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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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El Cóndor Pasa

© Joachim Frank


Kalt war es über Nacht gewesen. Sehr kalt sogar. Und das im Juli! Aber wir waren in Peru, genauer gesagt im Hochland dieses Andenstaates, und das angenehme Hotel in der kleinen Ortschaft Chivay lag in einer Höhe von etwa 3650 m. Die Zimmer hatten zwar einen eher höher als erwarteten Standard, verfügten jedoch nicht über Heizungen, und das bei nächtlichen Temperaturen um den Gefrierpunkt!
Aber jetzt, am frühen Morgen, saß unsere kleine Reisegruppe, die sich zufällig in Arequipa gebildet hatte, wieder zusammen in dem Kleinbus, der uns zurück zu unserem viel tiefer gelegenen und somit auch wärmeren Ausgangspunkt bringen sollte. Das kuschelig geheizte Gefährt rumpelte über die Schotterpiste des bis zu 4800 m hohen Pata-Pampa Passes. Wunderbar war die Aussicht auf die umliegenden, schneebedeckten Vulkane, aus denen der über 6300 m hohe Ambato herausragte. Weiter ging es durch die gewaltige, breite, endlos weite, sehr schroffe Landschaft, die menschenleer in all ihrer kargen Einsamkeit sonnenbeschienen unter dem tiefblauen Himmel lag, umhüllt von dieser dünnen Luft, an die man sich nur langsam gewöhnt und die einem nie genügend Sauerstoff zu spenden scheint. Die spärliche Vegetation bietet nur wenigen Tieren eine Existenzmöglichkeit, aber auf der Hochebene Pampa de Cañahuas weideten doch etliche Vicuñas, Lamas und Alpacas und an den Lagunen labten sich Flamingos und andere Vögel vor den entfernt liegenden Bergketten. Wenn Zeit irgendwo auf der Welt keine Bedeutung hat, dann ist hier sicher einer dieser Orte. Aber die vergangene Zeit - genauer gesagt der gestrige Tag - ging mir doch noch einmal durch den Sinn:
Noch vor Sonnenaufgang waren wir also am Vortag zum Ziel unserer Exkursion, nämlich dem Cruz del Cóndor, aufgebrochen. Nirgendwo sonst soll man dem Flug der Kondore, dieser mächtigen Vögel, die eine Flügelspannweite von über drei Metern haben können, näher sein als dort. Aber man muss rechtzeitig vor Ort sein, denn die thermischen Voraussetzungen für dieses Schauspiel sind nur in der Frühe gegeben. Vor uns war bereits eine ganze Reihe von Kleinbussen eingetroffen, deren Insassen sich schon am Rand des Cañon del Colca verstreut hatten, und ihnen bot sich, genau wie jetzt mir, ein wahrhaft traumhaftes Panorama. Doch die Wege hier sind uneben und es gibt keine Sicherungen, so dass man schon mit Bedacht sein Plätzchen auf dem zunächst nur leichten, dann aber unerbittlich steil 1200 m in die Tiefe stürzenden Gefälle suchen muss, um eine zwar optimale Sicht, gleichzeitig aber auch einen sicheren Beobachtungsplatz zu bekommen. Für den, der hier ins Straucheln gerät, gibt es nämlich keine Hilfe mehr, und das passiert jedes Jahr immer wieder einigen Unvorsichtigen.
Aussicht und Thermik seien heute ideal, hat uns unsere indianische Reisebegleiterin noch mit auf den Weg gegeben. Ich habe mich gerade gesetzt, blicke in die steile Schlucht vor mir, ein leichter, kühler Wind begleitet den noch kaum wärmenden Sonnenschein und andächtige Stille herrscht unter den erwartungsvollen Besuchern. Gar nicht weit von meinem Platz entfernt, gerade um eine Felskuppe herum, muss einer der mächtigen Vögel gehockt haben. Jetzt schlagen seine gewaltigen Schwingen in unglaublicher Nähe an mir vorbei. Der Kondor lässt sich von den Aufwinden in die Höhe tragen und hebt sich den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen, bevor er in einem weiten Bogen zurück und weit über den Cañon hinaus fliegt. Ich bin fasziniert! Ein weiterer Kondor erscheint. Der segelt parallel zur Galerie der Zuschauer, die ihn lautlos anstaunt. Dabei reckt er den Hals und schaut die Zuschauer ebenso neugierig an wie sie ihn, so dass man sich schon fragen kann, wer hier eigentlich wen beobachtet. Wieder gleitet ein Kondor heran und vorbei.
