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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Frei
© Antje Bock
Weit ab von dem was wir kennen mögen, führte man sie durch das Schwerstverbrechergefängnis am Ende jenes Staates, in dem Gottes Macht ihr vor gerade einmal zwei Dutzend Jahren den Hauch zum Leben geschenkt hatte.
Zwei schwarz gekleidete schwere Wachen schoben sie weiter durch lange Reihen von Stahltischen, an denen Menschen saßen, deren Vergangenheiten düsterer und grausamer waren, als ihre leeren Blicke je erahnen lassen. Menschen, deren Leben mit dem Überschreiten der mehrfachen Mauer und Stacheldrahtgrenzen jegliche Würde und Freiheit verloren hatten und nur zwei Möglichkeiten zum Weitermachen übrig ließen. Zwei endgültige, einzige Möglichkeiten nach dem Bruch aus einer Welt voller Zweige und Wege: Die absolute Akzeptanz
der ununterbrochenen Überwachung und Demütigung mit einer eventuellen vergebenen Hoffnung auf die Freiheit oder der lebensgefährliche Versuch zu fliehen, mit allen Konsequenzen.
Die kräftig-entschlossenen und vernarbten Arme der Wachen stießen das Mädchen auf einen Stuhl und ketteten ihr Fußgelenk an die im Boden einzementierten Eisenhaken. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, als ihr Schienbein gegen den Tisch knallte: "Es ist gut, jawohl alles ist wohl gut, solange ich noch Schmerzen haben kann. Solange noch Spuren des Lebens in mir walten", dachte sie und wagte es etwas aufzuschauen. Soweit sie gucken konnte bedeckte der gelblich-braune staubige Sand den Untergrund,
welchen sie bereits beim Eintritt in den Gefängnishof wahrgenommen hatte. Pflanzen gab es nicht, auch kein Gras. Alles Übrige war grau, sowohl die Zäune, Mauern, als auch die Gebäude.
Der Himmel strahlte blau.
Die Wachen entfernten sich und das Mädchen blickte um sich. Trotz der rauen Stimmen um sie herum schien eine merkwürdige Stille über allem zu liegen.
Ihr gegenüber saß ein anderes Mädchen kaum älter als sie selbst. Ihre Haare schienen verfilzt und auf ihrem hübschen Gesicht war eine leichte dunkle Dreckschicht. Ihre Augen blitzten auf, als sie leise sagte: "Ich weiß, dein Weg hierher war lang. Und hart. Und unser auch. Und das Ziel scheint wie die Ankunft in der auswegslosen und immer währenden Hölle. Aber glaub mir, es gibt schlimmere Plätze auf dieser Welt, noch schlimmere. Sehr viel schlimmere. Ich heiße Saluna, und das ist mein Bruder Murano."
Sie wies auf den dunkelhaarigen Jungen, der direkt neben dem Mädchen saß, welcher ihr zunickte und nach ihrem Namen fragte. "Lucia", antwortete sie und erschrak bei dem Klang ihrer eigenen Stimme, welche sie, so schien es, seit Ewigkeiten nicht mehr gehört hatte. Sie hatte Angst, dass nun diese unfassbare Angst mit hinausströmen könnte, doch sehr bald merkte sie, dass für Tränen an diesem Ort kein Platz war. Verbitterung verwandelte sich schnell in Stärke. Stärke um zu überleben, wo Gefühle das Ende
gewesen wären.
Trotzdem wagte Lucia noch nicht mehr zu sagen. Aus den Augenwinkeln zählte sie die sichtbaren Kameras, die sie von nun an Tag und Nacht beobachten würden.
Auch bemerkte sie jetzt die Einheitskleidung der Sträflinge, ein olivgrüner schlafanzugähnlicher Zweiteiler, den man auch ihr kurz vor dem Hinausführen auf den Hof angezogen hatte. Die langen Ärmel schützten wenigstens die Arme vor der aggressiven Einstrahlung der Mittagssonne, welche sie mehr denn je zuvor nun auf ihrem Kopf spürte. Trotzdem sie eine hellere Haarfarbe hatte, als die meisten anderen Häftlinge, fühlte sie schon jetzt die Hitze.
