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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Röcke

© Thomas Steiner


Es waren also Zigeuner, dachte ich, die ersten, die ich in meinem Leben gesehen habe. Deshalb der böse Blick auf mich, den ich nie vergessen habe.
Ich sehe die Bilder bis heute, ich sehe die Gesichter, die Körper, die Farben, die Straße, das Wetter, ich höre die Stimmen, die Schritte, die Geräusche der Wiese gegenüber. Dabei ist gar nicht viel geschehen, und es ist schon 25 Jahre her. Ich glaube, ich habe mir alles nur wegen dieses bösen Blicks gemerkt. Es war in Irland, weit weg von Zuhause. Ich war keine zwanzig, ich war allein und neugierig und hatte noch nicht viel gesehen. Ich stand am Straßenrand, zwischen Sonne und Regen, zwischen Grün und Grau, ich stand nur da und schaute. Zu dieser Zeit machte ich das oft, einfach so dastehen und schauen.
Ich stand also da, an ein Mäuerchen gelehnt und die Ellbogen aufgestützt. Es war warm und ruhig. Ich erinnere mich gut an die Ruhe, es war eine schöne sommerliche Mittagsstille. Ich bemerkte die drei Mädchen erst spät, als sie schon fast bei mir waren. Die älteste sprach mich an, sie war vierzehn oder sechzehn, wie soll ich das schätzen, die beiden anderen waren klein, kleine Mädchen am Zipfel der Großen. Sie lachten alle drei, sie strahlten mich an und die Große bat mich um sofort Geld. Sie hatte ein fröhliches Gesicht mit glatter Haut, dunkeläugig, braune Haare mit Zopf und ein paar offenen Strähnen, sie hatte weiße Zähne und sie lachte. Ich sehe immer noch, wie sie lachte. Sie gefiel mir sofort. Sie bemerkte, dass ich nicht verstand, und bat mich noch einmal um Geld. Jetzt verstand ich. Ich war verblüfft und musste erst umschalten von ihrem Gesicht und ihrem Lachen auf ihre Frage, ich wusste nicht recht was und wie, und gab ihr dann endlich ein paar Münzen. Sie sah die Münzen an und ich sah dabei auf ihre Hand, in der sie die Münzen hielt. Sie hatte zerkaute Nägel, die zerkauten Nägel sehe ich noch genau, sie hatte breite Hände und Finger mit zerkauten Nägeln. Dann steckte sie die Münzen weg und bedankte sich kurz, und die drei drehten sich um und ließen mich stehen.
Erst jetzt sah ich, dass sie lange bunte Röcke trugen. Sie gingen weg und ich schaute auf ihre Röcke. Die Große trug einen bodenlangen gelben Rock mit kleinen Mustern, ich sehe den Rock heute noch schwingen, er schwang um die Hüften und die Beine und es muss wohl auch ein leichter Wind gegangen sein, denn der Rock flatterte zur Seite. Auch die beiden Kleinen trugen lange bunte Röcke. Ich hatte noch nie solche Röcke gesehen, aber sie erinnerten mich an Bilder; ich wusste nur nicht, an welche. Ich stand da und fragte mich, woran mich diese Röcke erinnern. Viel später sah ich sie dann wieder, in Berlin, an U-Bahnstationen, Frauen mit dunklen Gesichtern trugen sie.
Frauen mit eingewickelten Kindern, die an den Eingängen der U-Bahnstationen saßen und mir die Hände entgegenhielten. Sie waren aus Rumänien, hieß es, und nach einigen Monaten waren alle wieder verschwunden.
Noch während ich den drei Mädchen nachschaute, trat eine andere Frau auf mich zu. Sie war plötzlich da und stellte sich genau vor mir auf. Ich sehe ihre Augenschlitze noch genau, den eingezogenen Mund, das vorgeschobene Kinn. Ihr Gesicht schien faltig, als wäre sie alt, aber sie war nicht alt.
Sie war höchstens vierzig. Die Falten um die Augen und den Mund hatte sie nur in diesem Augenblick, ihr Gesicht war verzerrt von dem, was sie gerade fühlte. Heute weiß ich, was sie fühlte, es ist nichts Schönes. Sie sprach langsam und deutlich, sehr klar, sie hatte mich als Touristen erkannt und sie betonte jede Silbe einzeln: ‚You should not give them money!' Die verkniffenen Augen öffneten sich wieder, sie entspannte sich in drei oder vier Sekunden und sah mir jetzt offen in die Augen. Ich muss völlig verdutzt ausgesehen haben. Sie sah mich ernst an, doch dann lächelte sie freundlich und plötzlich war sie eine hübsche Frau. Sie sagte aber nichts mehr, drehte sich um und ging. Ich sah ihr nach, wie sie davonging, und dann schoss mir in den Kopf, was sie meinte, die Röcke!, das also war es. Jetzt wusste ich, an welche Bilder sie mich erinnerten. Es mussten Zigeuner sein, dachte ich, keine normalen Bettler. Bettler gab es damals viele in Irland, Iren in normalen Kleidern, unauffällig, schlicht, grau, gedrückt, gar nicht so wie diese eben. Niemand sagte etwas, wenn man normalen Bettlern Geld gab. Nicht so, wie bei diesen. Diese waren anders. Ich wollte wieder nach den Mädchen sehen, aber sie waren schon weg. Ich stand noch lange in der Mittagsstille, von niemandem mehr beachtet, bevor ich schließlich weiterging.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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