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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der letzte Wunsch
© Ina Mayr
Es war einer der seltenen schönen Tage im November. Von einem glasklaren blauen Himmel strahlte eine weißliche Sonne und ließ den Raureif an den Bäumen glitzern wie kleine Kristalle. Ein Tag wie dieser hätte ihr gefallen, da war ich sicher. Wer weiß, vielleicht hatte sie ihn sich genauso gewünscht für ihre Beerdigung.
Die wenigen Angehörigen standen etwas abseits von den übrigen Trauergästen. Die Tochter, klein und zierlich wie ihre verstorbene Mutter, und der Schwiegersohn, das genaue Gegenteil seiner Frau. Sein dunkelblauer Mantel spannte sich bedrohlich über einem gewaltigen Bauch, und ich befürchtete, dass die Knöpfe jeden Moment wie Geschosse durch die Luft sausen könnten, sobald er tief einatmete. Dann waren da noch die beiden Enkel: eine plump wirkende junge Frau mit rotblonden Haaren, ebenso übergewichtig und unvorteilhaft
gekleidet wie ihr Vater, sowie ihr offensichtlich jüngerer Bruder. Er hatte die Zierlichkeit seiner Mutter und Großmutter geerbt, die ihn fast feminin erscheinen ließ. Denkbar unvorteilhaft für einen jungen Mann in seinem Alter. Aber was richtet der Mensch schon aus gegen die Launen der Natur? Da nützte es auch nicht viel, dass er sich in schwarzes Leder kleidete und die dunklen Haare ganz kurz geschnitten waren. Seine Mutter trug einen eleganten schwarzen Mantel mit Pelzkragen und ein kleines Hütchen mit einem
Schleier, der das halbe Gesicht bedeckte. Sie war die einzige der Familie, die in punkto Kleidung Geschmack bewies, ganz klar das Erbe ihrer Mutter.
Die übrigen Trauergäste bestanden hauptsächlich aus Mitbewohnern des Altenheims, in dem sie ihre letzten Jahre verlebt hatte. Für viele von ihnen waren die Beerdigungen der anderen Heimbewohner die wenigen Höhepunkte, die ihnen in ihren reglementierten Alltag noch blieben. Die jungen Pfleger, die ihren Zivildienst im Altenheim ableisteten, wurden mobilisiert und schoben die, die nicht mehr selber gehen konnten, in Rollstühlen über den alten Friedhof.
Ich freute mich, endlich aus der Kapelle herauszukommen, in der es kalt und klamm war und penetrant nach Weihrauch gerochen hatte, der sich mit dem schweren Duft der Blumen vermischte. Die klare, kalte Luft tat mir gut und ich sog sie tief in meine Lungen. Das Familiengrab der Saßners lag am entgegengesetzten Ende des Friedhofs, fast schon an der Mauer, die ihn vom dahinter liegenden Rübenfeld eines Bauern trennte. Noch trennte. Es würde nicht mehr lange dauern und der Bauer bekäme eine Menge Geld für seinen
Rübenacker, den die Gemeinde dann ebenfalls als letzte Ruhestädte nutzen würde, da die Stadt kontinuierlich wuchs und der Friedhof schnell zu klein wäre.
Ein überschaubarer Zug von Trauernden setzte sich in Bewegung und folgte dem Sarg. An ihrer Spitze ging angemessenen Schrittes der Pastor, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Hinter ihm kamen die Angehörigen der Verstorbenen, dann die übrigen Trauergäste. Ich reihte mich am Ende in die Prozession ein.
Weiße Atemwölkchen stiegen in den Himmel, als der Pastor seine Andacht am Grab sprach. Ich blickte auf den Sarg, der darauf wartete, seine letzte Reise anzutreten. Es musste ein hartes Stück Arbeit gewesen sein, dieses Loch in die gefrorene Erde zu graben. Für das trauernde Auge war das Grab mit einem dieser unnatürlich wirkenden Kunstrasen ausgekleidet. Auf dem Sarg lag ein schlichter Blumengruß mit weißen Lilien, ihren Lieblingsblumen. Ihr Weiß leuchtete mir entgegen, ließ meine Gedanken abschweifen, und vor
meinem inneren Auge lief die Zeit, die ich mit Frau Saßner verbracht hatte, wie ein Film ab.
