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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Hochzeit machen

© Norfran Schaaf


Eine Hochzeit wurde gefeiert im Herzen des Ruhrgebietes, die Großeltern wollten das so, und deshalb nahmen sich alle zwei Tage Urlaub, die Kinder bekamen schulfrei.
Bei der Hochzeitsfeier hatten insgesamt achtundsechzig große und kleine Gäste an einem langen u-förmigen Tisch im Innenhof vor der Mietskaserne gesessen, in der die Braut aufgewachsen war. Der Bräutigam hatte mit Eltern und Geschwistern, Freunden und Nachbarn, Onkeln und Tanten angestoßen, hatte die kleinen Kinder durch die Luft gewirbelt, hatte Schnurren erzählt, die er aus dem Schacht kannte, hatte die Leute zum Lachen gebracht. Und neben ihm hatte die Braut gesessen, mit weitem, knöchellangem Hochzeitskleid, mit tief ausgeschnittener Bluse und breitem Gürtel, mit offenen, gekrönten schwarzen Haaren und klirrenden funkelnden Reifen um beide Handgelenke. Und sie lachte wie alle anderen, lachte und war froh und aß mit gutem Appetit.
Am meisten lachten die Kinder und vergaßen beinahe das Essen dabei. Sie spitzten die Ohren, als eine Tante munkelte, das Schlafzimmer sei in dieser Nacht für das Brautpaar reserviert, mit Blumenkränzen geschmückt, auf dem Boden freilich stünden große mit Wasser gefüllte Glasschalen, die Oberfläche dicht bedeckt mit Erbsen, und unter den Matratzen seien zwei Glöckchen befestigt. Nach vielen Walzern zu den Klängen eines Akkordeons wurde das Brautpaar schließlich bis zur wurmstichigen, heruntergetretenen Türschwelle begleitet und seinem Schicksal überlassen, während die Gäste draußen weiter tanzten und tranken.
Die letzten Gäste scheuchten selbstvergessen die aufgekratzten Kinder in die Betten.
Kara und Suggi freilich hatten sich unbemerkt aus ihrem Zimmer in die blumengeschmückte Laube am Bahndamm gleich nebenan geschlichen, der das Grundstück begrenzte.
Hinter der verschlossenen Tür hatte er sie angesehen: Suggis dichte Wimpern über gesenktem Blick, kleiner Schmollmund, der sich verzog, um Weinen oder Lachen zu unterdrücken. Die Klänge des Akkordeons hallten wie ein melancholisches Lied in Karas Kopf nach, als er sah, wie sich ihre weiche Brust hob und senkte, aus Angst oder vor Spannung.
Suggi setzte sich auf die abgewetzte Sofakante.
Kara setzte sich neben sie.
Und weil er sie so gern beruhigen wollte, streichelte er behutsam ihre Haare.
Suggi dachte, dass es sich so anfühlen musste, seine behutsamen Fingerspitzen auf ihren Haaren, so musste es sich anfühlen, sein Atem an ihrer Schläfe, in einem Kuss, der so leicht war wie eine Berührung mit einer Brieftaubenfeder. Aber er redete so seltsam; er flüsterte schöne Worte, sanft, mit tiefem Ernst erfüllt, er sagte, wie schön sie sei und wie schön er alles für sie machen wolle.
Zuerst erzählte Kara von dem noch nicht gestrichenen neu gebauten Holzhaus oberhalb des Forellensees und des Bahndamms, in dem er für Suggi und sich Platz gefunden hätte. Sie bekämen ein eigenes Zimmer und würden sich die Küche mit zwei Hunden teilen, ein Wohn- und ein Schlafzimmer und ein Arbeitsraum, in dem Suggi lesen und werkeln konnte. Ein Herd sei schon vorhanden, und er würde Kommode und Schrank und Tisch zimmern; was meinte sie, wie viele Stühle würden sie wohl brauchen? Er würde zusammen mit den anderen das Haus außen anstreichen, ob Suggi gern in einem weißen Haus wohnen wollte, oder wäre ihr ein grünes lieber, sie war doch in einem grünen aufgewachsen. Denn Suggi sollte bestimmen: Wie viele Schubladen die Kommode haben und wie tief die sein sollten; sollte die Kommode so bleiben, wie sie war, und nach frischem Holz duften, oder sollte er sie rot anstreichen?
Mit dieser Beschreibung des Hauses und der Gegenstände, die zu ihrem unvorstellbaren Zusammenleben gehören würden, schien er es sichtbar und in gewisser Weise möglich zu machen. Oder war Rot vielleicht zu düster? Wollte sie die Kommode lieber helllila haben, wie die Fliederblüten im Sommer, oder gelb, wie der Löwenzahn und das funkelnde Strahlengelb der Sonne? Und wollte sie weiße, leichte, fast durchsichtige Vorhänge vor den Fenstern, oder vielleicht schwere, ehrwürdig tief rote, wie er sie hinter den Fenstern der Villen in der Oberstadt gesehen hatte? Kara wollte Stoff kaufen, dann könnte Suggi nähen, sie sollte sich einfach den passenden aussuchen, er hatte Geld in einem Schweinchen, Ersparnisse, die mit seinem ersten selbstverdienten Euro angefangen hatten. Wann das wohl gewesen sei, fragte Suggi in der singenden Grenzlandmischung aus Rheinisch und Ruhrpottslang.
