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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Wenn Murphy zuschlägt ...

© Rolf Thum


Murphy's Gesetz - benannt nach einem Amerikaner, dem ein Flugzeugmotor nicht anspringen wollte. Bei besagtem Motor gab es an der Zündung zwei Kabel, die entweder richtig oder falsch gesteckt sein konnten; Murphy stellte fest, dass die Kabel vom Mechaniker falsch gesteckt waren, so dass die Zündung nicht funktionieren konnte. Daraufhin soll er gesagt haben: "Wenn zwei Ereignisse gleich wahrscheinlich sind, tritt das ungünstigere auf." Denn: Was schief gehen kann, geht schief!
Murphy's Gesetz ist streng genommen - Vorsicht Physik! - eine Erscheinungsform des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik, der da besagt, es gibt keinen Vorgang auf der Welt, bei dem nicht auch Unordnung (Entropie) entsteht. Denn der unordentliche Zustand ist immer der wahrscheinlichere.
Folgen von Murphy's Gesetz im Alltag sind verräumte Schreibtische, Kabel und Schnüre, die sich wie von selbst verwickeln, das Umspringen der Ampel von Grün auf Rot, wenn man sich ihr nähert oder das Butterbrot, das beim Herunterfallen immer auf die beschmierte Seite stürzt. Kommt es dann gar zu einer ganzen Kette von solchen Ereignissen, kann uns das schon am Verstand zweifeln lassen und uns offenbaren, aus welch dünnem Stoff unser Nervenkostüm genäht ist. Auch ich hatte ein solches "Schlüsselerlebnis" - und das in zweierlei Hinsicht.

"Da ist ein Geräusch", sagte Christine. "Ein Geräusch, das vorher noch nicht da war."
"Ach was", tat ich verärgert. "Der Wagen brummt wie immer."
Dennoch konzentrierte ich mich fortan auf die Fahrgeräusche. Ja, sie hatte Recht. Da war ein leises, schepperndes Geräusch. Oder war es eher ein Blubbern? Ich fuhr weiter als wenn nichts wäre.
Das Geräusch wurde lauter. Ja, es war eindeutig ein Blubbern, nein, vielmehr ein Knattern. Klar, das musste der Auspuff sein! Verdammt, nicht schon wieder der Auspuff. Hatte ich doch erst vor zwei Monaten einen der Auspufftöpfe ersetzen lassen!
Die Strecke von Hockenheim nach Landau kam mir umso länger vor je lauter der Auspuff röhrte. In Landau angekommen war das Geräusch bereits ohrenbetäubend. Wir "freuten" uns schon auf die Rückfahrt! Ich hatte keine Gelegenheit, unter das Auto zu kriechen, um zu prüfen, wie groß der Schaden bereits war. Vielleicht würde der Auspuff sogar abfallen? Meinetwegen! Lauter konnte das Gedröhne ja kaum noch werden!
Mehr aber sorgte ich mich um meine bevorstehende Reise zur Hannover Messe. Es war Freitag und die Fahrt nach Hannover war für Sonntag geplant. Ob mir irgendjemand am Samstag den Auspuff reparieren würde?
Samstagvormittag. Bei meiner Werkstatt brauchte ich erst gar nicht anzurufen; die hatte samstags geschlossen. Also probierte ich es beim ADAC. Eine freundliche Stimme nannte mir eine Vertragswerkstatt in der Nähe, die angeblich "rund um die Uhr" offen hätte und mir sicher helfen könnte. Der Mensch, der sich dort meldete war aber alles andere als hilfsbereit, er wirkte eher verärgert und verkatert: "Was? 'N Auspuff repariere? Nee, des kann isch am Wocheend net. Wer Ihne do helfe kann? Ja, des weeß isch aa net!" Aufgelegt. Was blieb mir anderes übrig, als alle Werkstätten der Gegend am Telefon abzuklappern - doch nirgends nahm jemand ab. Am Ende versuchte ich es gar doch bei meiner Hauswerkstatt und siehe da, der Werkstattleiter meldete sich! Ernüchtert musste ich aber zur Kenntnis nehmen: "Nee, Sie wissen doch, wir haben heute geschlossen, wie immer am Samstag. Aber in Hockenheim gibt es den Pit Stop. Der hat samstags auf. Die sind auf Auspuffreparaturen spezialisiert." Ich dankte für den Tipp und rief den Pit Stop an.