Sie schluckte und auch Durst konnte sie jetzt wieder fühlen. Ihre Zunge klebte an ihrem trockenen Gaumen und das Mädchen versuchte, etwas letzte Spucke zu sammeln, doch besser wurde es nicht. Wieder schluckte sie und das Gefühl erinnerte sie an damals, während der Arbeit auf dem Feld im Sommer, wenn sie vor Eifer vergaß zu trinken.
Und dann dachte sie an Zeiten, als sie noch nichts Böses kannte, als sie noch Träume hatte von der Zukunft. Von weiter Zukunft. Nicht wie später dann, als sie von Tag zu Tag überleben musste. Sie dachte an Zeiten, als sie noch lachen konnte, aus der Tiefe ihres Körpers heraus. Als sie in den Himmel blickte, ohne Zorn in ihrem Herzen, ohne das Wissen, dass sich nichts jemals verbessern würde. Die Zeiten, in denen sie nichts als Unbeschwertheit spürte, und Geborgenheit. Zeiten, in denen sie abends nach Hause lief.
Nach Hause ...
Energisch verjagte Lucia ihre Gedanken und fragte mit fester Stimme: "So, seit wann seit ihr denn hier?" Wirklich wissen wollte sie es nicht.
"Zu lange. Irgendwann hört man auf zu zählen", antwortete Saluna und blickte Lucia an.
"Kein Hass ist in ihren Augen zu sehen, kein bisschen Hass auf dieses Unglück bringende Land", dachte Lucia. "Kein bisschen Hass auf die Menschen um sie herum, die nun über ihr Leben herrschen und sie gefangen halten.
Warum ist kein Hass in ihren Augen?"
Noch fühlte sie sich nicht in der Lage, sie danach zu fragen.
Doch es war, als hätte Saluna ihre Gedanken erraten. "Weißt du, es ist besser wenn deine Träume sterben, als du selbst."
Lucia nickte langsam. Doch noch immer fühlte sie nur Leere in sich.
"Essen!", ertönte eine laute, kräftige Männerstimme, und eine leichte Unruhe stellte sich ein, als jeder Häftling seinen Platz von den wenigen erlaubten Zeitungen und Briefen frei schob. Kleine zerbeulte Blechschüsseln wurden durchgereicht und ebenso Löffel. Beinahe hinter jeder Person stand nun plötzlich eine Wache. Riesige dampfende Töpfe wurden herangetragen und in Minutenschnelle hatte jeder eine Schöpfkelle voll gelblichem Brei in seiner Schüssel vor sich. "Sie geben uns kein Fleisch, damit
wir schwächer werden", flüsterte Murano Lucia zu. "Iss so schnell und so viel du kannst", forderte er sie außerdem auf, und Lucia schlang die nach nichts schmeckende Nahrung eiligst hinunter. Gerade schnell genug um den begehrten Nachschlag zu bekommen, als eine der Wachen den dürftigen Rest seines Topfes verteilte.
Nach dem Essen führte man Lucia in ihre Zelle. Ein kahler, grauer, kalter Raum mit einem vergitterten Fenster, gerade groß genug, um nicht hindurch zupassen. Auf dem Boden lag eine durchgewetzte Matratze. Nachdem man das Mädchen hinein gestoßen hatte, schloss sich die schwere Eisentür, an welcher ebenfalls ein kleines vergittertes Fenster war, mit einem lauten Knall.
Lucia sah sich um und ließ sich schließlich auf die Matratze fallen, auf welcher eine dünne Wolldecke lag. Plötzlich wurde ihr kalt, so kalt. Sie zog die Decke über ihren Körper und blickte hoch zum Fenster, durch welches sie den immer noch knallblauen Himmel sehen konnte. Unverändert.
So viele Gedanken rannten nun wieder durch ihren Kopf. Sie ließ die Ankunft im Gefängnis noch einmal Revue passieren. Es war, als war alles was vorher war, ihre gesamte Vergangenheit zu diesem Zeitpunkt ausgelöscht. Als hätte alles hier an diesem Tage begonnen, ein Leben so leer wie der kleine Raum, in welchem sie nun lag. "Das Schlimmste ist wohl dieses Schweigen. Dass einem keiner sagt, was als nächstes ansteht oder passiert", war das letzte, was Lucia denken konnte, bevor der Schlaf sie übermannte.