Vor zwei Jahren, als meine Großmutter starb, fasste ich den Entschluss, mich ehrenamtlich um einen alten Menschen im ortsansässigen Altenheim zu kümmern. Viele dort haben keine Verwandten mehr, die sich um sie kümmern können oder wollen. Bei anderen wiederum leben die Kinder zu weit weg, wie im Falle von Frau Saßner. Ihre Tochter hatte einen Kanadier geheiratet und lebte seit über zwanzig Jahren mit ihrer Familie in Kanada. Aufgrund dieser Entfernung sah man sich nur alle Jubeljahre einmal, immer dann, wenn ein
wichtiges Ereignis bevorstand. Frau Saßner selbst war nur zweimal in Kanada bei ihrer Tochter gewesen. Sie litt unter Flugangst und so bedeutete es jedes Mal eine Tortour. Der letzte Besuch der Tochter lag drei Jahre zurück. Sie kam zur Beerdigung ihres älteren Bruders. Der Sohn von Frau Saßner war im Alter von 72 gestorben, nur zwei Monate nach seiner geliebten Frau. Der sonstige Kontakt beschränkte sich meistens auf Briefe oder gelegentliche Telefonate an Geburtstagen oder zu Weihnachten.
Frau Saßner selbst war eine geistig rege alte Dame von 92. Sie hatte ihren Mann im Krieg verloren. Ein Schicksal, das sie mit vielen Leidensgenossinnen teilen sollte. Er fiel an der Ostfront, als sie feststellte, dass sie zum zweiten Mal schwanger war. Seine Tochter hatte er nicht mehr kennen gelernt.
Die junge Frau schaffte es, trotz der widrigen Umstände, ihr Studium abzuschließen, wurde Lehrerin und konnte somit sich und ihre beiden Kinder ernähren. Obwohl noch sehr jung heiratete sie nicht wieder, wobei es weder an Interessenten noch an Angeboten mangelte. Frau Saßner war einer dieser treuen Menschen, die sich ihrer großen Liebe ein Leben lang verpflichtet fühlen. "Die jungen Leute von heute heiraten, einfach um es mal auszuprobieren. Wenn es dann nicht funktioniert, kann man sich ja wieder scheiden
lassen. Auch reden sie nicht mehr miteinander, sondern rennen gleich beim kleinsten Problem auseinander. Das hat doch nichts mit Liebe zu tun!", ereiferte sie sich einmal mir gegenüber, als sich eine junge Altenpflegerin von ihrem Verlobten trennte, und somit tagelang für Gesprächsstoff im Heim sorgte.
Wir mochten uns auf Anhieb. Ich schloss die kleine zierliche aber überaus resolute und energische Frau mit den lebhaften Augen sofort in mein Herz. Erinnerte sie mich doch mit eben dieser Art stark an meine verstorbene Großmutter. Ihr erging es umgekehrt genauso, die Chemie stimmte einfach. Später erzählte mir eine Pflegerin, dass sie die Hoffnung für Frau Saßner einen passenden Anschluss zu finden schon aufgeben wollte, da diese drei meiner Vorgängerinnen regelrecht vergraulte. Als ich die alte Dame bei sich
bietender Gelegenheit darauf ansprach, erklärte sie mir, dass sie es in ihrem Alter nicht mehr nötig habe sich mit Leuten abzugeben, die ihr schlichtweg unsympathisch seien. Außerdem verachtete sie Menschen, die einen anderen, nur weil er alt ist, wie ein unmündiges Kind behandeln.
Als wir uns kennen lernten, wohnte Frau Saßner seit einem Jahr im Altenheim. Sie hatte sich schweren Herzens zu diesem Schritt entschlossen, da sie einsah, dass es allein zu Hause nicht mehr ging. Einmal hatte sie auf dem Weg zum Einkaufen einen kleinen Schwächeanfall erlitten und stürzte. Nur der schnellen, beherzten Reaktion einer jungen Frau verdankte sie es, dass nichts Schlimmeres passierte. Sie hatte die alte Dame regelrecht aufgefangen, als diese ihr entgegen fiel. Auch im Haushalt benötigte sie immer
öfter Hilfe, und so war dieser Schritt der einzig vernünftige. Der Kopf funktioniere noch einwandfrei, aber körperlich habe sie doch stark abgebaut, stellte sie seinerzeit nüchtern fest.
