kalt. Warum erzählst du mir das alles, Iphianassa? Wozu? Aber du bist doch meine Schwester! Mit wem soll ich denn sonst darüber sprechen. Wenn sie ihre Anfälle gehabt hatte, war sie besonders unnahbar. An anderen Tagen konnte man wenigstens mit ihr sprechen. Niemals aber zeigte sie auch nur ein Fünkchen Mitleid oder Herzlichkeit. Nie habe ich ein Gefühl an ihr bemerkt. Und wenn sie schon einmal ein freundliches Wort über die Lippen brachte, doch, das kam vor, eine Geste, die von Herzen kam, habe ich an ihr nie gesehen. Sie mochte es nicht, ja sie hatte geradezu einen körperlichen Abscheu davor, berührt zu werden. Einmal habe ich versucht, sie zu umarmen, sie festzuhalten, sie mit Küssen zu erobern: Schwester, Schwester, vor mir brauchst du dich doch nicht zu fürchten! Elektra aber wehrte sich, angewidert drehte sie ihren Kopf zur Seite, sie stieß mich zurück und rannte wie eine Rasende aus dem Haus. An diesem Tag bekam sie einen besonders heftigen Anfall. Man fand sie im nahegelegenen Wäldchen, völlig nackt, wie sie immer und immer wieder versuchte, sich eine Wurzel in die Scheide zu stoßen. Da siehst du es, sagte die Mutter zu mir, was hast du nur wieder angerichtet. Oh Gott, was ist das nur, das in unserer Familie wütet wie ein Furor. Hört denn das niemals auf? Brennt, mordet es in uns immer weiter? Von Generation zu Generation? Gibt es denn keine Rettung? Keinen Ort, an dem wir in Ruhe leben können? Holt es uns immer wieder ein? Wohin wir auch fliehen mögen, an welche Küsten es uns auch verschlägt? Rast der Fluch, der auf unserem Hause lastet seit der wahnsinnigen Überhebung des Tantalos, seit der meuchlerischen Mordtat seines Sohnes an dem Hermessproß, seit dem bestialischen Bruderzwist seiner Enkel um Macht und Besitz, rast der Fluch fort und fort in unserem Hause, daß es immer nur Mörder zeugt, Verräter, Blutschänder? Das muß doch endlich einmal aufhören. Es muß endlich ein Ende haben. Es darf nicht mehr so weitergehen. Argos, Heimat, gefürchtetgeliebtes Land, meerumschmeichelte Gestade, Burgen in klüftendem Gefels, tummelnde Rosse auf duftiggrünen Auen, Zypressenhaine und rankende Reben an den schlanken Stämmchen der Ulmbäume, heilige Heimat, soll ich in der Fremde mein Leben lassen, ohne dich jemals wiederzusehen? So oft kam ich zu dir über die unendliche Wüste des Meeres auf den leichtgebauten Brücken, die der Gedanke schlägt, die Sehnsucht, das Erinnern. Brachte ich nicht jedesmal Schmerz zurück mit mir, Schmerz und Trauer. Aber doch Freude auch. Auch Freude. Schlug nicht mein Herz bei jedem Segel, das am Horizont auftauchte? Dürstete ich nicht, wie ein ausgebranntes Feld nach dem Regen dürstet, nach Botschaft aus der Heimat. Setzte ich mir nicht alles, was ich in Erfahrung bringen konnte, zu einem Bild zusammen, zu einem heiligen Mosaik, das in der Krypta meines Herzens schimmert. Oh ich weiß mehr als manche andere. Und nun kommst du, und ich bin hilflos und weiß nicht mehr, was ich tue. Wie soll ich mich entscheiden? Ich werde mit Thoas sprechen müssen. Es wird nur von mir abhängen, welchen Ratschluß das Schicksal nehmen wird. Thoas liebt mich. Er hat mir sein Königreich zu Füßen gelegt. Er wird mir keine Bitte abschlagen. Nicht einmal die Freiheit würde er mir versagen, so bitter ihm das auch werden mag. Thoas ist ein guter Mann. Wir könnten Kinder haben und miteinander alt werden. Es wäre gut für den König. Es wäre gut für das Land. Wie viel Gutes könnte ich wirken, indem ich meinen nicht zu leugnenden Einfluß auf die Politik geltend machte. Vielleicht wäre es auch das beste für mich. Warum zögere ich, der nachdrücklichen und dauerhaften Werbung des Königs nachzugeben? Welche Frau in meiner Lage würde sich lange besinnen. Thoas ist großmütig und edel. Er würde mich niemals enttäuschen. Wie oft hat er mir angeboten, ein Schiff auszurüsten, um für mich auf dem Rücken des Meeres eine Straße zu bauen in die Gefilde der Heimat. Was war es, das mich dieses Angebot ausschlagen ließ. Wieder und immer wieder. Wo war ich die ganze Zeit? Es kommt mir vor, als habe ich nicht gelebt. Als hätte ich all die Jahre in einem finsteren Verlies zugebracht, wartend, schlafend, träumend. Es war ja nicht die Liebe zu Thoas, die mich auf dieses ungastliche Eiland bannte, das sich mir freundlich öffnete. Nicht einmal die Dankbarkeit hätte mich hier festhalten können. Warum sind all meine Lebensfäden so verworren? Warum kann ich nicht auch einmal so sein wie andere Menschen? Entscheide dich, Iphianassa. Ach, es gibt ja nichts zu entscheiden. Es mußte alles so kommen. Im Grunde meines Herzens wußte ich es längst. Es war ja schon alles unwiderrufbar festgeschrieben, noch bevor wir das erste Wort sprechen, den ersten Gedanken denken konnten. Was soll ich tun? Was ist mein Schicksal? Morgen früh werde ich vor den König treten müssen, und er wird mich um Auskunft anrufen, welch ein Urteil die Göttin in diesem Falle gnädig getroffen hat. Ich werde seine fragenden, hoffnungsfrohen Blicke aushalten, und ich werde ihm sagen, was ich sagen muß. In dieser Nacht träumte ich das dritte Mal von jener weißen Hirschkuh. Sie erschien mir im Glanze ihrer Herrlichkeit, wie eine Göttergestalt, und sie sprach zu mir: Kehre um, Iphianassa, du sollst dein Vaterhaus entsühnen. Ich muß dir diese Enttäuschung zufügen, Thoas, bitte, fordere keine Erklärungen. Es ist der Wille der Gottheit. Wir müssen uns beugen. Der Ruf, der mich heute erreicht hat, kommt von ganz weit her. Es ist ein Ruf aus der Tiefe, zu der menschliches Begreifen keinen Zugang finden kann. Es ist die Stimme der Gottheit. Es ist größer als wir sind, und unser Hoffen und Tun auf Erden, größer als alle Macht und Gewalt der Menschen. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich muß es tun. Trotzdem.



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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