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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Gottesdienst

© M. A. Obrecht


Zwei Frauen widerfuhr eine seltsam wunderliche, wenn nicht zutiefst schockierende Erfahrung. Unweit eines Feldwegs auf einem Acker in unmittelbarer Nähe des Flughafens - es war März - beobachteten sie einen Mann, der unbeweglich mit hängenden Armen dastehend zur Landung anschwebende Flugzeuge beobachtete oder zu beobachten schien.
Jana wohnte, nach der Trennung von ihrem Freund, wieder bei der Mutter. Sie hatte sich festen Willens einem neuartigen Diätprogramm untergeordnet und in den letzten Monaten zwanzig Kilo abgenommen.
Sie hielt inne.
Der Mann erinnerte sie an eine von Stürmen zerzauste Vogelscheuche. Er trug einen schwarzen oder tiefblauen Anzug, neben ihm ein Aktenköfferchen. Sie zog sich die Wollmütze tiefer in die Stirn. Ihre Mutter, die zunächst weiter gegangen war, blickte zurück.
"Komm."
"Warte", rief sie Manuela, ihrer Mutter, zu.
Von Osten her schwebten unablässig Flugzeuge der Landebahn zu.
"Komm, es ist kalt. Gehen wir weiter."
"Psst. Sei still."
Manuela war mit der Bitte ihrer Tochter, wieder nach Hause zurückzukehren nicht einverstanden gewesen, hatte es jedoch nicht übers Herz gebracht, den Wunsch abzuschlagen.
Wolken aus Glas schwanden in der Märzluft.
Jana fühlte ein Ziehen im Unterleib, etwas Pressendes, Bauchweh, ein Krampf. Ist das ein Geschäftsmann?, dachte sie. Das Ganze kam ihr komödiantisch und zugleich beunruhigend vor. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre schlimmsten Befürchtungen, einer durch die Ereignisse der letzten Jahre und Jahrzehnte genährten Phantasie-, Sensations- oder vielmehr Angstbereitschaft geschuldet, mochten noch so absurd sein ... ganz von der Hand zu weisen waren sie nicht. Meistens passierte ja nichts, zumindest war man nicht selber involviert. Aber man wusste nie.
Sie hatte einen Kloß im Hals.
Es war sehr windig.
Die Flugzeuge, dachte sie, die vielen Menschen in den Flugzeugen. Noch gelähmter war sie am Morgen dieses Tages gewesen, als sie aus einem Albtraum erwachte, sich des Standortes ihres Betts nicht mehr sicher (einen endlos langen Augenblick hatte sie geglaubt, sie liege in Knuts Bett in der alten Wohnung, die Trennung habe es nie gegeben). In diesem Traum war etwas Unvorstellbares geschehen. Ein großer See verlor alles Wasser, lief aus wie eine Badewanne, und auf dem Seegrund verendeten zuckend und bebend Abermillionen Silberfische. An diesen Traum dachte sie jetzt, nahm ihn als Vorzeichen dessen, was in den nächsten Minuten passieren könnte. Ein Terroranschlag auf eines der landenden Flugzeuge.
Der Mann auf dem Ackergrund streifte das Anzugoberteil ab und ließ es mit einer eleganten, flüchtigen Bewegung fallen, was nur um so verdächtiger war und sie in der Annahme bestätigte, sie wohne einem abgekarteten Spiel bei, hier ginge es nicht mit rechten Dingen zu.
Alles nur Verkleidung, zischte es ihr durch den Kopf.
"Manu, schau."
Vielleicht meditiert dieser Typ, mentale Energie sammelnd, ein Fakir, bevor alles in die Luft fliegt, dachte sie.
Manuela trat zu ihrer Tochter, ohne sie anzusehen. Vielmehr musterte die Mutter den Mann, der sich inzwischen bis auf die nackte Haut auszogen hatte.
So splitternackt stand er im Wind. Er breitete die Arme aus, als winke er einem in der Ferne zur Landung ansteuernden Flugzeug. Beide Frauen glaubten undeutlich, den Mann energisch summen zu hören.
"Er friert."
"Aber er schlottert nicht."
"Manu, gib mir eine Zigarette."
"Sollte man es für möglich halten."
Der Mann schien ein Ritual auszuführen, weder die Frauen noch einen auf einem anderen Feldweg in größerer Entfernung herantuckernden Bauern beachtend. Seine Armbewegungen zeichneten Kreise, Sonnen, etwas Ganzheitliches.
"He, Sie da, was machen Sie da?", rief Manuela.
"Psst, ganz ruhig, Manu, ruhig."
Der Mann ließ sich nicht beirren. Der Bauer auf dem Traktor schien von der Szene keine Notiz zu nehmen, bog hinter ein Wäldchen und war im Nu verschwunden.
Die Trennung von Knut hatte ihre Tochter verunsichert, ja, wenige Monate nach der Rückkehr zu Manuela verlor sie im Zuge von Umstrukturierungsmaßnahmen den Arbeitsplatz. Manuela warf ihr vor, sich nicht genügend um eine neue Stelle oder wenigstens etwas Gleichwertiges zu kümmern. Oft kam es deswegen zum Streit. Sie hatte Knut verlassen, nicht er sie. Umso rätselhafter erschien der Mutter die stetig fortschreitende Isolierung und Vereinsamung der Tochter. Mehrfach hatte sie Jana zur Rede gestellt deswegen. Sie jedoch verstummte, wies die Mutter ab, vertiefte sich in Ernährungsfragen, las Zeitung, sah viel fern, während die Mutter ihrer Arbeit in einem Callcenter nachging.
Der nackte Mann, offenbar plötzlich von etwas gestört und zur Eile getrieben, holte aus dem Köfferchen eine Pistole hervor. In entgegengesetzter Richtung, aus einer Unterführung kommend, näherte sich auf einer asphaltierten Straße in mäßigem Tempo eine mit zwei Beamten besetzte Sicherheitspatrouille. Vor den Augen der beiden Frauen, diesen zum ersten Mal sich zuwendend, ohne ihnen noch die Chance zu geben, die Augen zu verschließen oder sich wegzudrehen, schoss sich der Mann in den Mund, fiel hintenüber auf die Erde, und er blieb regungslos liegen.
Jana spürte Stiche im Unterleib, ein plötzlicher Drang zu pinkeln überkam sie, und sie war fast ein bisschen stolz, nicht weggesehen, sondern dabei geblieben zu sein. Manuela suchte hilflos oder mechanisch nach der Zigarettenschachtel in den Taschen und beobachtete, in einen Zustand völliger Sprachlosigkeit versunken, die Patrouille, die in regelmäßiger, ruhiger Geschwindigkeit dem Toten sich näherte, über Funk bereits die weiteren notwendigen Alarmstufen auslösend, die bei sonderbaren Vorfällen im oder in unmittelbarer Nähe zum Flughafen vonnöten waren, zumal keine Gewähr bestand, ob die Szene nicht ein Ablenkungsmanöver darstellte, um etwas anderes, Bösartigeres, Öffentlicheres, vorzubereiten. Wie auch immer, die Kürze dieser Erzählung mag ein Beleg sein für die Feststellung: auf der Hut sein sei unser Gottesdienst.



Eingereicht am 23. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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