Der zweite Teil der Hochzeitsnacht fing damit an, dass der Bräutigam aufstand und für sie einen Clown spielte, den dummen August, der durch das Sägemehl der Manege stapfte und dabei über der einen Schulter den Krummstock mit dem Bündel und über der anderen das an einem Riemen befestigte Akkordeon trug. Er lief in dem kleinen Raum hin und her, pfiff und wirbelte mit den Füßen unsichtbare Steine hoch, und die Braut lachte, hell und klangvoll, während sie seine Hoffnung teilte, als erstes einer Glücksfee zu begegnen.
Hernach erzählte Kara Märchen. Er spielte den jüngeren von zwei Rittern, die auf ihn zugeritten waren, einen jungen verliebten Herrn, für den er unter der Vormittagssonne einen Brautwalzer spielen sollte, denn es musste doch ein gutes Omen sein, wenn einer, der auf Freiersfüßen ging, einen Brautmarsch hörte. Danach ritt der junge Bewerber in munterem Trab über die Felder und in den Wald, und dort fand er seine Geliebte.
Und er half ihr von ihrem tänzelnden Ross und breitete für sie seinen Umhang über einen moosgrünen Stein. Dann fiel er auf die Knie und bat um ihr Ja.
Und Kara fällt auf die Knie, und Suggi gibt ihm kichernd ihr Ja-Wort, und Kara fasst sie überrascht um die Taille und küsst die Knie der Braut.
Nun erzählt Kara von der prunkvollen Hochzeit auf einem Gut, von Türmen von Leckerbissen und Tonnen voller Bier und Wein, von tanzenden Damen in Brokat und Seide, von einem kleinen Musikanten, der zwischen Schüsseln und Kerzenleuchtern auf weißem Damast stand und spielte, mit weit offenen Augen, während mit Ringen besetzte, seidenweiche Hände seine Locken und seinen jungen Körper streichelten.
"Und dann?", fragt die kleine Braut mit hungrigen, staunenden Augen.
"Dann verschwinden Braut und Bräutigam in einem Alkoven, um allein zu sein, in einem schön geschmückten Zimmer mit Blumen in frischen Farben, wo ein Ring aus Schalen mit getrockneten Kräutern das Bett umgibt, mit Kräutern für Fruchtbarkeit und Freude, Kräutern für Gesundheit und ein langes Leben, für Reichtum und Ehre ..."
"Und dann?", fragt Suggi.
"Dann fällt der stolze junge Mann auf die Knie und bindet seiner Braut die Schuhe auf."
Und Kara bindet Suggis Schuhe auf und jammert beim Anblick dieser Schuhe, die so abgenutzt und viel zu klein sind, und er murmelt, dass er ihr neue Schuhe kaufen wird, sobald er sich das leisten kann.
"Und dann?"
"Mit zitternden Händen öffnet er ihr Mieder."
"Und dann?"
"Dann öffnet er die Knöpfe an ihrem Brautrock und löst die Bänder." Mit sanften, vorsichtigen Händen entfernt Kara Suggis Kleidung, ein Stück nach dem anderen, bis sie nackt vor ihm steht.
Er zieht sie auf seinen Schoß und streichelt sie wie ein Baby, verwundert und ernst, streichelt ihre weißen Arme, ihre runden Schultern, ihren biegsamen Rücken, streichelt und streichelt und bedeckt dabei ihre Haare und ihr Gesicht mit leichten Küssen.
"Und dann?", flüstert Suggi fast unhörbar.
Kara wird von plötzlicher Freude erfüllt, er legt sie behutsam auf das Sofa, wendet sich von ihr fort und zieht sich aus, und Suggi betrachtet seinen nackten, sonnengebräunten Rücken, der allmählich sichtbar wird, seine muskelstarken Arme und die kräftigen Oberschenkel. Zum ersten Mal sieht sie einen ganz nackten des anderen Geschlechts, doch sie weiß, dass ein nackter Mann so aussehen muss, genau so muss ihr Mann aussehen, ein schöner, lebendiger Körper, schön für sie, die ruhig auf dem Sofa liegt und geduldig alles abwartet, was nun passieren wird.
"Willst du?", flüstert er.
Und sie zieht ihn zu sich herunter, um ihre Nacktheit an seiner Haut zu verstecken.
"Wo hast du den ersten Euro in deinem Kästchen her?", fragt Suggi später.
"Das war fürs Austragen von Werbezeitungen."
"Wechselst du nach den großen Ferien auch aufs Gymnasium?"
"Nein, ich soll in die Realschule gehen."
"Kannst du nicht auch zur alten Penne gehen?"
Und Kara beugt sich über seine Freundin und ist erfüllt von seltsam beschwerter Leichtigkeit und melancholischer Freude.



Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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