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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Anheisers Rache
© Horst Gerhold
"Nun, ganz so einfach war es auch wieder nicht."
Der füllige Mann schüttelte seinen grauhaarigen Kopf. Unverwandt schaute er durch das schmale vergitterte Fenster in den mondbeschienenen Nachthimmel. Mit einem entschlossenen Ruck drehte er sich zu seinem Gefangenen um.
"Immerhin hat es sich über zwanzig Jahre hingezogen, deine erbärmliche Visage ausfindig zu machen und hierher zu schaffen."
Der Dicke ging zwei Schritte auf die hagere Gestalt zu, die mit hängenden Schultern auf dem einfachen Holzstuhl hockte und ihn aus blutunterlaufenen Augen anstierte.
Er sieht noch jämmerlicher aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, dachte der Grauhaarige.
Er lief um den Stuhl herum und kontrollierte, vielleicht zum fünften oder gar zehnten Mal, die schwarze Kette und ihr blitzendes silberfarbenes Vorhängeschloss, mit dem sein Gefangener an die schmutzigen braunroten Heizungsrohre gefesselt war. Alles war in Ordnung, die Kette legte sich dicht um den spindeldürren Körper des etwa vierzigjährigen Mannes; das Schloss war eingerastet.
Mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf den Lippen, baute sich der Dicke vor seinem Häftling auf.
"Was, Kerner, das hättest du dir nicht träumen lassen, dass du mir noch einmal in die Hände fällst?"
Matthias Kerner hob seinen kantigen Kopf und blickte seinen Peiniger mit funkelnden Augen an.
"Verdammt, was wollen Sie von mir?" Es war herauszuhören, dass seine Stimme überzeugend und sicher klingen sollte. Doch es wurde ein kläglicher Versuch, sich seiner ausweglosen Lage entziehen zu wollen. "Sie machen sich in der Kneipe an mich ran, laden mich in ihre Wohnung ein, flößen mir heimtückisch irgendein Zeug ein und … und jetzt das hier."
Das Lächeln im Gesicht des Grauhaarigen nahm zu.
"Oh, mein Armer, habe ich dich überrascht?"
"Überrascht?" Kerner versuchte mit einer wilden Körperbewegung seinen Fesseln zu entkommen, was natürlich gründlich misslang. "Sie nennen das Überraschen. Ich sage Freiheitsberaubung, wenn nicht gar Entführung."
Der flackernde Schein der drei langen Kerzen, die auf einem brusthohen Metallschrank standen, tauchte den Kellerraum in ein trügerisches, beängstigendes Licht. Der Dicke lehnte sich neben dem Schrank an die kalte Wand und verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper.
"Entführung? - welch ein hässliches Wort. Kerner, ich sage dir was: Ich bin der Racheengel einer höheren Macht und du wirst vor das Angesicht meines Gerichtes treten."
"Verrückt sind Sie, komplett wahnsinnig. Ich frage mich, warum ich mir nicht längst die Lunge aus dem Hals schreie, damit das ganze Haus erfährt, welcher Irrsinnige hier seinen Schlupfwinkel hat."
Der Dicke breitete die Arme aus. "Nur immer zu, Kerner, schreie - schreie um dein Leben. Aber ich bin nicht so dumm, wie du dir einbildest - nicht mehr." Er kreuzte seine Arme wieder vor dem gewölbten Bauch, während seine Augen sich zusammenzogen. "Wir sind hier im Heizungsraum der alten Papierfabrik. Seit zwei Jahren ist niemand mehr hier gewesen. Glaubst du wirklich, das würde sich ausgerechnet heute Nacht ändern?"
Matthias Kerner stöhnte auf. Er ließ seinen mit wirren braunen Haarsträhnen bedeckten Kopf schwer nach vorne fallen. Es dauerte drei, vier Minuten, ehe er ihn wieder aufrichtete. Sein kantiges Gesicht überzog ein glänzender Schweißfilm und seine Augen flackerten.
"Was wollen Sie denn? Mich ausrauben? Ich bin ärmer als die ärmste Kirchenmaus, darauf können Sie wetten."
"Dich ausrauben? - hübscher Einfall. Zahn um Zahn, wie? Du bist völlig auf dem Holzweg, Kerner."
