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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Was mir unter die Haut ging

© Sebastian Wolf


"Kurierfahrt", sagte Frieder und schüttelte mich heftig. Ich war gleich nachdem wir mit den Schulkindern fertig waren, auf dem Sofa in der hinteren Ecke des Gemeinschaftsraums eingeschlafen. Ich öffnete meine Augen, aber meinen Zustand als 'wach' zu bezeichnen, wäre nicht ganz passend gewesen.
Die letzte Nacht war eine der härteren gewesen, was Alkohol und Schlafentzug anging. Trotzdem schnappte ich mir meine Jacke und trottete hinter Frieder her zum Wagen. Als der mir die Beifahrertür aufschloss fragte er: "fährst du?" Und ich antwortete: "sehr witzig".
Es war nämlich so, dass ich seit einem Monat beim ASB arbeitete. Im Behindertenfahrdienst. Vorher war ich in einem Altersheim als so eine Art Mädchen für alles. Aber da starben innerhalb von zwei Monaten sechs Heimbewohner, und das fand ich irgendwie nicht so cool. Ich stehe nicht so auf tote Leute. Deswegen habe ich dann auch die Zivildienststelle gewechselt. Beim ASB war nur das Problem, dass man da so eine extra Fahrprüfung mit den Wagen machen muss. Die haben da Transporter, wo man die Rollstühle reinstellen kann und so. Und die sind ziemlich groß und außerdem soll man schön langsam fahren, damit den alten Leuten in ihren Rollstühlen nichts passiert und damit die sich nicht vor Angst in die Hose machen. Ich hab allerdings ziemlich schnell raus gefunden, dass viele von denen sich sowieso in die Hose machen. Jedenfalls hab ich diese Fahrprüfung nicht geschafft und durfte deswegen nicht fahren. Das war zwar irgendwie ganz cool, weil ich dann immer auf dem Beifahrersitz schlafen konnte, aber ich hatte auch ein bisschen ein schlechtes Gewissen, wegen meiner Kollegen. Weil die eben immer fahren mussten und nicht auf dem Beifahrersitz schlafen konnten.
Es war jedenfalls ein saukalter Tag im Dezember, und die Heizung von diesen Behindertenfahrdienstwagen ist eigentliche immer entweder kaputt, oder sie ist so schwach, dass du einmal durch ganz Osnabrück fahren kannst bis es warm wird. Frieder und ich setzten uns also rein, ich auf den Beifahrersitz und er auf den Fahrersitz, und fuhren los. Ich versuchte mich im Sitz und meiner Jacke zu vergraben, was aber nicht viel brachte, und fragte noch mal, wo es denn hin gehe. "Kurierfahrt", sagte Frieder wieder. "Klar, Kurierfahrt, ist schon klar. Hast du schon gesagt", sagte ich. "Aber wo geht die Kurierfahrt denn hin?" "Klinikum", sagte Frieder. "Aha, Klinikum", sagte ich. "Und holen wir da was ab, oder bringen wir da was hin?" "Wir holen was ab", sagte Frieder. "Aha", sagte ich. "Und was holen wir ab?" "'Ne Blutkonserve", sagte Frieder. Blutkonserven fand ich nicht so klasse. Blut hat für mich immer auch was mit Krankheiten oder so zu tun. Weil, normalerweise sieht man ja kein Blut. Man sieht das nur, wenn man beim Inline-Skaten böse auf die Schnauze fliegt, oder sich einen Pickel zu fest ausdrückt, oder Ebola hat und sich die inneren Organe auflösen und man dann Blut spuckt. Während wir also durch die Stadt zum Klinikum fuhren, wurde ich allmählich etwas wacher. Auf den Straßen lag Schnee und der Himmel war klar. Da war keine Wolke zu sehen und die Sonne schien ziemlich rot, und sie stand ziemlich tief, weil es schon fast fünf war.
Als wir beim Klinikum ankamen meldeten wir, Frieder und ich, uns am Empfang an und meinten, wir seien vom ASB und müssten eine Blutkonserve abholen. Die Frau, die da hinter dem Schalter saß, musste dann mal kurz telefonieren und nach dem Telefongespräch meinte sie, wir sollten zum Raum K 12 beim DRK-Blutspendedienst gehen. Die Treppe runter in den Keller, dann den linken Gang immer geradeaus und dann auf der rechten Seite. Gleich hinter der Pathologie. Wir gingen also die Treppe hinunter in den Keller, wo im Gegensatz zum Erdgeschoss kein Tageslicht mehr herein kam. Die Gänge waren lang und hatten gelbe Wände mit dieser Aluminiumschiene, damit sich die Kranken daran festhalten können, damit sie nicht umfallen und damit Betten mit Rollen drunter dagegen prallen können, ohne dass die Wand kaputt geht.