"Welche Maschine läuft schon 92 Jahre Tag und Nacht, ohne den einen oder anderen kleinen Defekt oder Aussetzer?", argumentierte sie humorvoll. Überhaupt hatte Frau Saßner einen herrlichen, oft schwarzen Humor, mit dem sie mich und andere zum Lachen brachte. Sie gehörte zu diesen liebenswerten Menschen, die sich selbst nicht allzu ernst nehmen, und aus allem das Beste machen. Trotzdem fiel es ihr schwer sich einzuleben.
"Halten Sie mich für arrogant, aber ich kam mir vor, wie der einzige normale Mensch im Irrenhaus. Mittlerweile kann ich damit umgehen, und es war mir schon immer herzlich egal, was die Leute von mir denken. Bis auf einige wenige", erzählte sie mir bei einem meiner Besuche. "Aus den negativen Erlebnissen lernen wir sowieso viel mehr fürs Leben als aus den positiven. Die nehmen wir nämlich als ganz selbstverständlich hin", gab sie ihre Lebenserfahrung an mich weiter. Trotzdem spürte ich unterschwellig
immer eine gewisse Traurigkeit bei ihr. Sie war des Lebens müde ist wohl der klassische Ausdruck dafür.
Ich besuchte sie zweimal die Woche. Bei schlechtem Wetter saßen wir in ihrem Zimmer und tranken Tee, den ich zusammen mit ein paar Keksen aus der Küche organisiert hatte. Die Teestunde mit den anderen Heimbewohnern unten im Saal zusammen zu verbringen, kam für sie nicht infrage.
"Können Sie sich das vorstellen? Da streiten zwei alte Menschen darum, dass einer ein größeres Stück Kuchen bekommen hat als der andere. Unfassbar!", erklärte sie mir ihre Weigerung.
Wir saßen also in ihrem Zimmer und ich las aus einem ihrer zahlreichen Bücher vor, die eine ganze Wand in dem Wohnraum einnahmen. Sie wusste, wo sich jedes einzelne ihrer Bücher im Regal befand, und instruierte mich genauestens. Es waren beachtliche Schätze darunter: Erstausgaben oder handsignierte Bücher, deren längst verstorbene Autoren sie noch persönlich gekannt hatte. Als pensionierte Oberstudienrätin war Literatur eine ihrer Leidenschaften. Eine Leidenschaft die wir teilten. Nur spielten bei ihr leider
die Augen jetzt im Alter nicht mehr mit. Das eine oder andere Mal las ich aus meinen Lieblingsbüchern vor, die zum Teil die moderne Frauenliteratur zum Thema hatten, und die alte Dame amüsierte sich köstlich. Ich wiederum hing gebannt an ihren Lippen, wenn sie Geschichten aus ihrer Jugendzeit erzählte. Dann tauchten wir ab in eine andere Epoche, eine gänzlich andere Zeit, als die Frau dem Manne noch untertan war, gegen ihren Willen verheiratet wurde, oftmals zu Zweckehen gezwungen, und von der Existenz des Wortes
Emanzipation nicht die leiseste Ahnung hatte.
Manchmal fuhren wir mit meinem Auto in die nächst größere Stadt, um dort in ihrem Lieblingscafé ein Kännchen Kaffee zu trinken und ein Stück Torte zu essen. Frau Saßner liebte diese Ausflüge und lud mich jedes Mal ein. Aufgekratzt und bester Laune brachte ich sie danach zurück ins Altenheim.
"Wissen Sie meine Liebe, jetzt kann ich es hier wieder eine Weile aushalten", sagte sie dann, zwinkerte mir verschwörerisch zu und drückte mich zum Abschied.
Es kostete mich einiges an Überredungskunst, sie davon zu überzeugen, mit mir kleine Ausflüge zu Fuß in die nähere Umgebung des Heims zu machen.
"Bei dem herrlichen Wetter ist es doch viel schöner im Park, als auf diesem kleinen Balkon", versuchte ich es zum wiederholten Mal.