"Auspuff? Ja, machen wir. Sie müssen aber sofort kommen."
Kurz danach stehe ich vor dem Pit Stop, melde mich brav an und fahre ein paar Minuten später über die Reparaturgrube. "Oh, der is total durch!", vernehme ich die besorgte Stimme des Mechanikers aus der Grube. "Komme Sie, sehe Sie selber! Do is nix mehr zu mache. Der mittlere Topf muss erneuert werde. Allerdings ... für Ihr'n Wage hab ich kein' mehr da. Grad gestern hab ich den letzten verkauft."
Ich schaue ratlos drein. Was jetzt?
"Ich guck mal im Computer, welche von unsere Werkstätte in der Gegend noch so 'n Modell habe könnt", tröstet mich der Mechaniker.
Wenig später frohlockt er: "Sie könne wähle zwischen Mannheim und Heidelberg. Aber Sie müsse sich beeile, denn in 'ner Stund mache wir überall zu."
"Heidelberg wäre gut", antworte ich. "Ich glaub, ich weiß, wo das ist. Könnten Sie dort anrufen und fragen, ob die mir das noch machen?"
"Kann's versuchen, aber wenn das da im Computer steht, haben die noch ein Teil und mache müsse die Ihnen des so oder so ... aber Moment ..." Er wählt eine Nummer, man hört das Freizeichen - aber niemand geht ran. "Typisch die in Heidelberg", brummt mein Mann, "gehe wieder mal net dran. Aber fahre Sie los! Denn wenn Sie nach 12.00 Uhr komme, mache die Ihne nix mehr!"
Ich schwinge mich in den Wagen und rattere los. Verflixt, ich müsste erst noch zu Hause Bescheid sagen, dass es später wird. Jetzt müsste ich mein Handy dabei haben! Als eingefleischter Handy-Hasser hatte ich lange gezögert, mir so ein Ding zu kaufen. Seit einigen Tagen besitze ich aber eines, doch ich nutze es nicht. Es liegt zu Hause, ausgeschaltet, auf dem Schreibtisch. Was bringt es, wenn ich mir vornehme, ab sofort das Gerät immer mitzunehmen - im Augenblick bleibt mir nichts anderes übrig, als den Umweg über meine Wohnung einzuschlagen. Also verliere ich wertvolle Minuten. Egal, es wird schon noch reichen.
Ich fahre so zügig, wie es die Verkehrsregeln und das Auspuffgeräusch erlauben. (Nein, das Ding fiel nicht ab!) Um Viertel vor Zwölf rolle ich auf den Parkplatz beim Pit Stop Heidelberg. Geschafft!
Die Freude währt nicht lange. Ein Herr mittleren Alters, korpulent, schnarrende Stimme, reagiert auf meine Frage, ob man mir meinen Auspuff wechseln könne, als würde ich von ihm verlangen, im Winter nackt über die Neckarbrücke zu laufen:
"Himmelarschnochmol! Was glaabe Sie denn! Es is kurz vor Zwölfe un um Zwölfe mache mir Feierobend!"
"Aber Ihr Kollege in Hockenheim ..."
"Wisse Sie, was der misch kann, der in Hoggene? Un iwerhaupt, 'n Auspuff fir de Opel Omega hawe mir eh net do!"
Nun werde ich wütend: "Ich hätte mir gern die Fahrt zu Ihnen erspart, wenn Sie ans Telefon gegangen wären. Wir haben nämlich versucht, bei Ihnen anzurufen."