Der Boden war aus dunklem Linoleum oder so was ähnlichem. Darauf quietschten meine Schuhe, denn ich hatte Turnschuhe an, die vom Schnee noch nass waren.
Frieders Schuhe klapperten bei jedem Schritt ganz laut. Das waren keine Turnschuhe. Und die Geräusche, die unsere Schuhe machten waren unglaublich laut in diesen langen, von Neonlicht beleuchteten Gängen, weil die Wände wohl aus Beton waren und es ein Echo gab. Und das Echo schallte durch die langen Gänge und war ganz laut. Während wir, Frieder und ich, den Gang hinunter gingen und diese Geräusche mit unseren Schuhen machten, ließ ich meine Hand an einer der Aluminiumschienen entlang gleiten und dachte, dass die in der Pathologie wahrscheinlich nicht so viele Leute haben, die sich daran festhalten, weil die meisten Leute in der Pathologie ja tot sind. Und dann dachte ich, dass die Aluminiumschienen dann wohl nur wegen der Betten da sind, und dass die hier unten wahrscheinlich ständig die Betten mit den Toten drin gegen diese Aluminiumschiene hauen, und dass das ein ziemlicher Lärm sein muss. Bei dem Echo. Und diese Vorstellung von den Toten, die in ihren Betten ständig gegen die Wände hauen und von dem Lärm, den sie dabei machen und die Vorstellung von dem Lärm, den die Schuhe von den Leuten machen, die die Betten schieben, und der Lärm, den wir, Frieder und ich, mit unseren Schuhen machten, machten mir ein schlechtes Gefühl. Ich wollte lieber nicht länger im Keller des Klinikums bleiben, als notwendig. Aber das sollte leider nicht funktionieren. Als wir, Frieder und ich, in Raum K 12 ankamen, da stand da ein Mann in einem weißen Kittel und fummelte mit irgendwas auf einem Tisch herum. Ich hab versucht, das zu ignorieren, aber ich glaube, dass es eine Leber oder ein Herz oder so was war, und dass der das in Scheiben geschnitten hat. Jedenfalls stand da dieser Mann in seinem Kittel und neben dem Mann stand eine Box. So eine Box, wie die von Pizzabringdienst haben. "Hallo", sagte der Mann, nachdem er sich umgedreht hatte. "Sind Sie die Jungs von ASB?" "Ja", sagte Frieder. "Sie kommen wegen der Blutkonserven?", fragte der Mann im Kittel. "Ja", sagte Frieder, und ich fragte, ob die Blutkonserven in der Box seien. "Nein", sagte der Mann. "Da ist meine Pizza drin." Und dann sagte er, dass er die Blutkonserven erst aus dem Kühlraum holen müsse. So Blutkonserven müssten gekühlt werden. Und dann sagte er, dass das mit den Blutkonserven eine ziemliche eilige Sache sei.
Und das war komisch, denn als er das sagte, war er schon in dem Kühlraum der hinter dem Raum, in dem wir waren, verschwunden und suchte nach den Konserven. Konnte sie aber anscheinend nicht finden. Und das dauerte dann alles ein bisschen. Und dann musste ich aufs Klo. Also sagte ich zu Frieder: "Ich muss mal eben aufs Klo. Ich glaub, ich hab da den Gang runter eins gesehen." "Aber mach schnell", sagte Frieder. "Klar", sagte ich. "Bin wieder da, bevor der Typ da wieder rauskommt." Und ich ging.
