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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Freiflug - Eine Neujahrsgeschichte
© Montalban
"Es gibt keinen Tod. Es gibt nur die Angst vor dem Tod - und die kann man heilen ...." (Martin Heidegger)
Ein makellos blanker Himmel überspannt den weiten Golf am südlichen Pelepones in einem Blau, das über mir ganz dunkel in den Weltraum schaut und zum Horizont hin sanft vom Schönwetterdunst in die Farbe von Vergissmeinnicht aufgehellt wird. Hoch in diesem Blau hängt eine strahlende Sonne, die für Temperaturen über zwanzig Grad sorgt, wenn der Wind nicht eine kühle Prise von den schneebedeckten Bergen herab bringt. In meinem dunklen Neoprenanzug, der jeden Sonnenstrahl in Wärme umsetzt, ist mir diese Abkühlung
aber hoch willkommen.
Seit fast zwei Jahren sind wir nun bereits mit unserem Segelschiff in Griechenland unterwegs und auch in diesem Winter haben wir uns mit unserem Schiff während der stürmischen Zeit in einem geschützten Yachthafen einquartiert.
Die ersten Tage im Januar lockten noch einmal hinaus auf´s Meer. Also habe ich vor einer halben Stunde beschlossen, das Neue Jahr auf dem Wasser zu begrüßen und habe dafür unser Beiboot, seemännisch "Dingi" genannt, segelfertig gemacht. Den Mast in die Halterung am Bug gesteckt, die Riemen seitlich ins Boot gelegt, das Schwert in seine Führung versenkt und das Ruder am Heck in seine Halteösen eingeführt. Dann das Luggersegel aufgezogen. Luggersegel sind die Nachfahren der ältesten Art der Besegelung,
die Menschen je erfunden haben. Schon vor vielen tausend Jahren haben Boote und Schiffe auf den Meeren und Seen im pazifischen Raum und in Vorderasien mit ähnlichen Segeln weite Strecken zurückgelegt. Auf dem Nil, auf Euphrat und Tigris und in vielen Gegenden Nordafrikas kann man sie auch heute noch häufig beobachten, wenn sie nicht von knatternden Motoren verdrängt wurden.
Leise gurgelt das Wasser am Heck - der einzige "Geschwindigkeitsmesser", den es an Bord meiner Nussschale gibt. Ansonsten ist die Ausrüstung auf einen Handkompass und ein Mobiltelefon in einer wasserdicht verschraubten Plastikbox beschränkt. Als Wegzehrung dazu eine Flasche Wasser, ein Schokoriegel und Zigaretten.
Der Wind ist leicht böig, sodass ich immer wieder meine Körperhaltung etwas ändern muss und die Schot des Segels ein wenig auslasse oder anziehe. Dies meist im Rhythmus der sanften Dünung aus südlicher Richtung, deren Hügel ich schräg hinauf und wieder hinunter fahre. Aufwärts das Boot etwas in die Welle steuere, abwärts die entgegen gerichtete Bewegung und das in steter, nahezu gleichmäßiger Abfolge der Bewegungsabläufe. Ein entspanntes Wiegen in den Atemzügen des Meeres.
Rasch entferne ich mich vom Ufer. Unser Dingi erhielt von der Werft in Norddeutschland auf unseren Wunsch hin ein vergrößertes Segel, sodass auch bei leichteren Winden eine annehmbare Geschwindigkeit erreicht werden kann. Ich sitze am Boden des Dingis auf dem warmen Mahagonigräting, um den Schwerpunkt tief zu halten. Außerdem kann ich mich so bequem in die Ecke zwischen seitlicher Bordwand und hinterer Sitzbank lehnen. Die eine Hand auf das Ruder gelegt, mit der anderen korrigiere ich die Schot des Segels. Langsam
überträgt sich angesichts der eigenen Winzigkeit und der Weite umher die Stimmung einer heiteren Verlorenheit auf mein Gemüt, das diese Stimmung wohlig aufnimmt und sich darin wie in einem bequemen Sessel zu räkeln beginnt.
Außer den sparsamen rhythmischen Bewegungen und dem weiten Blick über die Bucht gibt es in der wohltuenden Stille hier draußen keine Ablenkung und so wandern meine Gedanken zu einem anderen Neujahrstag mit ebenso gleißendem Himmel. Damals wurde die Sonne vom strahlenden Weiß einer frisch gefallenen Schneedecke reflektiert, die Temperaturen waren fast dreißig Grad niedriger - es war der erste Tag im Jahr 1980 hoch in den Bergen über dem bayerischen Chiemsee.