Jetzt rastet der Kerl total aus: "Telefon! Telefon! Sage Sie bloß net Telefon - des Wort allää macht misch schun verrickt!" Der Bursche ist einem Schlaganfall nahe. "Seit drei Tag hab isch hier kää Telefon; der ganze Stadtteil is seit drei Tag vun der Telekom abgschnitte. Un die Arschlescher sin net fähisch, den Schade zu repariere. Isch hab weder Telefon noch Verbindung zum Computer, seit drei Tag! Isch sag Ihne, isch telefonier schun mit meim private Handy, um iwerhaupt noch an Ersatzteile zu kumme. Un do, das Sie's mir glaabe ..." Er deutet in seine Werkstatt hinaus. "Do steht der Opel Omega, dem mir heut morge de letschte Auspuff, den mir vun dem Modell ghabt hawe, neigebaut hawe. Grad net ämol vor zwee Stund, ach, was sag isch, vor net ämol äner Stund! Wenn Sie heut morge um Neune do gewese wäre ..."
Ja, wenn! Der Mann hat gut reden. Immerhin ist klar, warum er nicht ans Telefon gegangen ist und sein Computer nicht auf dem neuesten Stand war. Der Mann tut mir fast Leid.
Betreten schleiche ich mich hinaus, setzte mich in mein Auto und rattere wieder heim.
Was nun? Sonntag sollte ich beim Aufbau unseres Messestandes dabei sein, Montag hatte ich Standdienst, am gleichen Abend aber wollte ich weiter nach Berlin, denn für Dienstag war dort eine Konferenz angesetzt, an der ich teilnehmen sollte. Von Hannover nach Berlin hatte ich eine Zugfahrkarte, ich wollte den Wagen die Nacht über in Hannover stehen lassen. Doch ganz auf den Wagen verzichten und mit dem Zug zur Messe fahren war sinnlos, denn ich hatte Unmengen von Zeitschriften und Prospekte für unseren Stand zu transportieren. Da konnte ich gleich ganz zu Hause bleiben. Es blieb nur eins: Meine Tochter musste ihren Wagen, den alten Ascona, herausrücken. Sicher würde sie nicht begeistert sein, doch streng genommen war es gar nicht ihr Wagen, sondern meiner - im Ernstfall hatte sie keine Hoheitsrechte über das Vehikel. Und dies war ein Ernstfall! Überraschenderweise willigte sie ohne große Widerrede ein, ermahnte mich lediglich, auf den Radioapparat aufzupassen, denn dieser gehörte - im Gegensatz zum Wagen - tatsächlich ihr.
Die nächsten beiden Tage lief alles reibungslos. Ich kam gut in Niedersachsen an, fuhr mit dem Zug nach Berlin und ließ den Wagen in Hannovers Innenstadt stehen. Den Wagenschlüssel steckte ich in die Innentasche meines Mantels - die Hosentaschen waren mir irgendwie zu unsicher und auch in der Aktentasche wollte ich das Ding nicht aufbewahren. In Berlin ging ebenfalls alles so wie es sollte. Am Abend traf ich mich mit Bekannten, mit denen ich ins Berliner Nachtleben abtauchte. Bei unserem Ausflug hatte ich einen Stadtplan dabei; er steckte ebenfalls in meiner oberen Manteltasche. Beim Herumwursteln mit dem Stadtplan muss es dann passiert sein, denn zurück in Hannover und vor dem Wagen - kein Schlüssel mehr da! Wahrscheinlich war er mitten in der Nacht auf eine Berliner Straße gefallen, wo er liegen mochte bis zum Sanktnimmerleinstag!
Was tut der Mensch in einem solchen Fall? Er will es zunächst nicht wahr haben, wendet und durchwühlt seine Manteltaschen und aller anderen Taschen an seiner Kleidung, sucht schließlich systematisch seine Aktentasche ab und kramt zu guter Letzt in seiner Reisetasche, denn vielleicht war der Schlüssel im Dussel doch irgend woanders hingewandert. Es half alles nichts. Das vermaledeite Blechstück blieb verschwunden Es war genau das passiert, was ich befürchtet, ja geahnt, hatte: Ich stand in Hannover vor meinem Auto und hatte keinen Schlüssel mehr.
Nun gut, ich kramte mein Handy heraus. Erleichtert, nun auch zum Club der Mobiltelefonierer zu gehören, wählte ich die Nummer das ADAC. Nach etwa einer halben Stunde kam dann auch schon einer der "Gelben Engel". Er hatte keine Mühe den Wagen zu öffnen, riet mir allerdings davon ab, ihn startklar zu machen.
