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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das Nichtwissen
© Nicole Krieg
Eigentlich könnte alles ganz einfach sein. So dachte es auch Hans C. aus B. Er war ja immer ein einigermaßen guter Student gewesen, Student der Politikwissenschaften. Seine Eltern waren stolz, dass ihr Hans studierte, obwohl sie sich manchmal fragten, was das überhaupt war: Studieren. Früher hatte man eben einen Beruf erlernt wie Bäcker oder Tischler, aber heute wollten die jungen Leute studieren. Nun ja, Hauptsache aus dem Hans wurde etwas Ordentliches. Manchmal fragten sie ihn, was er denn gerade mache, dann
antwortete er meistens mit: "ich bereite ein Referat vor" oder "ich lerne" oder "ich schreibe gerade eine Hausarbeit". Die armen Eltern wagten dann nicht mehr, weiterzufragen, aber leider wussten sie mit diesen Antworten überhaupt nichts anzufangen. Ein Referat? Wozu? Lernen? Was denn? Er lernte schon seit mehr als drei Jahren und konnte trotzdem noch keinen Beruf ausüben. Die letzte Antwort war die mysteriöseste: eine Hausarbeit schreiben? Hausarbeiten mussten besorgt, getan, erledigt,
aber doch nicht geschrieben werden!
Hans jedoch wusste nichts von der Unsicherheit seiner Eltern seine Beschäftigung betreffend. Er sah sie nicht so häufig und sie redeten mehr über die Familie und den Apfelkuchen als über so abgehobene Dinge wie sein Studium.
Eines schönen Sommers begab es sich, dass Hans wieder einmal eine Hausarbeit schreiben musste. Er hatte inzwischen das neunte Semester hinter sich und sehnte einerseits das Ende dieser abstrakten und unproduktiven Studienzeit herbei, aber andererseits fürchtete er sich auch davor. Was sollte er danach überhaupt tun? Zum Glück vergaß er diesen Gedanken schnell wieder, als er sich an seine momentane Aufgabe erinnerte: die Hausarbeit. Die würde ihn wohl den größten Teil der Sommerferien beschäftigen. Eine Woche
verbrachte er damit, sich ein Thema zu suchen, das nicht schon fünfzig Leute vor ihm behandelt hatten. Das war nicht so einfach. Schließlich hatte er einen Titel für die Arbeit: "Hat die Sitzordnung im deutschen Bundestag Auswirkungen auf politische Entscheidungen?" Und als Untertitel: "Videoanalyse von 33 Bundestagssitzungen der letzten zehn Jahre ".
Hans war sich der Lächerlichkeit seines ausgewählten Themas bewusst. Er zog es jedoch vor, etwas Neues über ein lächerliches Thema zu verfassen als etwas Nicht-Lächerliches zum zwanzigsten Mal neu zu paraphrasieren. Und so gelang es ihm tatsächlich, bis zum Ende der Semesterferien dreißig computergeschriebene DIN-A4 - Seiten über das oben genannte Thema zusammenzubringen. Erleichtert hörte er seinen Drucker rattern und sah ihn die ordentlichen weißen Blätter mit schwarzen Buchstaben und Diagrammen füllen. Sogar
ein bisschen Stolz gesellte sich zu ihm angesichts der vollbrachten Leistung. Die ordentlichen Seiten wurden sortiert und noch ordentlicher zu einer Art Buch vereint. Hans hatte keine Lust, das Ganze noch einmal durchzulesen. Es hatte ihn schon lange genug gelangweilt. Ein paar Tippfehler konnten getrost darin verbleiben. Bereits eine Woche vor dem ultimativen Abgabetermin brachte Hans die Hausarbeit zur Universität. Der zuständige Professor war natürlich nicht da, aber auf die Sekretärin war Verlass, sie nahm
das Ding gleichmütig entgegen.
Froh, es losgeworden zu sein ohne dass es in letzter Sekunde in den Regen geraten oder in die Hundescheiße gefallen war, machte sich Hans direkt auf den Weg in den Stadtpark, um die letzten sonnigen Tage vor Semesterbeginn noch richtig zu genießen. Endlich brauchte er nicht mehr über die völlig irrelevante Sitzordnung im deutschen Bundestag nachzudenken.