Am Vorabend hatten wir gefeiert. Der kleine Kreis der Drachenflieger hatte sich versammelt im Gastzimmer des "Marquardsteiner Hofs" unweit der Talstation, von der aus man mit dem Sessellift zur "Hochplatte", dem Hausberg Marquardsteins und der einheimischen Drachenflieger hinauffahren kann. Das Essen war deftig, das Bier floß reichlich und als ich mich mit meiner damaligen Freundin Gudrun nach dem allfälligen "Prosit!" auf den Beginn des Neuen Jahres um halb eins zurückzog, war die
Fete noch lange nicht zu Ende, die angeregten Gespräche noch immer in vollem Gange. Gesprächsthema: "Fliegen" natürlich. Flugmanöver, Flugreviere, Flugtechniken, Ausrüstung, Meteorologie, Zubehör, Drachenmodelle und was der scheinbaren Unendlichkeit des Themas noch an Gesprächsstoff abzugewinnen war. Aber der Wetterbericht für den nächsten Tag verhieß optimale Bedingungen und so hielt ich es wie früher beim Skifahren: Abends früh, oft als Erster, ins Bett, um morgens ab dem ersten Lifttransfer zur Bergstation
jeden der wenigen kostbaren Tage in vollem Umfang ausnützen zu können.
Zum Drachenfliegen war ich eher zufällig gekommen. Mein damaliger Freund Pit hatte die Idee eines Tages aufgebracht. Wir waren in jener Zeit fast jeden Tag zusammen. Machten Musik, fuhren mit alten Motorrädern durch die Gegend, schmiedeten Pläne und verguckten uns in diverse Mädels. Dass diese auch guckten, dafür waren zwei Gitarren, die Motorräder und ein VW-Bus ganz gut zu gebrauchen. Ich hatte mich als Resultat unserer Aktionen relativ schnell auf Gudrun festgelegt, Pit war weiterhin etwas ambivalent. Er absolvierte
eine Ausbildung zum Geigenbauer, ich arbeitete als Nachtwache auf der Intensivstation eines großen Krankenhauses. Zur Finanzierung der vielen Hobbies und Ambitionen fuhr ich nebenbei noch Lastwagen im Güternahverkehr und jobbte als Hilfsbuchhändler. Außerdem verfasste ich lyrische Texte, die sogar hin und wieder veröffentlicht wurden und war als "Meisterschüler" in freier Ausbildung bei einem renommierten Kunstmaler aus der Region, auch wenn ich damals nicht zu hoffen wagte, selbst einmal als Kunstmaler
beruflich Fuß fassen zu können. Eigentlich war mit all dem meine Zeit gut ausgefüllt.
Und nun Drachenfliegen. Ich konnte damals kaum einen Küchentisch besteigen, ohne von Schwindelattacken befallen zu werden. Und jetzt sollte ich mich viele hundert Meter hoch an einem Fetzen Stoff in den Himmel hängen? Meine Skepsis war so groß wie der Hausberg in Marquardstein hoch. Um die neue Idee näher zu erforschen, kaufte sich Freund Pit einen alten Flugdrachen aus der Flohmarktseite eines Anzeigenblättchens, schwang sich damit in die Lüfte, stürzte nach wenigen Metern ab und brach sich einen Zahn ab, was,
im Nachhinein betrachtet, als Omen für manches, was später passierte, gewertet werden muss. Ich tat, was ich in solchen Fällen oft tue: ich kaufte mir ein Buch. Das größte, dickste und teuerste, autorisiert vom "Deutschen Drachenfliegerverband".
Der Inhalt ließ auf weniger Gefahren schließen, als ich befürchtet hatte, auch wenn mich bereits beim Betrachten der bunten Photos im Buch Schwindelattacken ankamen. Im Anhang gab es eine Adressenliste der damals wenigen Schulen, die diesen noch jungen Sport hoffnungsfrohen Interessenten zu vermitteln versuchten. Ich setzte mich einen Tag lang ans Telefon, um zu erfahren, dass die meisten Schulen in unserer Nähe nebenberuflich von Lehrern, Bäckern und Studenten auf den Kuhweiden der schwäbischen Alb abgehalten
wurden. Nichts gegen Kuhweiden und nichts gegen die Schwäbische Alb - aber die Schilderung des Schulungsablaufs erschien mir dann doch in den meisten Fällen als "sehr provisorisch" - um es vorsichtig zu formulieren. Daher zog ich die Kreise meiner Recherchen etwas weiter und so landeten wir letztendlich, nachdem ich telefonisch beruhigend handfeste Ausführungen in breitestem Bayerisch erhalten hatte, bei "Schorsch" Steffel am Chiemsee. Schorsch war einer der Pioniere des Sports in Deutschland.
Neben Mike Harker, der jedoch zu dieser Zeit bereits, querschnittsgelähmt nach einem Absturz, in einer Rehabilitationsklinik unweit von Marquardstein lag, was wir aber damals nicht wussten und was uns auch Schorsch aus naheliegenden Gründen nicht auf die Nase zu binden gewillt war.