Aber da war kein Klo, wo ich dachte, dass eins wäre. Also bin ich die Gänge, diese Linoleumgänge mit dem Neonlicht rauf und runter. Ein Labyrinth. Bis ich schließlich doch noch eins fand. Und das war wirklich in letzter Sekunde. Ich setzte mich in eine der Kabinen und muss zugeben, dass das vielleicht ein paar Minuten gedauert haben könnte. Als ich jedenfalls wieder raus kam, war das Licht im Gang aus. Ich fand zwar schnell einen Lichtschalter, aber irgendwie kamen mir die Gänge jetzt noch ruhiger vor als vorher. Und meine Schritte schienen noch lauter zu sein. Ich wollte wirklich raus aus diesem Keller, also ging ich zurück zu dem Raum mit den Blutkonserven. Das heißt, ich versuchte es. Irgendwie hatte ich bei dem ganzen hin und her Gerenne ein bisschen die Orientierung verloren. Ich versuchte erst mich zu erinnern, welchen Weg ich gekommen war, aber jeder Quergang sah gleich aus. Jedes Mal, wenn ich um eine Ecke ging, dachte ich, ich wäre schon mal da gewesen. An den Zimmernummern konnte ich mich auch nicht orientieren, weil die scheinbar völlig willkürlich vergeben worden waren. Aber was sollte ich tun? Ich konnte nur weitergehen. Weitersuchen.
Dabei kam ich an vielen Zimmern vorbei, von denen die meisten geschlossen waren. Doch einige Zimmer hatten so Schiebetüren, wie ich die aus der Notaufnahme kannte, als ich mal mit meinen Inline-Skates auf die Schnauze geflogen bin. Und von denen standen einige offen. Aber keine von denen war Raum K 12. Raum K 12 hatte eine ganz normale Tür. Ich lief immer weiter durch die Pathologie des Klinikums und merkte langsam diesen Geruch, den die in Krankenhäusern haben. Der Geruch war mir vorher gar nicht aufgefallen, wahrscheinlich, weil ich in der letzten Zeit so oft in Krankenhäusern war, dass ich schon dagegen abgestumpft war. Aber plötzlich merkte ich den Geruch und blieb einen Moment stehen. Denn irgendetwas war anders. Sonst riecht das in Krankenhäusern immer so antiseptisch und steril. Da unten im Keller roch es auch so, aber da war noch was anderes. Es war irgendwie stechender. Ein beißender Geruch in der Nase. Es war echt so, als ob der Geruch mir in die Nase beißen würde. Ich wollte da raus und dachte mir so langsam, dass Frieder wahrscheinlich schon abgehauen war, weil, die Blutkonserven waren ja angeblich so eilig. Ich versuchte den widerlichen Gestank, der immer stärker wurde, zu ignorieren und einfach nur noch den Ausgang zu finden. Dann stand ich vor Raum K 12. Doch Raum K 12 war zu. Ich sah mich um, blickte den Gang hinunter, an dessen Ende ich stand. Da runter und dann nach rechts. Da ist der Ausgang, dachte ich. Und dann ging das Licht wieder aus. Es war stockduster und ich tastete mich an der Aluminiumschiene entlang den Gang hinunter. An der ersten Ecke spürte ich einen Schalter und drückte ihn. Als das Licht anging, sah ich den Gang hinunter. Und für eine Sekunde, für einen Moment war mir so, als wäre da jemand vorbei gelaufen. Aber ich hatte nichts gehört. Und ich wusste ja, dass es da unten im Keller ein ziemliches Echo gab, und deswegen hätte ich die Schritte hören müssen. Ich hätte sie hören müssen, wenn da wirklich jemand vorbei gelaufen wäre. Also ging ich weiter den Gang hinunter Richtung Ausgang. Und je weiter ich den Gang hinunter ging, desto stärker wurde der Gestank. Ich wollte den Gang eigentlich gar nicht weiter gehen, aber das war der einzige Ausweg, den ich wusste. Als ich dann also weiterging, hörte ich doch etwas, aber es waren keine Schritte. Es waren auch keine Stimmen oder zufallende Türen, womit ich überhaupt kein Problem gehabt hätte. Es war ein Geräusch. Ein lautes Geräusch, das durch die Gänge hallte. Ein unglaublich lautes Geräusch, das so klang, als würde ein Bett mit Rollen darunter ständig gegen eine von diesen Aluminiumleisten hauen. Immer und immer wieder. Ein metallener quietschender Lärm. Ich musste mir die Ohren zu halten. Und der Krach schien näher zu kommen. Aus der Richtung in die ich eigentlich gehen wollte. Ich konnte nicht weitergehen.