Seine Flügel biegen sich an den gespreizten, wie ausgefransten Enden ein wenig nach oben. Nur ein einziger, beinahe nur angedeuteter Flügelschlag unterbricht sein schier unendliches Gleiten zu immer neuen, weit geschwungenen Bögen.
Pierre geht vorbei. Er ist Franco-Kanadier und gehört auch zu unserer Gruppe. Kurz winken wir einander zu, sagen nichts, als gelte es, ja die Stille nicht zu stören. Gestern Abend haben wir uns noch zusammen mit den anderen in der Lounge des Hotels mit einigen Pisco sour die Kälte vertrieben, dabei die unter Rucksack-Touristen üblichen Informationen ausgetauscht. Später dann, als nur wir beide noch übrig gewesen sind, hat er mir bei einem letzten Drink erzählt, was ihn, den Werbegrafiker aus Montreal, hierher getrieben hat:
"Ein Traum. Oder vielmehr ein immer wiederkehrender Traum. Und dieser Traum hat mich seltsamerweise jedes Mal an die alten Stätten der frühen Kulturen in den Anden geführt. Nachdem meine Ehe gescheitert war, nachdem ich auch noch meinen Job verloren hatte, ja...", er zögerte nun einen Moment und zum ersten Mal war das Lächeln aus seinem sonst immer so schalkhaft verschmitzten Gesicht verschwunden, "...da..., ja..., nachdem ich dann eine Zeit lang in einem Sanatorium verbracht habe, und dieser Traum trotzdem immer wiederkam, da habe ich mich entschlossen, hierher zu fahren. Ich habe zu Hause alles aufgelöst, meine restlichen Sachen bei meinem Vater untergestellt und bin nach Peru gefahren."
"Wie lange willst du bleiben?"
"Keine Ahnung. Solange das Geld reicht", hat er noch hinzu gefügt und dabei lächelnd die Achseln gezuckt.
"Und was hast du hier gefunden?", habe ich dann wissen wollen.
"Ich bin erst seit fünf Wochen unterwegs, aber alles ist mir unglaublich bekannt und vertraut. So, als wäre ich früher schon einmal hier gewesen. Jeden Ort, den ich besuche, kenne ich schon. Jedes Mal eine Rückkehr. Was ich mit dieser Erfahrung anfangen soll, weiß ich auch noch nicht, aber hier irgendwo liegt der Schlüssel - mein Schlüssel."
Der letzte Satz war schon wieder von seinem typischen, jungenhaften Lächeln begleitet gewesen, und durch seine Mimik und Gestik schien er sich selbst wieder aus dem Mittelpunkt des Gesprächs rücken zu wollen.
´Merkwürdiger Mensch´, habe ich noch gedacht, ´die ganze Fahrt über hat er den Spaßvogel gespielt und nun diese Geschichte´.
Jetzt fliegen zwei Kondore in einem beinahe synchronen Flug vorbei. Wie ein Spiel wirkt die Parallelität ihrer Bewegungen. Sie fliegen von mir weg, weit über die Schlucht hinaus, und als sie wie auf Kommando zur selben Zeit zu einer plötzlichen Kehre ansetzen, glänzt ihr Gefieder in der Sonne. In einem weiten Bogen kehren sie darauf zurück, ändern kurz vor den staunenden Zuschauern nochmals mit einer eleganten, fast gleichzeitigen Bewegung ihre Flugbahn und segeln dann seitwärts davon, bis sie hinter einem Felsvorsprung verschwinden.
Dabei gerät Pierre erneut in mein Blickfeld. Aber er fällt mir vor allem deshalb auf, weil er jetzt ganz eigenartige Bewegungen vollführt. Kleine Trippelschritte, aber in recht schneller Abfolge. Die gehen bald in ein Hüpfen oder Hopsen über, von einem Bein zum anderen. Dabei bewegt er sich immer ein bisschen weiter nach vorn, zum Cañon hin. Mich beunruhigt das. Ich kann mich jetzt gar nicht mehr auf den Flug der Kondore konzentrieren. Ein paar Steinchen lösen sich schon unter seinen Füßen und trudeln talwärts. Nun beginnt er auch noch mit seinen Schultern zu kreisen, breitet dann die Arme aus, rudert zunächst hüpfend auf der Stelle und bewegt sich dabei noch ein bisschen weiter talwärts... Was zunächst nur komisch ausgesehen hat, scheint nun eine unheilvolle Dynamik zu bekommen.