Also krabbelten wir im September 1979 jeden Morgen um sechs Uhr bei Sonnenaufgang aus unseren von Raureif überzogenen Schlafsäcken. Diese lagen auf der Wiese eines Campingplatzes am Chiemsee neben unserem VW-Bus. Im Halbschlaf löffelten wir Müsli mit warmer Milch, tranken heißen Kaffee und standen Punkt Sieben am "Übungshang", der, nicht anders als auf der Schwäbischen Alb, eine abschüssige Kuhweide war. Das braun- und dickfellige Rindvieh ließ sich aber in keiner Weise von unseren halsbrecherischen
Übungen beim Grasen und Wiederkäuen stören. Ab und zu landeten wir in einem dampfenden Kuhfladen, manchmal sogar auf einer Kuh, die sich dann bedächtig dem Unglückspiloten zuwandte und mit sonorem Brüllen gegen den Bodycheck protestierte. Stufenweise wurden wir trainiert, bis wir dank unseres Eifers und der sachkundigen Anleitung von Schorsch in Rekordzeit die oberste Kante erreicht hatten: Achtzig Meter Höhenunterschied. Da wir aber stets parallel zum Hang flogen, war die weiche Grasmatte beruhigender Weise
nie weiter als fünf bis zehn Meter unter unseren Füßen. Absprung, Gleiten, Aufsetzen. Zuerst nur wenige Meter, zuletzt aus achtzig Metern Höhe schon ein "richtiger Flug".
Nach zwei Wochen der entscheidende Tag: Erster Absprung von der "Hochplatte". Mehrere hundert Höhenmeter, Distanz bis zum hinter dem Vorgebirge versteckten Landeplatz mehrere Kilometer. An einem wunderschönen Tag nach eindringlicher Rekapitulation alles Gelernten und ernsten Ermahnungen von Schorsch rannten wir mit aller Kraft so schnell wie möglich eine roh gezimmerte Holzrampe hinunter und - flogen. Der Wind brauste an den dafür ausgesparten Löchern unserer Helme vorbei, wodurch wir ungefähr abschätzen
konnten, wie schnell wir flogen. Die Hände umklammerten die Basis des Lenktrapezes, das sich vor unserer Brust befand, weil Anfänger der Einfachheit halber auf einer Schaukel sitzend fliegen. Da das wegen des ungünstigen Luftwiderstands unbefriedigende Flugeigenschaften ergibt, fliegen alle erfahrenen Drachenflieger liegend. Ein System aus Seilen und Rollen erlaubt es, den Oberkörper nach einem "stehenden" Start mit einem Ruck durchs Trapez nach vorne "ins Nichts" zu werfen, wobei im gleichen
Augenblick die Beine über eine Umlenkrolle nach oben gezogen werden. Dieses Manöver erfolgt logischer Weise, wenn man bereits hoch in den Lüften schwebt und ist, zumindest die ersten paar Male, niemandem zu empfehlen, der durch Angstattacken oder Herzinfarktgefährdung gehandicapt sein könnte.
Selbstverständlich wollten wir auch so fliegen und nachdem wir die erforderlichen Übungsflüge mit der "Schaukel" absolviert hatten, rannten wir mit einem komplizierten Gurtsystem angetan, die auf und ab schwingenden Alurohre des Flugdrachens mit der bunten Stoffbahn über uns, die Startrampe hinunter, bemerkten "draußen" sehr schnell, dass uns in diesem Gurt gar nichts anderes übrig blieb, als uns nach vorne zu werfen und wurden dann im Lauf der weiteren Flüge bei kontinuierlich abnehmender
Herzinfarktgefährdung mit stetig länger werdenden Flugzeiten belohnt.
Und meine Höhenangst? Nachdem ich anfänglich zögernd zugestimmt hatte, die Fliegerei am Übungshang "ja mal ausprobieren" zu können, war die Angst vor der Höhe mit jedem Flug und mit jeder neuen Übungsstufe den Hang hinauf einem Vertrauen in das wachsende eigene Können und in die aerodynamische Stabilität des Fluggerätes gewichen. Nicht dass da keine Angst mehr vorhanden gewesen wäre. Aber die Lust, durch die Luft zu fliegen und die wachsende Sicherheit durch fliegerische Erfahrung hielten die Angst
in nützlichen Grenzen. "Nützlich", weil nur diese Angst einen davon abhält, sich aus mangelnder Umsicht ohne Not in Gefahr zu bringen. Freund Pit, etwas draufgängerischer veranlagt wie ich, lieferte in jener Zeit einige teilweise spektakuläre Beweise für die Richtigkeit dieser These.
Nach einem regnerischen Herbst war nun ein Häufchen von Enthusiasten über den Jahreswechsel wieder in Marquardstein zusammen gekommen. Schon am Vortag waren einige Flüge absolviert worden, dann zog der Himmel zu, es begann zu schneien und wir hatten uns in die gemütliche Bauernstube des Marquardsteiner Hofs zur Silvesterfeier verzogen.
