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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Wenn sie schläft
© Christopher Weber
Sie liegt mitten auf dem Teppich und sieht im Grunde ziemlich tot aus. Ich gehe zu ihr hin und lege mein Ohr an ihr Gesicht, um festzustellen, ob sie wirklich tot ist oder ob sie wieder nur so tut. Das macht sie öfters. Sie rollt sich irgendwo zusammen und hält die Luft an, sobald ich meinen Fuß ins Zimmer setze. Manchmal hat sie sich außerdem noch Ketchup an den Hals geschmiert, damit das Totsein echter wirkt. Auch die Hände besudelt sie sich mit der roten Pampe. Das hat nichts zu tun mit Borderline. Eher schon
mit einem Faible für Dramatik.
Ich ignoriere sie dann einfach. Früher oder später muss sie sich das abgewöhnen. Am Ende stehen wir ja doch jedes Mal im Badezimmer und ich helfe ihr, das ganze Ketchup wieder abzuwaschen. Das ist eine Menge Arbeit, besonders wenn sie weiße Sachen angezogen hat.
Das Wohnzimmerfenster steht noch offen und der Wind wirft haufenweise Schnee herein. Er sammelt sich auf dem Teppich vor der Heizung, bleibt kurz liegen und schmilzt dann weg wie eine Botschaft, die sich selbst vernichtet, bevor sie jemand lesen kann. Meine Hand formt eine Schaufel, die sich durch den Matsch auf unserm Teppich gräbt. Ich muss ein bisschen weinen, nicht viel. Der Teppich ist auch so schon nass genug. Und das Salz in den Tränen ist auch nur gut, wenn Flecken zu entfernen sind. Ich mache das Fenster
zu und lege meine Hände auf die Heizung. Es ist ziemlich kalt im Zimmer, ich habe plötzlich Lust, die Heizung zu umarmen.
Beim Umarmen stören nur die vielen Rillen, aber nach ein paar Minuten hab ich mich daran gewöhnt. Warm, so warm.
Ich gehe in die Küche und hole mir einen Joghurt mit Erdbeergeschmack. Ich setze mich auf einen Stuhl nahe bei der Heizung und sehe ihr beim Schlafen zu. Ich denke: Wenn mir jetzt der Joghurtbecher runterfällt, werde ich wohl besser doch ein bisschen weinen. Um die Flecken leichter aus dem Teppich rauszukriegen.
Einfach so zum Spaß stehe ich nach einer Weile auf und schaue, ob sie immer noch nicht tot ist. Ich krieche auf sie zu und lege immer wieder kleine Pausen ein, um mit angehaltener Luft zu lauschen. Aber erst als mein Ohr fast an ihre Nase stößt, kann ich sie leise atmen hören. Ich wusste gar nicht, dass man so leise atmen kann. Wie eine Maus, wie ein Marienkäfer, wenn Marienkäfer atmen würden.
Normalerweise trägt sie Schminke auf, bevor sie stirbt. Sie lässt davor noch Wasser über ihre Augen laufen. Das sieht dann aus wie Tränen. Ein ganz, ganz alter Trick. Heute ist da keine Schminke.
Ich tippe sie ganz sachte mit dem Fuß an, aber sie schläft einfach weiter. Ich nehme Anlauf und springe elegant über sie hinweg wie ein Hürdenläufer über eine Hürde. Ich bin sehr lange in der Luft, jedenfalls kommt es mir so vor, und als ich mich genau über ihr befinde, kommt mir ein alberner Gedanke: Es gibt doch sicher Tote, die noch so ein bisschen atmen.
Ich versuche mir vorzustellen, wie das wäre, ohne sie. Ich müsste morgens nur noch halb so viele Brötchen kaufen. Dafür wesentlich mehr Taschentücher, in der ersten Zeit zumindest. Ich müsste das Licht anknipsen, wenn ich abends in die Wohnung komme. Niemand wäre da. Ich würde mir wohl einen Goldfisch kaufen. Und viel Radio hören. Sender, auf denen nur geredet wird. Ich würde das Telefonbuch durcharbeiten und mir die Anrufbeantworter fremder Leute anhören, auf der Suche nach einer Stimme, die so ähnlich klingt
wie ihre.
In meinem Kopf sind diese Augenblicke.
- Ich betrete die Wohnung und sie sitzt weinend auf dem Boden, in einem Meer aus abgeschnittenen Haaren. Ich streiche über ihren Kopf und denke an verdorrte Weizenfelder.
- Ich betrete die Wohnung und sie sitzt weinend vor dem einzigen Spiegel, den sie noch nicht zerbrochen hat: Sie hat diesen Tennisschläger in der Hand.
- Ich betrete die Wohnung und sie sagt zu mir: Ich liebe dich, und ich muss lachen, wir müssen beide lachen, wie über einen wirklich grandiosen Witz.
- Ich stehe vor der Tür und will die Wohnung nicht betreten.
Ich könnte sie auch küssen und schauen, ob sie dadurch aufwacht. Das hätte nichts zu tun mit Märchen. Eher mit natürlichen Reflexen, Synapsen, Nervenzellen undsoweiter.
Wenn ich in den Spiegel sehe, denke ich an Wüsten, Mondlandschaften, Telefonseelsorge. Und ich glaube, ihr geht es da nicht anders. Am Frühstückstisch sind wir so still wie die Leute in den Stummfilmen. Schwarzweißmenschen. Und beide warten wir darauf, dass irgendjemand endlich Schach sagt.
Ich weiß nicht, wieso sie heute eingeschlafen ist beim Sterben. Vielleicht liegt es irgendwie am Schnee. Oder am Lichteinfall, an den Mondphasen, ihrem Tageshoroskop, wer weiß das schon. Vielleicht war sie auch einfach müde, von dem ganzen Sterben jeden Abend.
Ich kann sie jetzt nicht auf den Armen ins Schlafzimmer tragen, wie es vielleicht ein Held tun würde. Das hat nichts mit fehlender Kraft zu tun. Eher mit - ich weiß es nicht. Liebe, vielleicht. Ich will die Stille nicht zerbrechen. Sie soll jetzt einfach weiterschlafen. Solange sie das tut, können wir uns nicht streiten, wir müssen nicht reden und nicht schweigen, atmen reicht vollkommen. Ich hole eine Decke, mache das Licht aus und lege mich zu ihr auf den Teppich. Das ist weicher als man denkt. Aber man hat
nicht zu denken, man legt sich einfach hin. Und wenn man sich nicht viel bewegt, kratzt es auch nicht.
Ich kann sie leise atmen hören, nicht lauter als das Foto eines Fotos einer Frau. Ich lege meine Hand auf ihren Kopf wie es die Wunderheiler tun. Sie fühlt sich warm an, als hätte sie da eine Heizung in sich drinnen. Sie wacht nicht auf, auch nicht, als ich noch ein bisschen näher rücke.
Ich rieche immer noch den Schnee, und wenn ich meine Augen öffnen würde, könnte ich die weiße Wand vorm Fenster sehen. Wie eine Bildstörung ohne Rauschen.
Aber ich will jetzt meine Augen gar nicht öffnen, nur daliegen und schlafen und diese Wärme ohne Feuer spüren.
Wir liegen mitten auf dem Teppich und für jemanden, der in diesem Moment ins Zimmer käme, sähen wir wohl ziemlich tot aus. Derjenige würde lachen und an irgendwelche Liebesdramen denken. Dabei sind wir doch nur müde.
Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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