"Wissen Sie", erklärte er, "ich kann das zwar so einrichten, dass Sie jederzeit fahren können. Ich muss aber dazu das Lenkradschloss ausbauen. Dann ist der Wagen nicht mehr diebstahlsicher. Wenn er dann geklaut wird, zahlt Ihnen die Versicherung nichts. Oder fahren Sie jetzt gleich nach Hause?"
Ich verneinte. Ich hatte noch zwei Tage Standdienst auf der Messe und am Donnerstagabend eine Lesung in einer Bücherei im Stadtteil Misburg. Die Heimfahrt war erst für Samstag geplant. Allerdings, wer würde schon so ein altes Auto stehlen? Nun, gab der "Gelbe" zu Bedenken, gerade auf ältere Wägen sei man neuerdings scharf. Die verkauften sich gut in der Ukraine und in Weißrussland. Außerdem könne jeder Freak an das Radio, denn der Wage würde natürlich offen bleiben. Der ADAC-Mann empfahl mir deshalb, den Wagen lieber wieder zu verschließen und mir von zu Hause den Ersatzschlüssel - den es sicher geben würde - per Eilpost schicken zu lassen. Bis Freitag würde der Schlüssel gewiss da sein.
Das mit dem Radio überzeugte mich. "Gut, machen Sie das Ding wieder zu", erwiderte ich. "Aber bis Donnerstag muss ich den Schlüssel haben, denn zur Lesung in Misburg muss ich einen Packen Bücher mitnehmen und die liegen noch im Kofferraum."
"Ich kann Ihnen auch den Kofferraum öffnen" schlug der ADACler vor. Ich willigte ein, aber nicht wegen der Bücher, nein die waren mir zu schwer, die wollte ich jetzt nicht zu meinem Quartier schleppen. Aber ein frisches Hemd würde ich gern aus dem Kofferraum nehmen und noch ein paar andere Utensilien.
Das Öffnen des Kofferraums erwies sich als recht problematisch. Doch der ADAC-Mann schaffte auch dies, und zwar von Innen, durch Entfernen der Rückbank. Nach vollbrachter Tat verriegelte er den Karren wieder vorschriftsmäßig und verabschie-dete sich, ein leichtes Grinsen auf den Lippen.
Da stand ich nun, mit einer etwas praller gefüllten Reisetasche und starrte wie benebelt auf den Wagen. Nun musste ich wieder in die stickige U-Bahn und mit dieser zu meiner Unterkunft gondeln. Das mochte angehen, aber der Fußweg von der U-Bahnstation zu meiner Zimmerwirtin, der war mir ein Gräuel. Selbstmitleid half nichts. Ich musste los; nichts sehnte ich mehr herbei als eine Dusche.
Halt! Erst noch zu Hause anrufen, das Missgeschick melden. Zu Hause war niemand. Also sprach ich auf den Anrufbeantworter: "Habe den Autoschlüssel verloren. Bitte schickt mir den Ersatzschlüssel so schnell es geht an meine Zimmerwirtin, Frau W., ...straße 7, Hannover, Postleitzahl weiß ich leider nicht. Ich melde mich wieder."
Eine Stunde später. Ich treffe bei meiner Zimmerwirtin ein, erzähle dieser, was mir passiert ist, nehme die wohlverdiente Dusche und greife erneut zum Handy. Mist. Die Karte ist leer. Es ist schon recht spät. Jetzt um diese Zeit finde ich sicher keinen Laden mehr, der Handy-Karten verkauft. Also frage ich meine Zimmerwirtin, ob sie mir ihr Telefon zur Verfügung stellen will. Ja, sie würde schon, aber ihr Gerät ist leider defekt! Wo denn die nächste Telefonzelle sei, frage ich. Nicht weit, gewissermaßen um die Ecke, neben dem Supermarkt. Da ich sowieso noch mal weg will, nehme ich's leicht, obwohl mir die Verkettung der Umstände schon ein bisschen komisch vorkommt. In der Tat, meine Vorahnung hat mich nicht betrogen: Als ich an dem Supermarkt vorbeikomme, ist da weit und breit keine öffentliche Telefonzelle zu sehen. Seltsam, nun ja, dann vielleicht bei der U-Bahnhaltestelle? Nein, auch dort keinerlei öffentliche Telefonzelle. Im ganzen Viertel ist nichts dergleichen zu entdecken! Also nehme ich die U-Bahn zum Bahnhof und finde dort endlich eine Telefonkabine.