Am nächsten Morgen erwachte ich kurz vor acht. Neben mir schlief Gudrun, noch friedlich eingemummt in das schwere Federbett. Aber durch die Vorhänge strahlte ein offensichtlich herrlicher Tag. Leise stand ich auf und vergewisserte mich bei einem Blick durch den Vorhangspalt, dass über dem gleißenden Neuschnee eine strahlende Sonne glänzte. Ebenso leise zog ich mich an, Gudrun murmelte eine Frage, die ich mit irgendwas wie "Nur mal rausschauen" beantwortete und dann saß ich in der Stube des ansonsten
noch schläfrig stillen Gasthofs und genoss den Milchkaffee mit Wurst-, Käse- und Marmeladensemmeln.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass vielleicht schon jemand von meinen Sportsfreunden auf den Beinen sei. Aber auch nachdem ich das Frühstück in aller Ruhe beendet hatte, schien der einzige wache Mensch im Gasthof die Küchenhilfe, die mir das Frühstück serviert hatte und jetzt das Gedeck wieder abräumte. Also zog ich meinen dick wattierten Anorak an und ging nach draußen. Ein traumhafter Wintertag empfing mich. Gewohnheitsmäßig prüfte ich den Windsack, der über dem Hof als Service für die Fliegergäste aufgehängt
war. Auf der Hochplatte mussten ideale Bedingungen mit gemäßigten Aufwinden herrschen. Ich schaute mich noch einmal um, aber an keinem Fenster rührte sich etwas, das Haus lag weiterhin in tiefem Schlaf.
Kurz entschlossen holte ich meinen Drachen aus einer nahegelegenen Scheune und wuchtete ihn auf den Gepäckständer meines alten Mercedes-Diesels, die übrige Ausrüstung war bereits im Kofferraum des Wagens verstaut. Nach einer Vorglüh-Minute sprang der Motor trotz der klirrenden Kälte an und ich fuhr die kurze Strecke hinauf zur Talstation der Sesselbahn. Es war mittlerweile kurz vor neun Uhr und im Steuerstand des Lifts hatte sich trotz des Neujahrstags pflichtbewusst ein Liftführer postiert. Ohne Hast nahm ich
meinen Drachen vom Auto, suchte Gurt, Fallschirm, Handschuhe und Helm aus dem Kofferraum zusammen. Noch immer lugte ich mit halbem Auge die Straße nach Marquardstein hinunter, ob nicht doch noch ein zweiter Frühaufsteher in Sicht wäre, aber weit und breit war da niemand außer mir und dem Mann am Lift. "Ist schon einer oben?" frage ich ihn hoffnungsvoll. "Na, bist heit dar Erste". Er beginnt, mir zuvorkommend einen Sessel auf der noch stehenden Bahn abzukehren, wir wuchten den Drachen in die
seitlich angebrachte Halterung und ich setze mich, meine Ausrüstung auf den freien Sitz neben mir platzierend. Abknipsen einer Fahrt auf der Zehnerkarte und dann verschwindet der einzige wache Mensch hier oben im Maschinenraum.
Wenig später schwebe ich hoch über den Tannen der Vorberge über eine lautlose, blendend weiße Landschaft fünfhundert Höhenmeter nach oben. Hinter mir das weite Tal des Traunsteiner Landes, vor mir das Bergmassiv, auf dessen Halbhöhe die Hochplatte einen idealen Startplatz bietet. Das Schnarren der Liftseile in den Führungsrollen ist das einzige Geräusch, und auch das nur, wenn ich einen der hohen Masten passiere. Die Bergstation kommt in Sicht. Kein Mensch ist zu sehen. Irgendwie hatte ich erwartet, dass da wenigstens
der Betreiber der kleinen Imbissbude oder sonst ein Einheimischer wäre. Die Auskunft "Der Erste" hatte sich also nicht nur auf das Fliegervölkchen bezogen, sondern ganz allgemein auf jedes lebende Wesen auf zwei Beinen.
Ich packte meine zu einem Paket zusammengehakte Ausrüstung, sprang ab und hob schnell meinen Drachen aus dem seitlichen Transportkorb, bevor ihn mir der Lift wieder talwärts entführen konnte. Wie ich wusste, war das schon einige Male passiert, wenn sich etwas verhakt hatte, oder der Flieger-Transporteur einfach nicht behände genug agierte. Mein Liftsessel schwang noch um das große Umlenkrad an der Kehre und verschwand wieder talwärts, während ihm lauter blank gefegte Sessel folgten. Aha, meine Fahrt war gleich
für die erste Servicearbeit des Tages genutzt worden. Ein paar Minuten lief der Lift noch weiter, dann waren anscheinend alle Sessel vom Neuschnee befreit und der Lift stoppte wieder.
Jetzt war es erst wirklich still. Ich trug mein Gepäck zu einem schneefreien Fleck neben dem Blockhaus der Imbissbude, zündete mir eine Zigarette an und begutachtete die Lage. Der Startplatz und die Rampe waren bedeckt mit einem halben Meter puderigen Neuschnees, der in Wolken bei jedem Schritt zur Seite stob. Ich kletterte zum höchsten Punkt der Absprungrampe. Ein steter sanfter Wind kam mir bergwärts entgegen, die Windsäcke an verschiedenen Stellen des Starthangs bestätigten seine ideale Richtung. Außer dem
leichten Rauschen dieses Windes in den Bergwäldern tief unter meinem Standort war auch weiterhin kein Laut zu hören. Auch der Sessellift blieb still. Die Zigarette war ausgeraucht, also nahm ich einen Besen und eine Schneeschaufel, die neben dem Blockhaus lehnten und räumte einige Quadratmeter des Startplatzes frei. Dann einen Weg zur Startrampe und die Startrampe selbst.
