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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Schnee
© Monja Printz-Lange
Die Flocken wirbelten vor ihrem Gesicht. Es war ein wunderschöner Februarmorgen. Die Bäume waren bereits weiß und bogen sich unter der Last des vielen Schnees und immer noch schneite es weiter. Sie hielt ihr Gesicht in die kalten und doch fast liebkosend wirkenden Wirbel aus Eiskristallen. Ihr rotes langes Haar war, bis auf den Teil, der unter einer Mütze steckte, bereits voll mit Flocken. Auch auf ihrem Mantel ließen sie sich nieder, doch durch ihre Drehungen und Sprünge fielen sie wieder von ihr ab und landeten
stumm auf dem Boden. Es knirschte unter ihren Schuhen, wenn sie einen Schritt machte und ihr Herz lachte. Schnee! Der erste in diesem Jahr und es war schon Ende Februar. Aber wenigstens noch rechtzeitig genug, denn es war schon lange kalt gewesen und es roch auch noch nicht nach nahendem Frühling, sodass man enttäuscht war, dass der Winter noch nicht vorüber war. Schnee! Eigentlich sollte sie jetzt in ihrem Auto sitzen und in ihre Firma fahren, aber da war diese weiße wunderschöne Magie hier draußen und sie fühlte
sich mit einem Male wieder wie ein kleines Kind. Sie bückte sich und formte einen Schneeball.
Er trat aus der Haustür. Leise fluchend, weil er dem Wettermann im Fernsehen keinen Glauben geschenkt hatte und nun wahrscheinlich wieder viel zu spät kommen würde. Nicht das erste Mal in diesem Monat. Da traf es ihn. Völlig unerwartet und mitten zwischen Mantelkragen und Kinn. Eiskalt lief der an seiner warmen Haut sofort schmelzende Schnee am Hals hinunter auf seine Brust. Ein Schauer überlief ihn, erschreckend und doch erregend, eben weil es ihn so unvorbereitet getroffen hatte. Er wollte schimpfen und schreien,
hob vorher jedoch den Blick. Da stand sie, zwischen den wirbelnden Flocken, lachend, mit Schnee in den Haaren und im Gesicht. Ihre Hände waren rot vor Kälte und da war schon der nächste Ball. Sie zielte und traf, dann rannte sie los. Er konnte das Gefühl in seinem Herzen nicht beschreiben, aber es war schön und befreiend. Er warf seine lederne Aktentasche auf den Boden und rannte, so schnell es ihm in seinen Lederschuhen möglich war, hinter seiner Frau her.
Er rutsche aus und rief ihren Namen. Sie drehte sich zum ihm um und sah in fallen. Immer noch lachend kam sie auf ihn zu. Er lag zwischen dem kalten weißen Schnee, der ihn umgab wie ein Federbett. Sein schwarzes Haar war der perfekte Kontrast zu dem unberührten Weiß der Natur. Und in seinem Gesicht sah sie seit langer Zeit einmal wieder den jungen Mann, den sie kennen und lieben gelernt hatte. Er grinste und sein leicht schiefer Mund zeigte eine Reihe weißer Zähne, die mit dem Schnee um die Wette strahlten.
Er flüsterte ihren Namen und streckte eine Hand nach ihr aus, zog sie zu sich hinab. Ihre Lippen fanden sich. Er konnte den Schnee in ihrem Kuss schmecken und spürte durch seinen Mantel die Kälte ihres Mantels, der schon viel länger als er im Schneegestöber gestanden hatte. Doch nur kurz, dann wurde ihm warm. Vom Küssen und von der ihr eigenen Wärme. Sie machte sich los. Fordernd blickte sie ihn an. Da drehte er sich um und sie fiel neben ihn. Der kalte Schnee, den er in ihr Gesicht rieb, ließ ihre Wangen rot
werden und nahm ihr den Atem. Und doch musste sie lachen, lachen über ihn und sich, wie zwei Kinder. Er fiel in ihr Lachen mit ein und ließ sich neben sie fallen, locker und leicht wie der Schnee um sie herum. Die Kälte nicht spürend, nur das sanfte Prickeln der immer noch auf ihren Gesichtern landenden Flocken. Sich an den Händen haltend liefen sie ins Haus. Küssten sich erneut, er strich ihr den Schnee aus dem Gesicht und schaute in ihre klaren Augen. Unbesorgt und unbeschwert war ihr Blick. Das Glück des Augenblicks
genießend. Sie zog ihn mit sich, zurück ins das warme und noch nach ihnen riechende Schlafzimmer. Sanft schlossen sich ihre Arme um seinen Nacken und sie gab sich ganz dem Gefühl hin, glücklich und geborgen zu sein. Er schaute noch einmal in ihr Gesicht und er fühlte sich zufrieden, begehrt und frei von allen Zwängen. Er strich das Büro und den Alltag aus seinen Gedanken und begriff, dass es diese seltenen Momente waren, die das Leben lebens- und liebenswert machten.
Sie wachte auf. Es hatte tatsächlich geschneit, wie der Wettermann es gesagt hatte. Sie musste sich beeilen, wenn sie es rechtzeitig in die Firma schaffen wollte. Schnell huschte sie ins Bad. Sie musste ihn wecken, sonst kam er auch zu spät. Er würde über den Schnee schimpfen, passte nicht in seinen Kram, wie so viele Dinge in letzter Zeit.
Sie zog sich an und weckte ihn. Dann kochte sie Kaffee, hörte, wie er ins Bad ging.
Sie spürte die wohltuende Wirkung des Koffeins und schaute verträumt auf die weiße Landschaft vor ihrem Fenster. Mit einem Male packte sie eine solche Lust, das Leben zu spüren, den Schnee und die Kälte. Sie zog sich an, setzte ihre Mütze auf, die er früher einmal so niedlich gefunden hatte und trat hinaus in den Schnee. Es knirschte unter jedem ihrer Schritte und die ersten Flocken ließen sich auf ihren Haaren nieder. Wie tanzende kleine Wirbel umkreisten sie sie, hüllten sie ein. Das Treiben über ihr ließ
den Himmel verschwinden, verwischte die Konturen und machte sie schwindelig, ja berauschte sie. Frei, frei wie ein Vogel oder wie solch eine kleine Flocke. Da hörte sie wie er die Haustür schloss. Sie musste lächeln, bückte sich und formte einen Schneeball ...
Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.