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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Besuch bei der Großmutter

© Cornelia Gellrich


Es regnet stark und beharrlich. Mich beruhigt das, hier regnet es immer, der Regen vermittelt mir ein schwaches Gefühl des Wiedererkennens. Ich bin in dieser kleinen Stadt aufgewachsen und ich fühle mich hier immer noch genauso fremd wie damals. Jetzt komme ich her, um meine Lieben zu besuchen, insbesondere die Großmutter. Ich bin mit dem Bruder in einem Café neben der Schule verabredet, die einmal unser beider Lebensmittelpunkt war. Er wohnt immer noch hier. Ich bin ein paar Minuten zu früh dran. Hineingehen will ich nicht, es wäre mühsam, jemand Bekanntes zu treffen, jemand vielleicht, mit dem ich die ersten 20 Jahre meines Lebens verbracht habe, nicht aber die letzten fünf. Ich warte also draußen. Das Café, Havanna heißt es, hat eine Markise, unter der wackelige kleine Holztische vor riesigen Strandkörben stehen. Ich setze mich in einen davon. Vor mir verschwindet die Welt in Regen und Dunkelheit, obwohl es Vormittag ist, aber ich sitze in einem Strandkorb zwischen riesigen Sonnenblumen.
Der Bruder kommt fast pünktlich. Ich sehe seinen großen dürren Jungenkörper unbeholfen-schlaksig durch das Wasser dringen, und neben ihm - wie erwartet - sein kleines blondes Mädchen. Sie halten sich nicht an der Hand, sie sehen sich nicht an, sie starren auf den Boden und es liegt nicht am Regen. Hallo, sagen sie, bei mir angekommen. Beide strahlen mich fröhlich an und beide drücken mich an ihre klammen nassen Körper, die mich nicht interessieren. Sie fragt, warum ich nicht drinnen gewartet habe, ich sage, mir gefiele es draußen im Regen. Sie sieht mich mit ihrem nachsichtigen, besorgten Krankenschwester-Blick an, der in mir den Wunsch nach Gewalt weckt. Der Bruder sagt, so ist sie, meine Schwester, immer noch ein bisschen verrückt. Die Menschen hier sind verschwenderisch mit Begriffen wie verrückt. Es genügt, Tomatensaft zu trinken oder den Regen zu mögen.
Wir machen uns auf den Weg zur Großmutter. Die Straßen sind eng, die Häuser klein und gedrungen, aneinandergeschmiegt. Meine fremde Heimat. Sie erzählen ein bisschen von ihren Freunden, die ich nicht kenne und von der gemeinsamen Wohnung, in der sie jetzt leben. Seine Stimme dunkel und laut, die Worte überholen sich gegenseitig. Ihre Stimme hell und schrill, immer ein bisschen mäkelnd und quengelnd. Sie reden gleichzeitig von verschiedenen Dingen, ich muss mich entscheiden, wem ich zuhöre durch das Prasseln des Regens hindurch, sie strengen mich an. Dann fragt sie, was mit dem Mann sei, von dem ich Weihnachten sprach und er assistiert: Seid ihr ein Paar, will er wissen. Ich verneine und beiße mir auf die spröden Lippen. Ich will nicht gemeinsam faulen im Schweigen, im Schaukelstuhl, ich will nicht ankommen vor der Zeit, ich will kein Haus bauen. Sie wissen das nicht, und ich schweige. Meine Schwester ist äußerst anspruchsvoll, was Männer angeht, erklärt er seiner Blonden. Ich sehe sie an, unsere Blicke stoßen durch die Regenwand kurz aufeinander. Ihrer ist abweisend. Meiner wahrscheinlich auch.
Wir kommen bei der Großmutter an. Als ich das letzte Mal in der Heimat war, hat sie noch woanders gewohnt, in dem Haus, in dem sie immer gewohnt hat, seit es mich gibt und die Mutter und länger. Jetzt ist sie noch einmal umgezogen. Sie musste flexibler sein als der Bruder in den letzten Wochen, sie hat viel erlebt. Neue Menschen traten in ihr Leben, neue Nachbarn hat sie bekommen und einen neuen Tagesablauf. Ihr Lebensraum ist klein, kleiner als im alten Haus natürlich, aber sie nimmt ja auch weniger Platz ein inzwischen. Die Eltern sehen uns an, doch sie sagen nichts, wir auch nicht und so hört man das Aufprallen der Regentropfen, die wir in unseren Kleidern mitgebracht haben, und die wir jetzt auf den Boden des großmütterlichen Zimmers streuen. Wir gehen gemeinsam in das sterile, weiße Bad, um unsere nassen Jacken aufzuhängen. Nahe dem Abfluss der Duschkabine entdecke ich dabei ein kurzes blond gefärbtes Haar vom Kopf der Großmutter. Ich hebe es auf und lege es zwischen zwei leere Seiten meines Notizbuches.