Ich begann, meinen Flugdrachen aus dem Transportsack zu nehmen und sorgfältig aufzubauen. Nachdem auch das geschehen war, und ich jede bewegliche und gesteckte Verbindung noch einmal nachgeprüft hatte, trug ich den Drachen vor die Startrampe und holte Gurtzeug und Helm. Noch immer wartete ich darauf, dass sich der Sessellift in Bewegung setzte, um anzuzeigen, dass ein weiterer Flieger heraufschwebte, aber es rührte sich nichts hier oben, außer ein paar Bergdohlen, die ohne Flügelschlag über einem "Kogel"
der Vorberge schwebten und anzeigten, dass sie dort von einem gleichmäßigen Aufwind getragen wurden. Beste Flugbedingungen also, aber noch immer zögerte ich. Bisher waren stets andere, erfahrene Flieger da gewesen, wenn ich gestartet war und ich hatte mir immer gerne ihre Meinung über die Flugbedingungen und die beste Route abgeholt. Außerdem war uns für den Fall eines Fehlstarts stets angeraten worden, wenn immer möglich nur zu starten, wenn andere Flieger dabei sind. Aber der Lift blieb still und die Flugbedingungen
waren nun mal optimal.
Also legte ich sorgfältig das Gurtzeug mit dem Notfallschirm an, überprüfte seinen optimalen Sitz und hakte es dann am Drachen ein. Jetzt kam nur noch, wie vor jedem Start, die "Liegeprobe": Der Drachenpilot hängt sich wie beim Flug in den Drachen und prüft nochmals alle Halteschäkel und den einwandfreien Sitz des Gurts.
Danach hing ich unschlüssig in der Hocke unter meinem Drachen. Noch eine Zigarette. Du hast das gelernt und geübt, du hast über fünfzig Flüge von der Hochplatte hinter dir. Ja doch, mit dem neuen Liegegurt sind´s erst acht, aber die liefen doch sauber. Du kennst das Gebiet und die Wetterbedingungen sind optimal.
Und wenn beim Start was schief geht? Ein Stolpern beim Lauf über die Rampe und ich konnte mehrere hundert Meter weit am fast senkrechten Hang unterhalb der Startrampe hinabstürzen. Bedingt durch meine Arbeit im Krankenhaus durchwanderten alle Gefahren von schweren Knochenbrüchen bis zur Querschnittslähmung sehr plastisch meine Vorstellung. Wenn etwas schief ging, war weit und breit niemand, der mir helfen konnte. Dann darf eben nichts schief gehen. Du hast alles sorgfältig gecheckt und fühlst dich fit und du
wirst dich beim Start voll konzentrieren. Außerdem hast du immer noch den Rettungsfallschirm. Ganz widersprüchliche Gefühle zwischen Ängstlichkeit, Abenteuerlust und Vorsicht lieferten sich in meinen Überlegungen eine erregte Diskussion.
Selbstbewusstsein war in jenen Jahren nicht meine stärkste Tugend und als Draufgänger hätte mich ganz sicher auch niemand bezeichnet. Vielleicht war es die schwere Erkrankung in meiner Kindheit, vielleicht das streng-besorgte Elternhaus, vielleicht auch zwei deutlich ältere Geschwister, die in meinen Augen stets den Anschein erweckten, immer alles besser zu können, was in meiner Kindheit und Jugend zu einer sehr zurückhaltenden Selbsteinschätzung beigetragen hatte. Es schien mir damals immer angeraten, dass ich,
bei in meinen Augen recht beschränkten Fähigkeiten, sehr vorsichtig agierte. Das hatte mir unter anderem einen Beruf eingebracht, der zwar sicher war und in dem ich erfolgreich arbeitete, aber in dem ich mich trotzdem nicht sonderlich wohl fühlte. Und es hatte mir, Gegensätze ziehen sich bekanntlich an, den vor Selbstbewusstsein strotzenden Pit als Kameraden eingebracht. Pit mit seinen langen blonden Locken und dem bubenhaften Charme war der Held von uns beiden. Er spielte am besten Gitarre, fuhr am schnellsten
Motorrad, flog die gewagtesten Manöver mit dem Drachen. Ich organisierte viele unserer Unternehmungen und finanzierte sie auch oft, blieb ansonsten aber eher im Hintergrund und eigentlich war ich damit auch ganz zufrieden. Das Leben schien etwas aufregender und bunter zu sein, seit ich mit Pit unterwegs war. Es schien, dass uns gemeinsam mehr Interessantes einfiel, als in der Zeit vorher - zumindest vermutete ich, dass es mehr war, als mir alleine eingefallen wäre.