Ungefähr zwei Monate nach diesem Tag kam es Hans plötzlich in den Sinn, mal eben nachschauen zu gehen, ob der Professor seine Hausarbeit schon korrigiert und ihm womöglich einen Schein ausgestellt hatte. Nach der Vorlesung stieg er die Treppen des Unigebäudes zum Büro des Professors empor. Vor dessen Tür warteten bereits neun Leute, so stellte sich Hans hinten an und unterhielt sich geduldig mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen über allerlei Studiumsdinge und über ausgelaufene Getränke und von Büchern zerquetschte
Bananen in studentischen Rucksäcken, bis ihn endlich ein ziemlich ungeduldiger Professor Pingel (so hieß er nämlich) hereinbat.
- Guten Tag Herr Pingel.
- Guten Tag.
- Ich wollte mich nur schnell erkundigen, ob Sie meine Hausarbeit schon korrigiert haben.
- Wie ist Ihr Name?
- Hans C.
- Mal sehen... Ah, hier habe ich etwas.
Der Professor schlug die letzte Seite der Arbeit auf, wo er mit Rotstift einige Bemerkungen und eine Note hingekritzelt hatte.
- Leider musste ich Ihre Arbeit mit fünf bewerten, Herr C. Ihre Idee und Ihr Ansatz haben mir gut gefallen, aber die Durchführung war mir etwas zu schwammig. Wir können uns ein andermal, wenn ich mehr Zeit habe, noch einmal darüber unterhalten und sie können das Thema daraufhin ein zweites Mal bearbeiten und ...
Hier fiel ihm Hans ins Wort.
- Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Herr Pingel, aber ich bin der Meinung, dass es nicht nötig sein wird, das schwammige Ding zu überarbeiten, weil ich mich hiermit davon distanziere.
Er nahm dem Professor, der nun wie ein gekochter Hammel dreinschaute, die ordentlichen Seiten aus der Hand und übermalte seine Adresse und seine Unterschrift mit einem dicken schwarzen Filzstift, den er von Professor Pingels Schreibtisch aus einem Plastikstiftbehälter aus den sechziger Jahren genommen hatte.
- Das schenke ich Ihnen, Herr Pingel, sie können es ja als schlechtes Beispiel einer Hausarbeit für die Studenten, die nach mir kommen, aufbewahren.
Als die Tür hinter Hans zufiel fühlte er sich seltsam. Langsam stieg er die Treppen hinab in die Aula. Dort stand er eine Weile ohne zu wissen, was er als Nächstes zu tun hatte, und das zum ersten Mal in seinem Leben. Bisher hatte es immer ein Referat, eine Klausur oder eine Hausarbeit vorzubereiten gegeben und irgendwann, auch das wusste er, eine Abschlussprüfung. Aber jetzt wusste er plötzlich, dass er nichts wusste und dass es nichts vorzubereiten gab. Diese Erkenntnis traf ihn spontan und er hatte nicht damit
gerechnet.
Was sollte nun geschehen, jetzt, da es nichts mehr zu tun gab? Und was war mit den Jahren passiert, in denen es immer so viel vorzubereiten gegeben hatte?
Hans stand immer noch da und keiner der vorbeigehenden Studenten wunderte sich über ihn. Sie dachten wohl, dass er gerade eine mündliche Prüfung hinter sich hatte und deshalb noch etwas benommen war. Wenn sie wüssten ... Sie wussten nichts und Hans spürte mit entsetzlicher Klarheit, dass er der einzige war, der es wusste und dass er es ihnen nicht sagen konnte, weil sie nicht dafür bereit waren.
Langsam setzte er sich in Bewegung und ging durch die große Tür der Universität ins Freie. Es gab für ihn jetzt nur noch eine Möglichkeit: er musste warten, bis er wieder wusste, was er zu tun hatte oder ob es überhaupt noch etwas zu tun gab. Die Absurdität seiner Gedanken versetzte ihn in einen berauschenden, taumelnden Schwindelzustand. Er bemerkte nämlich, dass es doch immer wieder etwas zu tun gab, das geplant werden musste. Jetzt zum Beispiel musste er seine Beine und Füße in Bewegung versetzen und zum Stadtpark
gehen. Warum überhaupt? Warum konnte man die Planung nicht einfach abschalten und so völlig frei sein, damit alles andere so unwillkürlich wäre wie das Atmen und die Verdauung?
Die Gedanken in seinem Kopf rasten wie eine Maschine, die unkontrollierbar geworden war und der Schwindel nahm stetig zu, als er schließlich im Stadtpark ankam und sich dort mechanisch auf einer Bank niederließ.
Es war dunkel und er erwachte und wusste nichts. Neben ihm saß eine Gestalt auf der Parkbank und starrte ihn an. Es war ein Penner, das merkte Hans sofort an dem Geruch, der von ihm ausging, denn in der Dunkelheit war er nur verschwommen wahrnehmbar.
