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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Wartezeit

© Bettina Wagner


"Willst du dich nicht ein bisschen hinlegen?" Die Schwester beugt sich über mich und sieht mich besorgt an.
Ich schüttle den Kopf. Meine Schwester ist da drinnen. Da kann ich doch nicht schlafen. Ich bin auch kein bisschen müde. Erschöpft vielleicht von der Aufregung und der Hetze, und verwirrt. Ja, das bin ich. Aber meine Augen zumachen könnte ich um nichts in der Welt.
Ich schaue immer wieder zu der großen Uhr am Ende des langen weißen Krankenhauskorridors. Halb zwölf! Wie lange das alles dauert!
Mir gegenüber sitzen meine Eltern. Sie starren auf den Boden. Mein Vater blättert in einer Zeitschrift und schmeißt sie gleich wieder hin.
Warten, warten, warten.
Worauf?
Darauf, dass endlich der Arzt kommt und uns sagt, wie es Michaela geht. Ob alles in Ordnung ist mit ihr. Oder ob -
Ich denke schnell an etwas anderes. An unseren Hund Rollo. Und ich denke: Hoffentlich lässt Opa ihn nicht aus dem Haus. Weil er nämlich immer wegläuft. Und dann müssen wir wieder die ganze Nacht lang nach ihm suchen.
Aber wir sitzen ja hier. Und außerdem ist Rollo im Augenblick gar nicht wichtig.
Nichts ist wichtig.
Und alles.
Jeder einzelne Augenblick.
Jeder Gedanke.
Und jedes Gefühl.
Ich stehe auf und gehe zum Fenster. Stockfinster ist es draußen. Nur die Sterne blitzen in der Dunkelheit. Die Sterne und ein paar erleuchtete Fenster hier und dort.
Aber das alles sehe ich gar nicht. Ich sehe nur das Gesicht meiner Schwester vor mir. Die blöde Gans! Wer lässt sich schon mitten in der Nacht von seinem Großvater einen Milchzahn ziehen? Niemand. Außer Michaela!
Im nächsten Moment tut es mir schon wieder Leid. Es war ja nicht ihre Schuld. Die Glastüre im Vorzimmer ist noch nie geschlossen gewesen. Noch nie, so lange ich denken kann.
Bis auf heute Abend.
Und heute Abend muss sie vor Aufregung wegen ihres Wackelzahns vergessen, Licht zu machen, und im Dunkeln weiterlaufen.
Und jetzt liegt sie da drinnen, auf einem großen, kalten Operationstisch, und dabei ist sie noch so klein. Viel kleiner als ich. Mir laufen die Tränen über die Wangen, aber ich wische sie nicht weg. Ich denke nur: Bitte, lieber Gott, lass sie wieder gesund werden. Lass sie nur wieder gesund werden.
Sie hat so schrecklich ausgesehen, als wir zu ihr hingelaufen sind. Nachdem wir ihr Schreien und das Klirren und Bersten der Glastüre gehört haben. Als ob sie von einem anderen Stern kommen würde, so rot und zerfetzt war sie.
Und sie hat uns aus großen, blutverschmierten Augen ängstlich angeschaut und immer wieder gefragt: "Muss ich jetzt sterben? Muss ich jetzt sterben?"
Ich halte plötzlich einen Knopf von meinem Mantel in der Hand. Ich muss schon die ganze Zeit über daran gedreht haben, ohne es zu bemerken.
Mechanisch stecke ich ihn in die Tasche. Und ich denke: Irgendwo da draußen dreht jetzt gerade jemand das Licht ab und legt sich schlafen. Irgendjemand, der nicht weiß, dass heute Nacht ein kleines Mädchen durch eine Glastüre gestürzt ist. Der überhaupt nichts von uns weiß.
Aber ich weiß es.
Und ich glaube, meine Schwester weiß auch, dass ich hier draußen bin und auf sie warte.
Dass ich ewig und einen Tag lang auf sie warten werde.
Und darüber bin ich sehr glücklich.



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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