Jetzt hockte ich etwas verunsichert auf der Hochplatte unter meinem Drachen. Kein Pit flog wagemutig voraus, keine versierteren Flieger, deren "o.k." ich hätte einholen und nach deren Meinung ich mich hätte richten können. Nur mich gab es. Meinen Drachen, den ich geprüft hatte, mein neues Gurtzeug, meine bisherigen Erfahrungen beim Fliegen in diesem Gelände. Und mich. Trau dich! Du hast alles geprüft, die Bedingungen sind optimal. Die Lust auf diesen Alleingang gewann in meinen Gefühlen immer mehr die
Oberhand über alle vorgeschobenen Bedenken.
Entschlossen stand ich auf, federte noch ein paar Mal in den Knien, um die Beine für den Startlauf beweglich zu machen. Dann kletterte ich auf die Startposition der Absprungschanze. Noch einmal ein prüfender Griff an die Gurte, ein letzter Blick auf die Windfahnen, ein kurzes Scharren mit den Füßen, um eventuelle Schneereste von den Schuhsohlen zu entfernen. Dann ein tiefer Atemzug wie vor einem Tauchgang ins Wasser - ich rannte entschlossen und mit aller Kraft die Startrampe hinunter, der Leere an ihrem Ende
entgegen. Ich spürte, wie sich der Drachen von meinen Schultern hob und mir im Auftrieb die Füße von der Rampe zog, sodass die letzten Schritte bereits ein Strampeln in der Luft waren.
Dann flog ich. Es war ein guter Start gewesen. Ich war, soweit ich das bei einem raschen Blick zur Seite beurteilen konnte, gleich nach dem Start vom Aufwind erfasst worden. Jetzt stand die Bewegung an, die mir das Herz im Hals pochen ließ: Noch immer hing ich senkrecht in meinem Gurtzeug, also warf ich mich mit einem energischen Ruck meines Oberkörpers durch das Dreieck des Lenktrapezes nach vorn, die Füße wurden nach hinten weggezogen und mein Körper kippte in die Waagerechte mit einer leichten Neigung nach
unten, um der anströmenden Luft so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Die Sekunde bis der Fall nach vorn durch einen Stopperknoten abgebremst wurde, rang mir noch immer fast selbstmörderische Entschlossenheit ab, bevor ich diese Aktion einleitete.
Aber nun lag ich im Gurtzeug auf dem Bauch, bekam vor der Brust die Basis des Lenktrapezes zu fassen, rückte mich noch einmal zurecht und schaute mich um. Ich flog so hoch wie noch nie bei früheren Absprüngen. Nachdem ich etwas zu Atem gekommen war, war mir danach, vor Glück irgendetwas heraus zu schreien, aber der lautlose Flug über die makellos verschneite Landschaft ließ mich still bleiben. Ruhig bewegte sich mein Drachen durch die klare Luft. Keine Thermik löste sich von dem gleichmäßigen Weiß der Landschaft
ab, um plötzlich in meine Flugbahn zu wirbeln, keine überraschende Bö von der Seite ließ den Drachen aus seiner Bahn kippen.
Vor mir kamen die Dohlen über dem vorgelagerten Kogel in Sicht. Ich näherte mich, was die Vögel in keiner Weise zu irritieren schien. Am Zug des Gurtzeugs spürte ich nun, dass ich immer mehr aufwärts getragen wurde, statt stetig zu sinken. Ich reihte mich in die Runde der kreisenden Vögel ein, die mich neugierig musterten und gelegentlich heißere Schreie ausstießen. Ich versuchte, ihre Schreie zu imitieren - irgendwie kam in mir ein kameradschaftliches Gefühl zu den Tieren auf und ich fand es passend, ihre Zurufe
nicht unerwidert zu lassen. Unter uns blieb der Kogel in der Tiefe zurück, was mich zuerst etwas erschreckte, vor allem als ich bemerkte, dass ich mich fast wieder auf die Höhe meines Startpunktes "hinaufgeschraubt" hatte. Ich lenkte meinen Drachen aus dem Kreis der Vögel in Richtung des weiten Tals. Unter mir kam der Landeplatz in Sicht. Ich schaute zurück zum Kogel und machte, bereits weit über dem Tal fliegend, eine entschlossene Kehrtwendung. Die Spitze des rechten Flügels sackte nach unten, während
sich die linke hoch über mich erhob. Ich zog etwas am Trapez, um die Geschwindigkeit zu erhöhen, damit ich in der steilen Kurve keinen Strömungsabriss am inneren Flügel provozierte.
Dann flog ich wieder dem Kogel entgegen. Immer noch kreisten die Dohlen und ich schloss mich wieder ihrer Runde in der Aufwärtsspirale an. Wieder wurde die Nase des Drachens scheinbar nach oben gehoben und das Steigen weit über die Spitze des Kogels hinaus begann. Dieses Mal erschreckte mich der plötzliche Gewinn an Höhe nicht mehr und ich spielte lachend mit den Dohlen, umkreiste sie, wie sie mich umkreisten, hielt die Höhe, stieg weiter auf oder tauchte mit brausender Geschwindigkeit in einem leichten Sturzflug
zwanzig oder mehr Höhenmeter ab, um mich danach wieder nach oben tragen zu lassen. Ein prickelndes Glücksgefühl, das mich wie einen Ballon aufzublasen schien, schien mir zusätzliche Auftriebskräfte zu verleihen. Nie zuvor war einer meiner Flüge so lang, mit so viel Höhengewinn und doch so unbeschwert spielerisch geraten.