Christine ist noch nicht im Bett - zum Glück! Sie meldet sich mit einem leicht säuerlich-ironischem Unterton: "Typisch, Du und Deine Schlüssel! Aber ich war schon auf der Post und habe eine Eilsendung aufgegeben. Sie kommt morgen früh zwischen 9.00 Uhr und 12.00 Uhr an. Es muss aber jemand da sein, der die Sendung annimmt. Sie wird nicht in den Briefkasten geworfen."
Ich bin erleichtert, sage tausend Dank und schicke viele Gute-Nacht-Küsse über die Leitung.
Der nächste Dämpfer kommt am folgenden Morgen: Meine Zimmerwirtin hat einen Zahnarzttermin und kann die Sendung deshalb nicht entgegen nehmen. Ich selbst soll wieder raus zur Messe, Standdienst schieben. Was tun? Soll ich den Standdienst absagen, in meinem Quartier bleiben und die Zeit totschlagen, bis der Kurier erscheint? Sicher würde er erst kurz vor 12.00 Uhr eintreffen und nicht schon um 9.00 Uhr. Meine Zimmerwirtin weiß eine andere Lösung: Wir hängen einen Zettel an die Tür, mit einem Hinweis, wo die Sendung abgegeben werden kann. Irgendjemand in der Nachbarschaft wird sicher zu Hause sein. Während ich frühstücke, geht sie zu einer Nachbarin und tatsächlich, diese hat nichts vor und erklärt sich bereit, den Schlüssel entgegenzunehmen. Ich male ein großes Schild: "Achtung: Sendung für Thum bei Frau W... bitte bei Frau Z..., Hausnummer 3, abgeben." Dann fahre ich mit der Bahn zur Messe und vergesse den Schlüssel für einige Stunden.
Am späten Nachmittag, zurück von der Messe, finde ich keinen Schlüssel vor, sondern nur eine verwirrte Zimmerwirtin: Nein, eine Sendung sei nicht abgegeben worden, weder bei ihr - sie war schon wieder um 11.30 Uhr zu Hause - noch bei der Nachbarin. Ich bin verbittert. Ohne mich umzuziehen, greife ich zum Handy - ich hatte mittlerweile wieder eine Karte gekauft - und rufe Christine an.
"Die Sendung ist nicht gekommen ... Da muss was schief gelaufen sein."
"Ja", erwidert sie mit einem leichten Seufzer, "ich habe es vermutet. Deine Mitteilung auf dem Anrufbeantworter hatte Sabine abgehört; sie hat auch die Adresse deiner Wirtin aufgeschrieben. Die Hausnummer 7 sah aus wie eine 1. Als ich nach Hause kam, raste ich gleich zur Post, damit die Sendung noch wegkam. Und da habe ich dann Hausnummer 1 draufgeschrieben, nicht 7. Wahrscheinlich kam die Sendung deshalb nicht an."
"A… aber", stottere ich. "Warum hast Du Sabine nicht gefragt, was sie da geschrieben hat?"
"Unsere Tochter war nicht mehr zu Hause, als ich heim kam. Ich konnte sie erst später fragen. Da hat sie dann gemeint, das sei eine amerikanische 7. Sie mache die Zahlen immer so..."
"Uff! Und jetzt? Was mache ich jetzt? Wo steckt jetzt die Sendung?"
"Was weiß ich! Wahrscheinlich schickt die Post die Sendung wieder zurück. Ich kann jedenfalls von hier aus nichts mehr für dich machen!"