"Ja, um Himmels willen, was dann? Geht es um ein Lösegeld? Guter Mann, dann haben Sie mächtig daneben gegriffen. Für mich zahlt kein Schwein auch nur einen Cent. Eher müssten Sie noch was drauflegen."
"Ist mir klar." Der Dicke löste sich von der Wand und kam zwei Schritte auf Kerner zu. "Deine gewissenlose Seele ist keinen Pfifferling wert. Und jetzt", er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, "jetzt erst recht nicht mehr."
Kerner starrte seinen Widersacher lange an, ehe er einen neuen Gedanken fassen konnte.
"Sie sind ja pervers. Macht es Ihnen eigentlich Spaß, wildfremde Leute aufzureißen und in dieses Rattenloch zu stecken, um sich an ihrer Qual zu weiden?"
"Gerecht, Kerner, gerecht will ich nur sein. Außerdem - wer redet davon, dass wir wildfremde Menschen sind?"
"Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich kenne Sie nicht, Sie kennen mich nicht. Ich nenne das wildfremd."
"Eine weitere Selbsttäuschung in deinem verpfuschten Leben, Kerner." Der Dicke baute sich nahe vor seinem Gefangenen auf und sah ihm lange und durchdringend in die dunklen Augen, die bereits nach wenigen Sekunden zu zucken begannen.
"Sagt dir der Name Anheiser etwas?"
Kerner runzelte die Stirn und schwieg einen Moment.
"Anheiser?" Seine Stimme klang plötzlich merkwürdig dünn und unsicher.
"Anheiser?", wiederholte er, wobei die Falten in seinem Gesicht unvermittelt schärfere Konturen annahmen. Mit einem Mal hob er langsam den Kopf, seine Pupillen wurden größer und größer und der Schweiß schoss aus seinen Poren.
"Ich sehe, du erinnerst dich."
"Anheiser, Karl Eduard …"
"… und Anheiser, Maria, nicht zu vergessen." Der Dicke begann, vor Kerner auf und ab zu gehen.
"Zwanzig Jahre, zwanzig lange, mitleidlose Jahre sind seither vergangen. Aber wenn du gedacht hast, ich könnte vergessen … Wie kann ich das vergessen?" Er blieb stehen und starrte aus dem vergitterten Fenster. Ein Bild tauchte vor seinen Augen auf, das Bild einer schlanken blonden Frau, einer Frau, die er geliebt hatte, wie niemanden auf dieser Welt.
Das Rasseln der Kette brachte Karl Eduard Anheiser in die Gegenwart zurück. Kerner zerrte an seiner Fessel, obgleich er wissen musste, wie sinnlos es war, sie abschütteln zu wollen.
Anheiser grinste ihn an. "Gib dir keine Mühe, Kerner. Aus diesem Keller kommst du nie wieder hinaus."
"Herr Anheiser … glauben Sie mir … die Sache mit den Termingeschäften tut mir furchtbar Leid … ich … ich …"
Der Dicke packte Kerners Arm. "Dir tut es Leid? Was tut dir Leid?" Er schüttelte den Gefesselten, wie um ihn zur Besinnung zu bringen. Als er von ihm abließ, zeichneten sich in seinem Gesicht die Züge unendlichen Schmerzes ab. Gleichzeitig dehnten sich die Mundwinkel zu einem geraden, wie von einem Lineal gezogenen Strich.
"Nun, was tut dir Leid? Dass du eine angesehene Familie mit deinen Spekulationen an den Bettelstab gebracht hast? Dass du unsere Tochter, die diese Demütigung nicht ertragen konnte, aus dem Haus gedrängt hast? Oder dass du Maria, meine Maria, damit in den Freitod getrieben hast? Damals habe ich mir geschworen, dass du nicht davonkommst, mein Freund."
"Herr Anheiser …"
"Halts Maul. Jetzt ist meine Stunde da. Du hast mir alles weggenommen, was mir lieb und wert war. Meine Frau, meine Tochter, mein Heim und meinen Ruf. Mein Leben war mit einem Schlag vernichtet, weil ich - weil wir an die Redlichkeit eines gewissen Matthias Kerner geglaubt haben."