Langsam begann sich aber trotz der Sonne die eisige Kälte des Wintermorgens durch meine Handschuhe und durch die dünneren Teile meiner Kleidung zu beißen. Ich wusste, dass es Zeit wurde, den Flug zu beenden, bevor meine Gelenke klamm und steif wurden. Als ich noch einmal deutlich oberhalb der Hügelspitze segelte, bog ich mit einem langgezogenen Schwung ab in die Richtung, in der ich den Landeplatz wusste. Da dieser am Ortsrand von Marquardstein gelegen war, flog ich in einer weiten Runde über das Dorf, nachdem
ich vorher aus meiner Höhe mit zusammengepressten Augenlidern einen Blick auf die weiß-rot gestreiften Windanzeiger tief unten am Landeplatz geworfen hatte, um die genaue Richtung meines Landeanflugs zu bestimmen. Klein lag die Ansammlung der Dächer des Dorfes unter mir, die Straßen, ein paar Autos, einzelne Menschen waren inzwischen unterwegs. In weiten Kreisen baute ich die restliche Flughöhe über den flachen Feldern hinter Marquardstein ab, mit den letzten Höhenmetern noch einmal ein Flug über das Dorf, dann
über die tückischen Obstbäume vor der Landewiese. Sanft schwebte der Drachen der glatten Schneefläche entgegen. Mit einem Griff nach oben ins Gestänge des Drachens brachte ich mich wieder in eine aufrechte Position, gleich darauf streiften meine Fußspitzen den Schnee und ich schob das Trapez weit nach vorn. Der Drachen reagierte wie ein Bremsfallschirm, abrupt brach die Strömung ab und ich stand. "Happy Landing"!
Ich stellte meinen Drachen ab, schaute zurück zum Berg, und hatte das Gefühl, langsam aus einem Traum zu erwachen, in dem sich ein Wunder ereignet hatte. Fast eine dreiviertel Stunde lang war ich in der Luft gewesen, während meine bisherigen Flüge nie viel länger als eine Viertelstunde gedauert hatten. Bedächtig schälte ich mich aus meinem Gurtzeug und begann, meinen Drachen zusammen zu falten. Nachdem ich ihn in die Schutzhülle geschoben hatte, ließ ich ihn am Rand der Landbahn liegen, um ihn später mit dem
Auto abzuholen und lief mit meiner Ausrüstung auf dem Rücken den kurzen Weg zurück zum Dorf.
Auf dem Dorfplatz kamen mir einige Drachenflieger entgegen. Aufgeregt fragten sie mich aus über den Flug. Sie hatten mich beobachtet, wie ich mich immer wieder hoch über dem Kogel in die Luft geschraubt hatte. Seltsamer weise blieb ich recht einsilbig, auch wenn mich ihre Anteilnahme freute. Aber wie sollte ich ihnen klarmachen, dass es nicht die sportlichen oder technischen Details waren, die diesen Flug für mich zu einem Erlebnis gemacht hatten. Auch wenn mir in diesem Moment sicher noch nicht bewusst war,
dass die Folgen dieser Erfahrung meine Einstellung zu meinem Leben in vielerlei Weise beeinflussen und ändern sollten.
Zurückgekehrt in den Gasthof setzte ich mich zu Gudrun an den Frühstückstisch und eröffnete ihr, dass ich an diesem Tag nicht mehr fliegen wolle und wir uns, wenn es ihr recht sei, bald wieder auf den doch recht weiten Heimweg über die Autobahn machen könnten. Auf ihren erstaunten Blick hin versuchte ich ihr zu erklären, dass ich einfach keine Lust mehr hatte, mitten im fröhlichen Getümmel der anderen Flieger einen zweiten oder gar dritten Flug zu wagen, dem ich nicht zutraute, dass er noch einmal das Erlebnis
dieses ersten Flugs an diesem ersten Morgen im Neuen Jahr bringen würde.
Nachdem ich mit meinem Dingi eine Kehrtwende gemacht habe, um wieder in die Richtung des Hafens zu kommen, setze ich mich wieder bequem neben dem Ruder zurecht, bevor ich die vielen Jahre zwischen jenem Flug und dem Ausflug heute mit meinem Segeldingi Revue passieren lasse.