"Pierre!", rufe ich. "Stopp, Pierre!"
Ich springe auf, laufe ein paar Schritte auf ihn zu, aber er scheint mich nicht zu hören. Ganz im Gegenteil! Seine Arme rudern noch kräftiger. Er macht regelrecht hohe, aber kurze Sprünge und bewegt sich dadurch wieder weiter auf den Abgrund zu. Auch andere Leute sind mittlerweile auf dieses merkwürdige Schauspiel aufmerksam geworden, aber sie lachen nur über seine putzigen Bewegungen, die wie ein Vogeltanz anmuten. ´Irgendein Spinner´, mögen sie denken.
Ich bin in Pierres Richtung gelaufen und schreie ihn jetzt regelrecht an.
Aber zwanzig Meter hinter ihm stoppe ich, weil ich einfach Angst habe, das Gefälle noch weiter hinab zu gehen.
Pierre rutscht ein klein wenig und mir stockt der Atem. Längst haben jetzt auch die anderen Leute mitbekommen, dass hier etwas nicht zu stimmen scheint. Spätestens mein Schrei hat alle Blicke zuerst auf mich und dann auf Pierre konzentriert. Aber hat der ihn auch erreicht? Oder ist es irgendein anderer Umstand, der ihn jetzt inne halten lässt? Jedenfalls dreht Pierre sich plötzlich zu mir um, sieht mich erstaunt an, lächelt, und - wendet sich erneut dem Tal zu!
Er steht ganz still vor der gewaltigen Kulisse, fast wie ein Dirigent vor seinem Orchester. Dann breitet er nochmals, aber nun ganz langsam, seine Arme weit aus. Er verneigt sich und schreitet ganz behutsam, geradezu andächtig - rückwärts! Etwa zehn Meter später wendet er sich um und mit dieser Drehung wandelt sich seine Körperhaltung total. Ganz entspannt winkt und lächelt er mir und dem umherstehenden, staunenden Publikum zu, und als er mich erreicht, legt er mir gleich den Arm um meine Schultern und sagt:
"Ist es nicht wunderbar, Angie?"
Mir hat es die Sprache verschlagen. Er führt mich behutsam durch eine Mulde zu einer kleinen Kuppe, die, von flachem Gebüsch und wenigen Kakteen gesäumt, einen schönen Sitz- und Aussichtplatz bietet.
"Alles o.k.?", frage ich zaghaft.
"Oh, es ist großartig. Wunderbar. Weißt du, die Lüfte tragen diese Vögel zur Sonne. Sie gleiten ..., gleiten! ... vom Himmel zur Erde wie Götterboten. Sie liegen auf der Luft und in der Luft, sie atmen die Luft wie wir, aber sie spielen mit ihr, während sie auf uns liegt und lastet. Obwohl sie so leicht ist, ganz leicht! Du kannst sie durchschneiden mit deinen Armen, sie liegt auf deiner Haut wie kühlendes Wasser, sie schmiegt dir die Sonne auf die Wangen und du trinkst sie tief in dich hinein. Aber die Vögel beherrschen die Luft und ich bin ein Stück mit ihnen über dem Cañon geflogen - geglitten, weißt du, geglitten ..." Ich habe seine Hand genommen und schaue auf ein weiteres Paar Kondore, das geradezu einen Formationsflug vorführt. Lautlos und elegant schweben die beiden Vögel in den Himmel.
"Weißt du", sagt er nach einer Weile, "dass es dort oben ganz, ganz ruhig ist? Man hört nur die sich teilende Luft."
"Wunderbar muss das sein", antworte ich, ganz umfangen.
Beide schauen wir in die Tiefe des Tals, während die Sonne uns jetzt schon deutlich spürbar wärmt. Sein Arm liegt immer noch um meine Schultern, aber
jetzt lehne ich mich auch an ihn. In unser Schweigen sagt er dann:
"Weißt du - dein Ruf..., als du meinen Namen gerufen hast...
Dich habe ich auf einmal gehört...
Dein Rufen, das mir galt...
Ja, jemand hat mich gerufen!
Du hast mich gerufen.
Ich glaube, in diesem Augenblick habe ich ihn wieder gefunden - meinen Schlüssel ..."



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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