Anheiser begann erneut, vor seinem Gefangenen auf und ab zu gehen, während Kerner mit heftig pochendem Herzen nach einem Ausweg suchte.
"Drei Leben zerstört, Kerner, drei Leben. Dafür wirst du nun mit deinem bezahlen. Eine angemessene Rückzahlung deiner Schulden, findest du nicht auch?"
"Herr Anheiser, so glauben Sie mir …"
"Glauben, Kerner? Den Glauben an die Menschen habe ich längst verloren. Zwanzig Jahre lang habe ich dieses Kreuz getragen. Ich bin heute zweiundsechzig, aber ich fühle mich alt wie Methusalem. Meine Knochen werden morsch, meine Finger zittern und mein Herz - mein schwergeprüftes Herz wird nicht mehr allzu lange mitmachen. Seit Marias Tod schlägt es mehr unbewusst als gewollt. Das alles ist dein Verdienst, Kerner."
Matthias Kerner nickte behäbig, als habe er sich mit der Situation abgefunden. Seine funkelnden Augen jedoch, hätten einem aufmerksamen Beobachter ganz anderes erzählt. Karl Eduard Anheiser allerdings war weder aufmerksam noch willig, seinen Angeklagten zu beobachten. Heute war der Tag der Rache, seiner Rache. Und er gedachte, jede einzelne Sekunde davon auszuschöpfen.
"Aber ich will kein Unmensch sein." Angesichts seiner Fesseln und der ausweglosen Lage, überraschte Kerner diese Mitteilung. "Ich bin Ankläger und Richter in einer Person. Dennoch bekommst du Gelegenheit, dich zu verteidigen, wenngleich ich sicher bin, dass du bei der Schwere des Vergehens keine auch nur annähernd entschuldigende Begründung vorbringen kannst. Also, du hast die Anklage gehört, Kerner. Was sagst du zu deiner Verteidigung."
Matthias Kerner versuchte sich aufzurichten, so, als ob er dem hohen Gericht die gebotene Hochachtung erweisen wollte. Die Falten waren auf seine Stirn zurückgekehrt und der Schweiß lief nach wie vor in dünnen Rinnsalen durch sein Gesicht und hinterließ glänzende Spuren - Spuren eines zu Tode geängstigten.
"Es stimmt", begann er leise und wurde sofort von Anheiser unterbrochen.
"Sprich laut und deutlich, Angeklagter."
Kerner nickte und seine Stimme wurde spürbar schriller.
"Es stimmt, ich habe mich damals verspekuliert. Es tut mir Leid. Aber das ist auch anderen so gegangen. Warentermingeschäfte sind heikel und nicht ohne Risiko."
"Nicht ohne Risiko?" Anheiser schnaubte schwer. "Mindestens fünfzig Prozent Gewinn hast du uns versprochen. Von Risiko war nie die Rede."
"Verstehen Sie doch. Ich war … gewissermaßen in einer misslichen Lage. Einige meiner Anleger machten mir die Hölle heiß. Ich brauchte ihr Geld, bevor ich mich absetzen konnte."
"Und ich habe dir vertraut; wir haben dir vertraut. Maria hatte dich in ihr Herz geschlossen, wie einen Sohn, du erbärmliche Kreatur."
"Wie einen Sohn? Hat sie das gesagt?"
"Gesagt, gesagt. Das musst du doch gemerkt haben. In den Wochen, die du bei uns ein- und ausgegangen bist, warst du bald wie ein Familienmitglied."
Anheiser ging zurück zu dem Metallschrank mit den Kerzen, als müsse er Abstand von diesem hinterhältigen und treulosen Pseudo-Familienmitglied gewinnen. Kerner ließ ihn nicht aus den Augen. Er wusste, was jetzt kam, konnte sein endgültiges Aus bedeuten. Aber es war seine allerletzte Chance, den gespannten Bogen vor dem Zerbrechen zu bewahren. Er holte ein paar Mal tief Luft und stieß seinen Atem in den kalten Kellerraum.
"Haben Sie überhaupt einen Schlüssel für diese Kette, nur für den Fall, dass ich freigesprochen werde?"