Ich habe bald nach jenem Neujahrsflug das Drachenfliegen aufgegeben aus dem Gefühl heraus, dass ich meine Lektion daraus gelernt hatte und nun andere Dinge wichtiger wurden - ich nannte das später "Fliegen in der Realität". Ich löste mich aus der Beziehung zu Gudrun, die mir damals für unser Alter und meinen Drang zur persönlichen Weiterentwicklung als zu eng erschien. Auch wenn eine Zuneigung blieb, die mir bei Gudruns allzu frühen Tod vor vielen Jahren noch einmal schmerzlich bewusst wurde. Dann intensivierte
ich meine Malerei und kaufte zusammen mit Freund Pit ein großes bäuerliches Anwesen. Dort lebten wir über zwanzig Jahre lang Haus an Haus, arbeiteten in unseren Berufen als Geigenbauer und Kunstmaler bis Pit wieder einmal etwas zu waghalsige Manöver "flog" und mit seiner Familie aus seinem Hausteil ausziehen musste. Da ich nicht mit Fremden Wand an Wand leben wollte, verkauften wir das Anwesen wieder "komplett", wie wir es zwanzig Jahre zuvor erworben hatten.
Dabei stellte ich fest, dass es nicht der Ort selbst war, der mir unser Anwesen zur Heimat gemacht hatte. Es waren die Träume gewesen, unter deren Leitstern wir es seinerzeit gekauft hatten und die wir hier teilweise nicht nur verwirklicht hatten, sondern die manchmal sogar weit über unsere ursprünglichen Vorstellungen hinaus gediehen waren. Aber wie das Drachenfliegen für mich nicht mehr wichtig war, nachdem ich dabei gelernt hatte, mit Sorgfalt und Selbstvertrauen eigene unabhängige Entscheidungen zu treffen,
so war nun auch die Zeit für das Anwesen und was damit zusammen hing, vorbei. Wir hatten verwirklicht, was hier zu verwirklichen war und unsere Lebens-Lektionen, jeder auf seine Weise, erhalten. Daraus wieder etwas Neues zu entwickeln, ist nun eine Aufgabe, die wohl jeder für sich und auf seine eigene Weise bewältigen muss.
Der Hafeneingang ist erreicht und die Dünung wird flacher, je weiter ich hinter die schützenden Wellenbrecher gelange, bis ich über die glatte Fläche des Hafenbeckens gegen den auf West gedrehten Wind aufkreuze, um zu unserem Schiff im inneren Teil des Hafens zu gelangen. Ich erkenne Ruth, die auf der Heckterrasse von ihrem Buch aufsieht und mir zuwinkt und in mir kommt das ruhige glückliche Gefühl auf, dass ich jetzt hier her gehöre. Auf das Schiff und zu Ruth.
Nachdem wir schon viele Jahre befreundet waren, haben wir geheiratet, bevor wir unsere Reise starteten und gemeinsam verwirklichen wir wieder unsere Träume und lernen aus dem, was dieser Lebensabschnitt uns entgegenbringt. Irgendwo rangiert unser Schiff zwischen meinen Abenteuern mit dem Flugdrachen und der Zeit, die ich in dem Haus auf dem Lande gelebt habe. Man kann auf einem Schiff wohnen und man kann Abenteuer damit bestehen. Es kann auf seine ganz eigene Art ein Zuhause sein wie mein früheres Haus, das so
lange meine Ideen und ihre Realisierung geschützt hat und gleichzeitig kann das Schiff auf der Fahrt über das Meer ein dynamisches Instrument der eindrücklichen, sinnlichen Erfahrungen sein.
Wie lange wir auf dem Meer unterwegs sein werden, ist keine Sache eines präzise nennbaren Zeitabschnitts, sondern hängt ab von Erfahrungen, die gemacht werden wollen und von unserem Gefühl, das uns wie damals beim Drachenfliegen (und wenn ich es heute recht bedenke, auch beim Haus) sagen wird, wann es Zeit wird, etwas anderes zu tun, an einem anderen Ort zu leben und auf andere Erfahrungen zuzugehen. Wir müssen nach meiner heutigen Überzeugung nur zuhören, um zum rechten Zeitpunkt die richtige Entscheidung zu
treffen. Wem zuhören? Dem Wind, den Wellen, unseren Gedanken, den Menschen, deren Überlegungen und Schilderungen wir in unseren Lektüren und bei den vielen Bekanntschaften auf dieser Reise begegnen. Mithin dem "Leben", für dessen unerforschliche Wege die Menschen unseres Kulturkreises den Ausdruck "Gott" gefunden haben.
Hätte mir in der Zeit jenes "Neujahrs-Fluges" jemand gesagt, dass meine Bilder wenige Jahre später in vielen Ländern der Erde Freunde finden würden, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Und doch glaube ich im Rückblick, dass in der knappen dreiviertel Stunde jenes Flugs der Same zur Realisierung dieses Traums zu keimen begann. Ich denke, jedem Menschen begegnen immer wieder eindrückliche Erlebnisse, die ihm neue Impulse vermitteln können. Aber nur für den, der bereit ist, solche Erlebnisse in großer
Offenheit zuzulassen und ihre Bedeutung für sein Fühlen, Denken und Tun anzunehmen, kann daraus vielleicht eine glückliche Erfahrung werden, die sein Leben, manchmal über die Grenzen seiner momentanen Vorstellungen hinaus, erweitern und bereichern kann.
Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.