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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Vanille
© Kathrin Hamel
Wollen Sie es sehen?, fragt die Schwester.
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Immer noch nicht. Hundertmal habe ich mir diese Frage gestellt. Hundertmal. Nein, war meine Antwort, nein, wenn du es siehst, schaffst du es nicht. Und ja, war meine Antwort, ja, ich muss es sehen, es begrüßen. Und Abschied nehmen.
Vielleicht ahnt die Schwester meine Gedanken. Vielleicht hofft sie, dass ich es mir anders überlege, dass ich hier bleibe.
Bei meinem Baby. Sie wartet meine Antwort nicht ab, sie legt mir mein Baby auf den Bauch.
Ich fühle sein Gewicht auf mir, ich spüre seine Wärme, ich sehe sein kleines rotes Köpfchen mit braunen Haarbüscheln. Mein Baby duftet nach Vanille, lieblich, süßlich. Ich halte mein Baby fest. Und weine, weine. Kann nicht mehr aufhören zu weinen. Gefühle, die ich in den letzten Monaten, Wochen, Tagen in mein Innerstes gepresst habe, gestopft und gestopft, bis von außen nichts mehr sichtbar, alles glatt und makellos war, bersten aus mir heraus. Ich kann nichts dagegen tun.
Bitte, nehmen Sie es weg, sage ich zur Schwester. Dann noch einmal, bestimmter diesmal: Bitte.
Ich schlafe vielleicht zwei Stunden, dann zwinge ich mich aufzustehen, schleppe mich zum Waschbecken, um mich etwas frisch zu machen. Der Duft nach Vanille, er bleibt. Ich lasse mir ein Taxi rufen, fahre nach Hause. Der Duft nach Vanille begleitet mich.
Begleitet mich.
Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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