Das konnte doch nicht wahr sein! Ich beginne zu toben. Ich schimpfe auf meine Tochter, ihre "coole " amerikanische Schreibweise, den unfähigen, ja faulen Kurier, der es nicht für nötig gehalten hatte, irgend jemand zu fragen, ob es in der Nachbarschaft eine Frau W. mit einem Messegast geben mag und überhaupt - die deutsche Post, dieser Saftladen, diese Ansammlung von Knalltüten und Sesselfurzer ... Klack! Meine Frau hat den Hörer aufgelegt.
Jetzt sich sammeln! Einen klaren Kopf bewahren! Da stehe ich - mein Hemd schweißdurchnässt -, qualme aus allen Poren, fühle mich nur noch müde und sehne mich nach einer Dusche. Aber erst muss ich diese Angelegenheit hinter mich bringen. Ich rufe wieder zu Hause an. Große Entschuldigung. Meine Frau ist nie nachtragend. Und erinnert sich inzwischen an eine Telefonnummer, die auf der Quittung steht, die sie von der Post bekommen hat.
"Vielleicht rufst du mal da an?" schlägt sie vor. "Das ist anscheinend eine Nummer, wo man reklamieren kann, wenn was nicht geklappt hat."
Ich verabschiede mich mit den liebsten Worten, die mir einfallen, und wähle sofort diese Nummer. In der Tat, das ist der Postdienst, aber am anderen Ende der Leitung ist ein Typ, der anscheinend nichts mit meiner Nachfrage anfangen kann. Ich erkläre lange und ausführlich mein Problem: ...brauche meinen Schlüssel, nur die Hausnummer war falsch geschrieben, wie komme ich jetzt an meine Sendung, ... Endlich erbarmt sich der Mensch und teilt mir mit, dass er nicht zuständig sei. Wer mir dann weiterhelfen könne? Diese Frage scheint der Mensch nicht zu verstehen. Er solle mir doch, um Gottes Willen, sagen, an wen ich mich jetzt wenden könne! Ach ja, er scheint sich zu besinnen - ich merke, wie seine grauen Zellen arbeiten, höre es regelrecht einrasten, wie er denkt. Da existiere eine Telefonnummer des Paketdienstes in Hannover. Ja, die könne er mir geben.
Ich verabschiede mich dankend - kann gerade noch das "Schlafen Sie gut weiter!" unterdrücken. Schnell wähle ich die Nummer in Hannover. Eine freundliche Frauenstimme meldet sich. Oh, die Sache sei schwierig, denn das Päckchen werde vom Kurierdienst abends in der Paketzentrale abgegeben und diese sei "draußen" in Langenhagen, gut 25 km nördlich von Hannovers Innenstadt, also von jenem Ort, an dem ich mich gerade befinde. Der Kurier sei aber noch unterwegs, erst ab 20.00 Uhr könnte ich dort das Päckchen abholen. Ich schlucke. Wie komme ich ohne Auto dort hinaus, frage ich mich. Mit der Stadtbahn? Zu umständlich. Mit dem Taxi? Zu teuer. Nein, das musste nicht sein. Plötzlich durchzuckt mich ein Geistesblitz: "Wo, bitte, befindet sich denn ihr Kurier jetzt?" frage ich. "Vielleicht ist er irgendwo in der Nähe? Er hat doch sicher eine Handy-Nummer, auf der ich ihn anrufen kann." "Sicher", antwortete die Dame, "aber ich darf Ihnen die Nummer nicht geben." "Könnten Sie ihn dann für mich anrufen?" Meine Stimme muss schon verzweifelt geklungen haben. "Ja, ich kann es versuchen. Melden Sie sich doch bitte in 10 Minuten wieder bei mir."
"Wie ist Ihr Name nochmals, bitte...", sage ich noch, als sie auflegt. Verdammt, ich hatte den Namen nicht richtig verstanden. Nun ja, so viele Leute werden ja nicht in dieser Poststelle arbeiten.