Anheiser straffte sich. Zornesadern schwollen an seinen Schläfen. Die rechte Hand fuhr in die Hosentasche. Beinahe triumphierend reckte er die Hand in die Luft und wedelte mit einem langen, schlanken Schlüssel herum.
"Sieh her, du Wurm. Dieser Schlüssel wird dein Verhängnis sein. Dabei hätte nicht viel gefehlt, und du hättest vor zwanzig Jahren den Schlüssel zu unserem Haus erhalten, so sehr haben wir dich geschätzt und in unserer Familie aufgenommen."
Es war das erste Mal, dass sich um Kerners Mund so etwas wie ein Lächeln abzeichnete.
"Aber, Herr Anheiser, ich hatte doch einen Schlüssel zu ihrem Haus."
Der Arm des Dicken erstarrte in der Luft. Sekundenlang blieb es totenstill, ehe Anheiser die Hand mit dem Kettenschlüssel kraftlos fallen ließ.
"Du hattest … Wie soll ich das verstehen?"
Seine Augenbrauen hoben sich, während Kerners Schmunzeln stärker wurde.
"Sie hat ihn mir gegeben."
"Sie? Wer ist sie?"
"Maria."
"Maria hat dir … Davon weiß ich gar nichts."
"Damals, vor zwanzig Jahren, Herr Anheiser, haben Sie vieles nicht gewusst oder nicht wissen wollen. Vielleicht war es ihre Art, eine Frau zu lieben. Aber Maria, diese feinfühlige, wundervolle Frau hat unter dieser Liebe gelitten."
"Wie kannst du es wagen …"
"Halt - stopp! Jetzt habe ich das Wort, verehrter Richter. Ja, wie ein Richter sind Sie schon damals mit ihrer Familie umgegangen. Ein Patriarch, der keine andere Meinung neben der seinen duldete. Auch Melanie, ihre Tochter, litt unter dieser Diktatur. Aber Maria drohte unter dem Hammer dieses Richters zu zerbrechen. Ich war es, ja ich, Anheiser, der sie zu retten versuchte."
"Zu retten? Was meinen Sie?"
Es entging Kerner keineswegs, dass sein Ankläger plötzlich das vertrauliche Du vermied. Er sah seine Chance gekommen.
"Befreien wollte ich Maria. Befreien von Ihnen. Das Geld sollte uns eine gemeinsame Zukunft ermöglichen. Untertauchen wollten wir beide, weg von dem Mann, der wie ein Löwenbändiger Peitsche knallend seine Tiere beherrschte. In den vielen Wochen habe ich Maria gezeigt, was wahre Liebe ist. - An jenem Abend wartete ich an der Ecke mit dem Auto auf sie. Sie kam nicht, dachte, sie hätte es sich überlegt."
Anheisers Gesicht lief dunkelrot an, er keuchte.
"Das … das können Sie mir nicht weismachen. Das sagen Sie nur, weil Sie sich damit aus der Affäre ziehen wollen. Aber … sie verrechnen sich. Maria hätte mich niemals … mit einem anderen Mann … niemals …" Seine Stimme brach ab.
"Hatte sie nicht ein Muttermal an einer … nun … an einer nicht jedermann zugänglichen Stelle? Erinnern Sie sich?"
Die Röte in Anheisers Gesicht verdunkelte sich, die Augen quollen aus ihren Höhlen und seine Arme warfen sich Hilfe suchend in die Höhe, während er stockend auf Kerner zugehen wollte. Über seine Lippen quälte sich ein Röcheln. Plötzlich presste sich seine Linke auf das Herz. Ein unsäglicher Schmerz lief über Stirn, Augen und Wangen, bis zu seinem fassungslos aufgesperrten Mund. Angeschlagen, wie ein zu fällender Baum, dessen Jahresringe endlich vollzählig waren, stürzte der dicke Mann auf den staubigen Boden.
Seiner rechten Hand entfiel ein schlanker blitzender Schlüssel, der einen guten Meter vor Kerners Fußspitzen liegen blieb.
Die Kerzen brannten gnadenlos herunter. Niemand hörte das Winseln und Schreien eines hageren Mannes, der vergeblich versuchte, seine gefesselten Beine einen Meter auszustrecken.
Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.