Ich hielt mir die Ohren so doll zu, wie ich konnte und hockte mich auf den Boden und machte mich so klein wie nur möglich. Da sah ich, dass genau neben mir eine von den Schiebetüren offen stand. Mit einem Satz hechtete ich hinein schloss die Tür hinter mir und kroch unter einen Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich unter diesem Tisch saß, aber ich glaube, es war ziemlich lange. Irgendwann hatten die Geräusche einfach aufgehört, aber ich blieb trotzdem noch unter dem Tisch sitzen. Der Gestank wollte einfach nicht verwinden. Doch schließlich war mir das egal. Ich stand auf und sah mir an, unter was für einem Tisch ich mich da versteckt hatte. Ich war wohl wieder in der Pathologie. Und jetzt wusste ich auch, woher der Gestank kam. Vor mir auf dem Tisch, unter dem ich mich eine halbe Ewigkeit versteckt hatte, lag ein toter menschlicher Körper. Und ich steh ja nicht so auf tote Leute. Aber dieser Körper faszinierte mich irgendwie. Es war wohl eine ziemlich alte Frau, bestimmt so an die hundert Jahre alt. Und ihre Haut war ganz faltig. Ich hatte noch nie eine so faltige Haut gesehen. Und ich hab immerhin im Altersheim gearbeitet. Und ihre Haut war nicht nur im Gesicht faltig, sondern am ganzen Körper. Das konnte ich sehen, weil, die Frau hatte nämlich nichts an. Sie sah aus, als hätte man ihr das ganze Wasser aus dem Körper gesaugt. Aber nur das Wasser. Nicht das Blut oder so. Denn ihre Haut war ganz braun. So braune Haut hatte ich noch nicht mal auf Mallorca gesehen. Und ihr Mund war auf. Ganz weit auf hatte sie ihren Mund. Das sah so aus, als wäre sie gestorben, als sie ganz doll geschrieen hatte. Oder eigentlich sah es eher so aus, als ob sie genau in dem Moment ganz doll schreien würde. Das fand ich irgendwie cool. Als ich aber gerade anfing, mich ein wenig zu entspannten, wurde plötzlich, mit einem lauten Krachen, die Tür aufgerissen. Vor mir stand der Typ aus Raum K 12 und meinte, was ich denn da machen würde, und dass mein Kollege schon längst weg sei und ich mich auch mal verziehen solle. Ich hätte da nichts zu suchen. Also verzog ich mich.
Bei der Arbeit waren alle ziemlich sauer. Mein Chef war sauer, Frieder war sauer und die anderen meinten, ich wäre ein Idiot. Ich hab ihnen natürlich nichts erzählt von dem Lärm, den ich gehört hatte oder von der Person, die ich gesehen hatte. Und ich erzählte ihnen auch nichts von der toten Frau.
Mit der Zeit entspannte sich die ganze Situation wieder. Und ich arbeitete ganz normal vor mich hin. Schlief ganz normal vor mich hin. Und feierte ganz normal vor mich hin. Bis eines Abends. Es war bestimmt sechs Wochen nach der Sache im Krankenhaus. Da stand ich vor dem Spiegel. Ich bin sonst nicht so ein Typ, der in jeden Spiegel gucken muss, oder der überhaupt besonders viel um sein Äußeres gibt. Aber ich hatte schon seit einiger Zeit so ziemlich seltsame Schmerzen in der Schulter. Und als ich zufällig zu Hause bei meinen Eltern an dem großen Spiegel vorbeikam, da sah ich warum. Zuerst konnte ich gar nicht glauben, was ich da sah. Ich ging näher an den Spiegel heran und drehte mich so, dass meine Schulter noch näher an dem Spiegel war. Und ich sah, wie sich meine Haut bewegte. Aber ich hatte gar nichts gemacht. Es sah irgendwie so aus, wie in diesem Film Alien. Wo John Hurt beim Essen dieses Mini-Alien aus dem Bauch raus geplatzt kommt. Und bevor das Alien da aus dem Bauch raus kommt, da bewegt sich die Haut von John Hurt so komisch und genauso komisch bewegte sich meine Haut. Und es tat ziemlich weh. Auch wie bei John Hurt. Und dann war da noch etwas, das war, wie bei John Hurt. Es kam etwas raus. Ich konnte im Spiegel ganz genau sehen, wie meine Haut, ein paar Tropfen Blut auf den Spiegel spritzend, aufplatzte und der Kopf einer daumengroßen Larve herauskam.
Im Krankenhaus haben sie mir dann gesagt, dass die Frau, unter der ich mich versteckt hatte, aus Brasilien überführt worden war. Dort war sie von Moskitos gestochen worden, die ihre Larven unter die Haut von Menschen bringen, damit sie dort wachsen. Auf der Reise von Brasilien nach Osnabrück haben sich die Larven in dem toten Körper wohl zu Moskitos entwickelt und eines von denen hatte mich wohl gestochen. Das fand ich interessant.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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