- Du sitzt auf meiner Schlafbank. Such' dir 'ne andere. Du siehst sowieso nicht aus wie einer, der draußen übernachten muss.
Hans war jetzt nicht mehr benommen, aber immer noch von den Gedanken, mit denen er eingeschlafen war, eingenommen. Er wollte sie nicht wegjagen, oh nein! Sie waren viel zu wertvoll, er musste auf sie Acht geben, um sie nicht wieder zu verlieren. Sein Bewusstsein war scharf wie die Augen eines Nachttieres.
- Ich muss überhaupt gar nichts mehr. Ich bin frei, antwortete er dem Fremden.
Der Fremde schaute Hans durchdringend an und begann zu reden.
- Ich scheiße auf die Freiheit. Die Freiheit ist eine Lügnerin und sie raubt mir den Verstand. Seit ich frei bin, muss ich ihn nur noch dafür einsetzen, etwas zu essen zu suchen. Davor dachte ich, Freiheit macht den Kopf frei. Jetzt weiß ich, dass sie die schlimmste Fessel ist. Ich wollte frei sein, habe meinen Bürojob aufgegeben, um bei mir zu Hause mein eigenes Büro aufzumachen und keinen Chef mehr zu haben. Es war die Hölle. Ich war für mich der schrecklichste Chef, den man sich vorstellen kann, Tag
und Nacht gearbeitet für keinen Lohn. Ja, die Schulden wuchsen, die Investitionen brachten keinen Erfolg. Man sagt immer so schön, die Schulden seien ein Berg. Oh wenn sie doch ein Berg wären! Man könnte über sie drüberklettern. Aber sie sind kein Berg, sie sind ein Abgrund, ein Loch ohne Boden und die Ränder des Abgrundes sind glitschig und verändern sich, man kann ihn nicht umgehen. Er frisst alles und wird nie satt, das Loch ist unauffüllbar. Man fühlt sich schuldig wegen der Schulden.
Na schön, dachte ich, du wolltest ja deine Freiheit, da hast du sie, jetzt hast du nichts mehr und bist ein Penner und brauchst dir keine Gedanken mehr über deinen Besitz und dein Vorankommen zu machen. Dachte ich. Aber die Freiheit existiert nicht. Ich weiß es jetzt ... Sieh mal, jetzt fängt es an zu regnen.
Tatsächlich begannen dicke Tropfen aus dem tintigen Himmel zu platschen.
-Komm, lass' uns zur Brücke gehen.
Hans schwieg und folgte dem Mann. Wortlos gingen sie zum Fluss, der die Stadt in zwei Teile zerschnitt.
- Der Regen fällt gerade vom Himmel herunter, sagte der Penner. Das heißt, dass es genügt, einen Platz unter der Fußgängerbrücke zu suchen. Unter der Straßenbrücke wird es sehr laut in der Früh.
Hans sagte immer noch nichts. Sie waren an der Fußgängerbrücke angelangt und rutschten die schmierige Uferböschung hinunter. Der Regen war stärker geworden. Hans versuchte, seine Gedanken von vor dem Treffen mit dem Penner nicht verblassen zu lassen. Doch schon kurz darauf fiel er wieder in diesen tiefen, dickflüssigen Schlaf, der ihn wie ein zäher Teig umgab bis zum frühen Morgen.
Wie am vorigen Abend wachte er plötzlich auf und wusste noch, dass er nichts wusste. Er blickte um sich. Die Gestalten mehrerer Wohnsitzloser lagen unter dem schmalen Band der Brücke und manche röchelten im Schlaf vor sich hin. Die Sonne ging auf, es wollte wohl ein schöner Tag werden. Hans begann zu denken. Unter der Brücke war es feucht und schattig. Das Wasser des Flusses roch faulig. Oben auf der Brücke musste es schön sein, denn Flüsse und große Straßen sind wie Lichtschneisen und die Brücken sind Lichtinseln
in einer Stadt voll Häuserschatten.
Hans hörte nun die hallenden Schritte von sehr hohen Absätzen über seinem Kopf auf dem schmalen Brückenband klappern. Das war bestimmt eine schöne Frau, die zur Arbeit ging, so schlich sich ein Gedanke durch seinen Kopf. Er hatte Hunger und Kaffeedurst. Er trat aus dem Schatten der Brücke.
Und da war es passiert, ohne dass er es bemerkt hatte. Er wusste nicht mehr, dass er nichts wusste.
Er strich sein Haar ordentlich glatt und machte sich auf den Weg zum Bäcker.
Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.