Viele Fotos hängen an den Zimmerwänden von ihren Menschen. 22 Fotos. 22 rechteckige Augenblicke machen die Essenz ihres Lebens aus, was bleibt. Die junge Mutter sehe ich da mit dem Kind auf dem Arm, das ich war. Sie lächelt in die Kamera, durch die sicher der Vater blickt, ich finde, das Kind, das mir nichts sagt, hätte mehr Anspruch auf ihr Lächeln gehabt. Auf einem anderen Foto bin ich, ganz klein zu sehen mit dem noch kleineren Bruder an der Hand, den ich sehr geliebt habe. Ihre vergilbten Eltern hat die Großmutter auch bei sich, der Nazi-Vater versteckt die blutigen Hände unter dem Bildrand.
Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers stehen Kaffee und Kuchen und unberührte Teller, ich hätte große Lust auf so ein Stück Erdbeertorte, ich fürchte aber, die Torte bleibt erst einmal unerreichbar für mich. Denn zwischen der Torte und mir steht mit gerötetem Gesicht die Mutter, wimmert mir ihren Schmerz entgegen und streckt die Arme weit aus nach meiner Brust. Ich aber finde nicht, dass es zu den Aufgaben einer Tochter gehört, die Mutter zu bemuttern, ihre Hilflosigkeit überfordert mich. Der Vater erlöst mich, meine Wange streift kurz die seine, unser beider Höchstmaß an Zärtlichkeit. Die Blonde des Bruders, die mit all dem nichts zu tun hat, obwohl ich sie neben dem Nazi auf einem frischen Fotopapier lächeln sehe, nimmt sich der Schwäche der Mutter an. Mein Blick gleitet befreit nach links, zu der Großmutter, der mein Besuch ja gilt. Doch die Großmutter ist nicht da, wie ich feststelle. In ihrem Bett liegt an ihrer statt eine unheimliche Puppe aus weißem Leder, die mir ein böser Hohn auf die Großmutter zu sein scheint. Der Großvater aber, der auf einem Stuhl neben der grauenvollen Puppe sitzt, streichelt von Zeit zu Zeit über die kalte Lederhand, jetzt sehe ich, wie sein alter Körper sich schwerfällig aufrichtet um unter großen Mühen einen Kuss auf die harten Lippen der Puppe zu drücken. Ich verstehe sein seltsames Verhalten nicht, dieses düsteres Ritual, das er zelebriert. Trotzdem trete ich zu dem Großvater. Meine Hand berührt seine Schulter. Ein Wassertropfen löst sich aus meinem Haar und fällt auf seine Glatze. Ich spreche mein Grußwort und sein Gesicht wendet sich dankbar dem meinen zu. Er freut sich über mich an seiner Seite, saugt meinen jungen Atem ein. Seine kleinen Augen sind so rot wie das Gesicht der Mutter, in den Falten seiner Haut fließen salzige Bäche, morgen früh wird die Gesichtshaut spannen und brennen. Er spricht zu mir mit heiserer Stimme und ich merke, für ihn gibt es tatsächlich eine Verbindung zwischen der Großmutter und der hässlichen Puppe in ihrem Bett, er kann beides in einem Gefühl zusammenmischen. Ganz zärtlich streichelt sein Blick das Leder, hinter dem ein paar Knochen liegen, sonst nichts. Des Großvaters Hand zwingt die meine auf die der Gruselpuppe, ich beiße mir auf die Lippen, kneife die Augen zu, halte die Luft an. Das Leder ist kalt wie erwartet und überraschend klamm. Vielleicht ist es auch Plastik. Mir ist schlecht, meine Kopfhaut kribbelt vor Ekel, in meinem Herz ist eine kindliche Angst, die ich fast schon vergessen hatte. Ich drehe mich um zum Großvater, greife seine heißen Finger mit den dicken Venen, in denen beruhigend gleichmäßig das Blut pocht. Als ich ihn so sehe, gebeugt unter der Last der Trauer, die tragen zu müssen er, der Ältere, nicht mehr erwartet hatte, werde ich müde. Was, frage ich mich, bleibt am Ende von all den flüchtigen Glücksblitzen. Um mich herum stehen kränkliche Kompromisse. Aber so ein unauffälliges Glück denke ich nun trotzdem, das ruhig und zahm in meiner Hand liegt, schwach leuchtend unter der Staubschicht der Jahre, hätte ich doch sehr gerne. Draußen hüllen immer noch laute Wasserfäden die Welt in Dunkelheit, respektvoll, wie ich finde, und ich blicke in mich. Am Bett der Großmutter sehne ich mich nach einer Hand, die in meiner faltig wird, nach Lippen, die auch meine Leiche noch zu küssen gewillt sind.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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