Als sie wieder aufwachte, war alles schwarz um sie herum. Sie schreckte hoch und wusste nicht, wo sie sich befand, bevor es ihr wieder einfiel. Sie fragte sich, wie spät es wohl sei. Wo Saluna und Murano wohl seien. Ob sie auch eine Einzelzelle hatten. Ob sie froren. Ob alle hier froren. Ob man auch gegen Kälte resistent wurde. Wie lange sie hier bleiben würde. Wie ihr Leben jemals enden würde. Ob man sich irgendwann nicht mehr allein fühlen würde.
Lange konnte sie nicht wieder einschlafen. Sie lag auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte in die Dunkelheit.
Es war diese Stille, die sie zu erdrücken schien. Und dann erblickte sie die Sterne, wie sie heller als je zuvor durch die Gitterstäbe leuchten.
Salunas Worte ließen Lucia nicht los. Immer wieder dachte sie daran, was ihr dieses merkwürdig glücklich erscheinende Mädchen heute gesagt hatte.
Was war es, das ihr Kraft gab an diesem Ort?
Immer wieder blickte Lucia zu den Sternen hinauf und schlief irgendwann endlich wieder ein, bis ein lauter Knall sie am nächsten Morgen weckte.
Die schwere Stahltür ihrer Zelle wurde aufgestoßen und ein schwarzhaariger Wärter erschien. Sein Gesicht wirkte grimmig durch die tief liegenden, dichten Augenbrauen. Frühstück wurde ihr auf den Boden gestellt und ohne dass auch nur ein Wort oder Blick zwischen beiden gefallen war, schloss sich die Tür mit einem erneuten Knall wieder.
Hungrig aß Lucia das dürftige Frühstück und verstand nun, was ihr Murano gestern geraten hatte. Nachdem sie alles verzerrt hatte, setzte sie sich zurück auf ihre Matratze und verspürte zum ersten Mal in ihrem Leben ein Gefühl, welches sie als Langeweile identifizierte. Niemals je zuvor hatte sie still dagesessen, so wie nun, so ohne einen Gedanken, was sie in den nächsten Minuten tun würde. Niemals je zuvor hatte sie lange über die nächste Tat überlegen müssen, war sie nun schön oder nicht schön gewesen.
Niemals je zuvor hatte sie so viele Gedanken herrschen lassen in ihrem Kopf, wenn auch gezwungenermaßen.
Immer hatte sie gewusst, was sie tun musste in diesem Leben, um weiterzukommen. Hatte klar abgewogen zwischen notwendig und nicht richtig.
Nicht einmal in ihrem Leben hatte es ihr an Entschlossenheit gefehlt.
Entschlossenheit durchzukommen in den Umständen, die sie seit ihrer Geburt umgaben und ihr Leben zu beherrschen und vorprogrammiert zu haben schienen.
"Ausgang!", rief eine gelangweilte laute Stimme durch die Gitter der Tür, und erschrocken sprang Lucia auf. Derselbe Wächter vom Frühstück trat ein, langte nach ihren Händen und legte sie in Handschnellen, die sich mit einem schmerzhaften Zuschnappen schlossen. Dann stieß er sie hinaus auf den Gang.
Als sie schließlich in den Hof hinaustraten stach grelle Sonne Lucias Augen und die schwüle schwere Hitze schien sie wie ein Wall zu erdrücken. Staub wirbelte auf, als sie dicht gefolgt von dem ganz in schwarz gekleideten Mann die drei Stufen auf den Hofsplatz hinabstieg. Sie wurde etwas weiter vom Gebäude entfernt in eine Art Käfig geschoben, in welchem sich ein neben einem leicht beschädigten Basketballkorb auch ein paar Bänke, Tische und einige verschiedene Bälle befanden. Erleichtert fiel Lucia auf, dass
etwas Schatten den Käfig bedeckte. Der Wächter nahm ihr die Handschellen ab und verschloss die zaunartige Tür hinter ihr. Erst nun erblickte sie die anderen Häftlinge, welche alles Frauen waren. Sie alle schienen weitaus älter als sie selbst, bis auf ein Mädchen, welches auf einer Bank im Schatten saß.
Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch, in welchem sie versunken zu lesen schien. Wie automatisch steuerte Lucia auf sie zu und erkannte erfreut, dass es Saluna war. "Hi!", rief Lucia ihr zu und Saluna blickte auf und ein Strahlen legte sich über ihr Gesicht: "Hallo. Setz dich zu mir." Sie rückte etwas, und Lucia nahm Platz. Einer der anwesenden Wächter starrte zu den beiden hinüber, stieß sich von dem Stück Zaun ab, an welches er sich gelehnt hatte, kam etwas näher, lehnte sich wieder zurück,
und verharrte wieder in derselben Position.
Lucia, welche soeben noch einen so starken Drang nach Reden verspürt hatte, schwieg und unterdrückte ein Seufzen. Langsam zog sie ihre Knie an, verschränkte ihre Arme um diese und legte ihren Kopf darauf ab. Ein merkwürdig wohliges und geborgenes Gefühl widerfuhr in diesem Augenblick ihrem Herzen, obwohl sie vor einigen Sekunden noch eine so starke Unfreiheit gespürt hatte.
Sie schloss die Augen und atmete leise ein, um das eben Gefühlte zu bewahren, doch das Bewusstsein hatte es bereits geschwächt und schließlich verschwinden lassen.
Eine schwache Windbrise zog durch die Luft. Gerade sanft genug um die schwitzige Haut ein kleines bisschen abkühlen zu können.
Auch Saluna schien erleichtert über die Erfrischung und murmelte: "Mensch, das tat aber auch Not, fühlt es sich nicht herrlich an? In solchen Augenblicken rüttelt uns jemand wieder wach und zeigt uns die Lebendigkeit in uns!"
"Wer?", kam es von Lucia zurück.
"GOTT!"
Wieder schossen unzählige Gedanken gleichzeitig durch Lucias Kopf. Wie konnte man an diesem Ort der Erde nur an Gott denken, oder an Lebendigkeit.
Spürte Saluna es wirklich? Das einzige Gefühl, welches hier herrscht, ist Taubheit. Taubheit. Taubheit. Warum kann man hier nicht fühlen, sondern nur so endlos viel denken ...
Hastig sprang Lucia auf und schnappte sich einen der herumliegenden Basketbälle. Sie dribbelte einige Male auf dem staubigen Boden herum und warf ihn schließlich in den Korb. Endlich etwas machen. Geschickt verwandelte sie auch ihre nächsten Würfe in Korbleger und sprang nun auch weiter weg ab um den Ball zu werfen.
Saluna, die sie beobachtet hatte, pfiff anerkennend: "Wau, na du hast Talent! Das sollte ich meinem Bruder erzählen, der wird sich freuen."
"Wo ist er jetzt?", erwiderte Lucia und hörte nicht auf zu spielen.
Saluna zuckte mit den Schultern: "Wahrscheinlich auf der anderen Seite des Hofes. Mit den Männern zusammen."
"Wird hier immer getrennt?", fragte Lucia keck und blickt erschrocken auf die Wärter um sie herum. Sie konnte aber auf keinem ihrer Gesichter eine Reaktion feststellen und warf erleichtert einen weiteren Ball Richtung Korb.
Diesmal verfehlte sie.
"Manchmal nur."
Nachdem einige Zeit verstrichen war, setzte sich Lucia erschöpft zurück auf die Bank. Sie schwitzte und verspürte Durst, traute sich aber nicht nach etwas Wasser zu fragen.
Saluna war in ihr Buch versunken und schien in ihren Gedanken abwesend zu sein. Also blickte Lucia nun in die Runde, um zu sehen, was die anderen Frauen taten. Einige saßen auf einem kleinen Rasenfleck (wahrscheinlich der einzige des gesamten Gefängnisses) unter einem Schatten spendenden Baum und lasen, schliefen oder unterhielten sich murmelnd. Sie alle wirkten irgendwie abstoßend durch ihre dreckige, faltige Haut, sowie die ungepflegten strähnigen Haare. Ihre Gesichter wirkten wie abgeschlossen für die Welt.
Erstarrt für weitere Grausamkeiten, die ihnen begegnen könnten und ihre vernarbten Seelen für immer zerstören und den letzten nur erahnbaren Funken an Lebenswillen erlöschen würden.
Lucia versuchte in ihre Augen zu blicken, doch sie waren halb geschlossen und dahinter trüb und grau.