Die 10 Minuten vergehen qualvoll. Als ich nach neun Minuten (länger halte ich es nicht aus) wieder anrufen will, ist meine Handy-Karte leer. Schon wieder! Verdammt! Ich hole tief Luft. Wenn jetzt das Telefon meiner Zimmerwirtin immer noch streikt... Nein, ich habe Glück, ihr Telefon ist wieder funktionsfähig. Ich darf es selbst-verständlich benutzen. Wieder meldet sich eine Dame, der Stimme nach aber eine andere. Ich frage nach ihrer Kollegin. Diese sei nicht mehr da. Ja, sie sei nach Hause gegangen; Feierabend. Nein, gesagt habe sie nicht, dass da nochmals jemand anrufen werde. Unmöglich, denke ich - wie kann diese Person mir versprechen, sich um meine Angelegenheit zu kümmern und mich bitten, in 10 Minuten nochmals anzurufen, nur um dann den Hörer aufzulegen und in den Feierabend zu gehen? Dummheit oder Absicht? Weder noch - einfach nur Feierabend, der ist bei der Post sicher noch heilig. Ich sehe regelrecht den Bleistift fallen...
Meine neue Gesprächspartnerin reißt mich aus meinen Gedanken. Worum es denn ginge, will sie wissen. Jetzt erzähle ich zum 3. Mal meine Geschichte. Ich dränge, ja flehe diese Dame regelrecht an, den Kurier anzurufen - diesen unfähigen, blöden, stinkfaulen, stockdummen, idiotischen Kurier, würde ich sooo gern sagen, aber ich verkneife es mir. Sie hat Mitleid oder merkt, dass ich zu fast allem fähig bin, fürchtet vielleicht sogar, dass ich nach Langenhagen hinausfahren und dort Amok laufe könnte. Ich bin wirklich nahe dran, vollständig durchzudrehen. Post, Post, Post, bete ich im Stillen vor mich hin, ich hasse dich, ich habe dich immer gehasst, ich werde dich immer hassen!
"Bleiben Sie am Apparat", flötet meine Gesprächspartnerin. Eine schier unendlich lange Minute vergeht. Nur Summen in der Leitung. Dann wieder ihre Stimme: "Der Kurier ist im Zoo-Viertel, in der Nähe der Stadthalle." Zoo-Viertel? Hah, das Blatt hat sich gewendet: Auch ich befinde mich im Zoo-Viertel. Rasch nenne ich meine Straße und - jetzt die richtige - Hausnummer. Das sei just die Straße, in der sich der Kurier gerade befände. Kaum zu glauben, aber wahr! Ich soll schnell vor die Tür gehen, sie sage dem Mann inzwischen Bescheid.
Zwei Minuten später halte ich den Schlüssel in der Hand! Freundlich bedanke ich mich bei dem Kurier! Ja, jetzt ist die Serie der Missgeschicke vorbei, jetzt kann nichts mehr passieren! Mr. Murphy, Sie haben mich zwar gebeutelt, aber nicht klein gekriegt!
Ein kleines Nachspiel gab es allerdings noch. Als ich in das Auto stieg, sprang der Motor nicht mehr an. Vielmehr noch, er tat nicht einmal einen Mucks! Also wieder den ADAC angerufen. Dieses Mal kam eine Dame, wunderte sich über nichts, stellte nur fest, dass die Batterie praktisch leer war. Irgendwie hatte dieser das lange Stehen wohl nicht gefallen. Ein Wunder, dass sie sich nach einigem Hin- und Herfahren wieder auflud und mich die kommenden Tage nicht mehr im Stich ließ.
Und noch ein zweites Nachspiel hatte die Affäre. Als ich wieder in Hockenheim war, fand ich einen klobigen Schlüssel in meiner Tasche, den ich nirgends zuordnen konnte. Niemand in meiner Familie hatte den Schlüssel je zuvor gesehen. Ein Mysterium! Doch zwei Tage später kam ein E-Mail bei mir an. Es war von jener Stadtbücherei in Misburg, an der ich am Donnerstagabend meine Lesung abgehalten hatte. Dort vermisste man den Toilettenschlüssel. Richtig, ich hatte den Stillen Ort aufgesucht und musste mir zu diesem Zweck einen Schlüssel geben lassen. Diesen hatte ich im Dussel eingesteckt.
Ja, ich und meine Schlüssel!



Eingereicht am 22. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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