Wird Saluna auch einmal so aussehen? Werden ihre Augen ihr Strahlen auch irgendwann einmal verlieren? Warum ist sie so anders? Was ist es, das sie ausstrahlt?
Beschämt ertappte Lucia sich, wie sie Saluna von der Seite anstarrte, als diese aufblickte. Wieder dieses Blitzen in ihren Augen. "Hast du Durst, wollen wir mal was trinken gehen?"
Perplex nickte Lucia: "Ja, gerne. Wo denn?"
Saluna führte sie zu einer silber-grauen Metallkiste am anderen Ende des Käfigs. In ihr waren einige Plastikflaschen mit Wasser gefüllt gelagert.
Saluna öffnete den Deckel und reichte dem Mädchen das ersehnte Element.
Gierig trank Lucia einige Schlucke und reichte die Flasche zurück.
Dann kehrten beide zurück zur Bank. Auf dem Weg dorthin gingen sie an dem Baum vorbei, unter welchem einige der anderen Frauen lagen. Saluna lächelte ihnen zu und eine von ihnen brummte etwas Unverständliches. Die anderen zeigten überhaupt keine Reaktion.
Später flüsterte Saluna: "Sie sind schon zu lange hier. Sie haben aufgegeben. Schon aufgegeben. Ich wünschte sie hätten mehr Willen am Leben. Das wünsche ich ihnen so sehr."
Wieder dachte Lucia über Salunas Gedanken nach ...
Später zum Mittagessen saßen Saluna, Lucia und Murano zusammen. Sie sprachen fast gar nicht, was wohl mit der allgemeinen Stimmung zusammenhing, und der Spannung, die über allem lag, sobald die Wärter dichter an den Häftlingen standen.
Anschließend wurden alle zurück in ihre Zelle geführt. Lucia fühlte sich zwar alleine, doch war es ihr ganz angenehm, aus der drückenden und schwülen Mittagshitze hinein in die Kühle ihrer Schlafstätte zu kommen.
Erschöpft ließ sie sich auf die Matratze fallen. Alles wirkte merkwürdig hell. Sie legte ihren Kopf auf die Arme und noch ehe sie sich die unaufregenden Geschehnisse des bisherigen Tages durch den Kopf gehen lassen konnte, war sie auch schon eingeschlafen.
Als sie aufwachte, war sie nass geschwitzt. Sie wusste nicht, wo sie war und dachte über den Traum nach, aus dem sie gerade gerissen wurde. Sie war irgendwo in dem Gefängnishof, um sie herum all diese Frauen, die sie am Vormittag gesehen hatte. Sie sprachen zu Lucia, doch sie konnte sie nicht verstehen. Sie alle hatten Bücher in der Hand und versuchten es ihr zu reichen. Sie kamen näher und näher, und die Bücher begannen zu wachsen.
Lucia begann zu laufen, sie lief und lief, bis sie an den Drahtzaun kam.
Weiter ging es nicht. Das war die Stelle, an welcher sie aufgeschreckt war.
Sie hörte ihr Herz pochen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.
Versuchte sich zu beruhigen. Ihr Atem wurde langsamer.
Zum ersten Mal in ihrem Male begriff sie, was es hieß, alleine zu sein. So allein. Jetzt gerade in diesem Augenblick. Nicht zu wissen, wo sie war, wie lange sie hier sein würde. Nicht zu wissen, was sie ihr tun würden. Nicht zu wissen, mit wem sie reden durfte, wem trauen. Das war das Schlimmste. Dieses Schweigen um sie herum. Dieses endlose und auswegslose und hoffnungslose Schweigen und Weiterleben bis zu einem unbekannten Ende. Das war es, was sie nicht aushielt.
Tränen sammelten sich in ihren Augen, und sie schluckte, um sie zu verdrängen. Der schwere Druck auf ihrer Brust ging nicht weg. Wurde stärker.
Zum ersten Mal in ihrem Leben vermisste sie ihre Eltern. Zum allerersten Mal, seitdem sie sie nicht mehr gesehen hatte vermisste sie das behütete Gefühl zu ihren nach Hause zu kehren, und zu wissen, jemand ist da und beschützt sie. Wie ein kleines Baby fühlte sie sich, mit nur einem Wunsch in ihrem zerbrechlichen und unbeschadeten Herzen. Der Wunsch nach Geborgenheit.
Geborgenheit.
Eine Träne rollte dem Mädchen über das sandige Gesicht. Sie merkte, wie sie verlor gegen Kräfte dieser Welt, welche sie niemals herrschen lassen wollte.
Sie setzte sich auf und wischte sich die Träne aus dem Gesicht. Wozu hatte sie so lange Zeit ihres Lebens alleine gekämpft und immer geschafft was sie wollte. Um nun aufzugeben, und der Resignation die Oberhand zu geben. Nein.
Nein.
Nein.
Das war nicht die Lucia, die sie war.
So leicht gab sie nicht auf. Sie stand auf und schaute aus der Tür. Kein Wärter war in Sicht.
Zu gerne hätte sie rausbekommen, wo Saluna und Murano ihre Zellen hatten.
Sie lugte etwas weiter aus ihrer Tür, doch alles was sie sah, war der schwarze Gang.
Zu rufen traute sie sich nicht. Also musste sie warten, bis sie wieder hinaus durfte.
Nach einer Weile war es so weit, und diesmal waren alle zusammen auf einem größeren Hof, und Lucia trat zu Saluna und Murano, welche dicht beieinander standen und sich unterhielten. Fröhlich gelaunt trat Lucia zu ihnen und begrüßte sie. Beide drehten sich um und erwiderten ihren Gruß. "Hey, wie geht es dir so?", fragte Murano und lächelte sie an.
"Gut, gut", antworte Lucia und blickte zu den Basketballkörben. "Habt ihr Lust bisschen zu spielen?".
"Ja klar", antwortet Murano und die beiden liefen los, schnappten sich jeder einen Ball und begannen ihr Spiel.
Lange Zeit später setzten sich die beiden erschöpft und verschwitzt in den Schatten unter einen Baum.
"Das war ein Spaß", sagte Lucia glücklich und blickte zu Murano.
"Allerdings. Wo hast du so gut spielen gelernt?", erwiderte der.
"Ach, keine Ahnung. Hab früher sehr viel gespielt."
Sie schwiegen eine Weile und lehnte ihre Rücken gegen den dicken Baumstamm.
Lucia schloss die Augen und spürte auf einmal wieder diese Langsamkeit der Zeit. Und auch die Ungewissheit der Zukunft, die hier wohl alle beherrschte.
Gerne wollte sie mit Murano darüber reden, doch noch immer fühlte sie sich nicht vertraut genug mit ihm. Sie öffnete die Augen und blickte in den blauen Himmel. Ein Schwarm Vögel zog ganz hoch im Himmel vorbei.
"Guck mal Murano, hast du gewusst wie hoch der Himmel ist?"
Sie blickten beide hinauf und verfolgten die schwarzen kaum zu erkennbaren Vögel mit ihren Augen.
Nach einer Weile sagte Murano leise: "Der Himmel ist unendlich. Oder glaubst du er hat irgendwo ein Ende? Egal wie groß etwas ist, das hinauffliegt, es wird immer immer kleiner, je höher es gelangt, bis es irgendwann nicht mehr zu sehen ist von hier aus." "Stimmt!", nickte Lucia. "Ganz schön unvorstellbar. Alles was wir sonst kennen, hat immer ein Ende."
Mit einem Male wusste Lucia, dass alles auf dieser Welt berechenbar ist.
Dann brauchte man sich ja auch vor nichts mehr zu fürchten, denn wir leben nicht im Himmel, wo man endlos weiter schwebt. Wir leben auf der Erde, und so lange wir am Leben sind, ist alles begrenzt und absehbar.
Lucia sprang auf. Sie suchte Saluna, und fand sie unter einem anderen Baum auf einer Bank sitzend in ein Buch vertieft.
"Saluna. Jetzt weiß ich, was du damit meintest, dass niemand aufgeben sollte. Nichts ist für immer in diesem Leben. Gar nichts."
Saluna blickte auf und nickte. "Ja. Ist das nicht beruhigend? Und wenn du das weißt, kann dir niemand etwas wegnehmen, denn was in dir ist, ist der Glaube und das Wissen, dass es gut sein wird."
Lucia spürte auf einmal Kraft in ihrem Herzen. Kraft, die sie so gerne weitergeben wollte, an alle anderen Menschen um sie herum, die aufgegeben hatten. Sie blickte Saluna in die Augen und sagte: "Weißt du Saluna, am Anfang konnte ich es nicht verstehen, warum du so voller Optimismus und positivem Sinne warst und bist. Aber ich glaube ich habe ein Stückchen davon mitbekommen heute."
Saluna umarmte Lucia und drückte sie fest.
In diesem Moment ertönte der schrille Pfiff, der zum Zurückgehen in das Gebäude aufrief. Die Wachen traten an, und führten die Häftlinge einzeln zurück in ihre Zellen.
Dort angekommen reichte man ihnen ihr Abendbrot. Eine kleine zerbeulte Emailleschale mit zwei trockenen Scheiben Brot. Dazu etwas Wasser.
Lucia verschlang es gierig und hungrig und legte sich anschließend sofort auf ihre Matratze. Wieder blickte sie durch das kleine vergitterte Fenster und sah, wie der Himmel sich rötlich von der untergehenden Sonne färbte.
Sie wird wieder aufgehen. Jeden Tag wieder und wieder. Bis in die Unendlichkeit. Sie teilt das Endlose in Endlichkeiten, durch ihr Auf- und Untergehen.
Lucia drehte sich auf die Seite, spürte den harten kalten Untergrund durch die dünne Matratze und schlief wenige Minuten später friedlich ein. Als sie am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich frisch und erholt, und bemerkte, dass sie diese Nacht ohne Alpträume überstanden hatte.
Vorsichtig zog sie die winzige zerfledderte braun eingebundene Bibel unter ihrem Kopfkissen hervor, welche Saluna ihr vor einige Tagen zugesteckt und geschenkt hatte, und schlug sie wie jeden Morgen wahllos an einer Stelle auf: Ihre Augen wanderten über die hauchdünnen Papierseiten ... "Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten und er würde mir nicht sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken" ... las sie unter Matthäus 26:53.
Lucia erschrak über das wohlige Gefühl, das sich auf einmal in ihrem Körper ausbreitete. War das Gott? Ihr Vater? War Er auch für sie da? War es Seine Liebe, die sie auf einmal hoffen ließ, an dem grauenvollsten Ort ihres Lebens? Sie spürte, wie auf einmal jeglicher Hass verschwand, wie Vertrauen und Kraft ihren Zorn ersetzten, wie ein Stolz, ein wertvolles Geschenk des Glaubens auf einmal jede Demütigung besiegten. Auf einmal wusste sie, dass Gott immer bei ihr gewesen war, ihr Leben lang, sie beschützt und
geführt hatte, wenn Eltern, Freunde und die Welt sich abgewendet hatten. Sie wusste plötzlich, dass Er sie beschützte vor den Straßenräubern, damals, als sie ohne Eltern aufbrach in die gefährliche Welt der Armenviertel, wo niemand mehr etwas zu verliere hatte, was nicht das eigene Leben war. Gott war es, der sie nachts beschütze vor dem Erfrieren, tagsüber vor dem Verhungern, und abends vor der lauernden Gewalt.
Lucia traten die Tränen in die Augen vor Dankbarkeit. Noch niemals zuvor hatte sie ihr Leben auf diese Weise betrachtet. Für sie hatte es sich irgendwann gewendet. Aus Träumen und Hoffnungen wurde Bitterkeit und Wut, schließlich Resignation.
Noch immer spulte sie ihre Erinnerungen zurück und stieß immer wieder auf Zufälle und Wendungen, die eintraten, wenn sie kurz vor dem Aufgeben stand, wenn sie glaubte zu zerbrechen, wenn das Leben so unerträglich schien. Und immer war es irgendwie weiter gegangen, niemals hatte sie aufgegeben, und immer war da etwas, was sie gezwungen hatte weiterzugehen auf ihrem steinigen Weg des Lebens.
Jeden Tag war Er bei ihr gewesen. Jede einzelne Sekunde ihres Lebens.
"Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten und er würde mir nicht sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken".
Natürlich würde er das.
Den ersten hatte Er bereits gesendet. Saluna.
Zum ersten Mal in ihrem Leben kniete sich Lucia nieder, faltete ihre Hände und begann zu beten. Den wunderbarsten aller Schätze in ihrem Herzen tragend.
Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.