"Da haben Sie ja vollkommen Recht, mein Kind, aber ich bin nicht mehr so gut zu Fuß. Ich wäre nur eine Belastung für Sie", erklärte sie mir, schaute dabei aber mit einem Anflug von Bedauern zu den grünen Baumwipfeln, die über die Dächer der Nachbarhäuser ragten. Wenig später fand ich heraus, dass sie sich strikt weigerte eine dieser Gehhilfen für alte Leute zu benutzen.
"Das ist entwürdigend in meinen Augen", sagte sie heftig und funkelte mich herausfordernd an. "Sie werden den Tag nicht mehr erleben, an dem ich so ein Ding benutze", stellte sie mit verschränkten Armen klar.
"In Ordnung. Akzeptiert! Ich habe den ganzen Tag Zeit. Wir gehen jetzt gemeinsam in den Park, und wenn es bis Mitternacht dauert!", beharrte ich.
Frau Saßner schaute mich eine Weile prüfend an, dann lächelte sie verschmitzt und sagte: "Sie stures Weib geben ja vorher doch keine Ruhe, habe ich Recht?"
"Absolut!", antwortete ich und bot ihr meinen Arm. Sie hakte sich fest bei mir ein, und wir zogen los. Zuerst war sie noch etwas unsicher, aber es ging mit jedem Schritt besser. Trotzdem kamen wir nur langsam voran, doch das spielte keine Rolle.
Im Park herrschte buntes Treiben. Kinder spielten am Ufer eines Teiches und ihr Lachen wehte zu uns herüber. Andere fütterten die Enten, oder spielten Fußball, wobei sie sich laute Kommandos zuriefen. Hunde tobten übermütig bellend über die Wiese und verliebte Paare schlenderten eng umschlungen über die geharkten Wege, um sich hinter dem nächsten Baum zu küssen.
Wir setzten uns auf eine Bank im Halbschatten unter die alten Bäume und sahen dem Treiben zu, während die Frühlingssonne von einem azurblauen Himmel strahlte. Einige Bäume und Büsche standen in voller Blüte und die Vögel lieferten sich lautstark Gesangsduelle. Frau Saßner stieß einen zufriedenen Seufzer aus, dann sagte sie nur: "Sie hatten vollkommen Recht!"
Gerade rechtzeitig zum Abendessen waren wir wieder zurück, und Frau Saßner bester Laune, war regelrecht euphorisch.
"Ich habe seit langem zum ersten Mal wieder richtig Appetit", stellte sie befriedigt fest. Als ich mich von ihr verabschiedete, umarmte sie mich, küsste mir die Wange und sagte: "Ich danke Ihnen. Sie haben mir heute ein kleines Stück Lebensfreude zurückgegeben."
An anderen Tagen wiederum war sie richtig kraftlos und zu nichts zu bewegen.
"Ich bin so müde heute, es tut mir Leid", sagte sie dann, und ich las ihr vor, während die vor sich hinstarrend und wortkarg in ihrem Lieblingssessel saß.
"Ich möchte so gerne einschlafen, aber es geht noch nicht", flüsterte sie ein andermal mit einem entrückten Ausdruck auf dem Gesicht.
"Sagen Sie doch nicht so etwas! Morgen geht es Ihnen bestimmt wieder besser", versuchte ich ihr und mir Mut zu machen, während sich mein Herz zusammenkrampfte.
"Ja, vielleicht. Aber wissen Sie, ich habe keine Angst vor dem Tod. Im Gegenteil. Viele jüngere Menschen glauben, es sei eine Gnade so alt zu werden. Ich versichere Ihnen, das ist es nicht! Etwas anderes wäre es, wenn ich es zusammen mit den geliebten Menschen erleben könnte, mit all den guten Freunden, die nicht mehr sind. Auch sollten Kinder nicht vor ihren Eltern sterben. Es hält mich nichts mehr hier", sagte sie. Als sie den entsetzten Ausdruck auf meinem Gesicht sah, setzte sie rasch nach: "Ausgenommen
Sie, meine Liebe". Dabei lächelte sie mich versöhnlich an und tätschelte meine Hand.
Unser Gespräch ging mir lange Zeit nicht aus dem Kopf. Ich konnte sie verstehen. Sie hatte ja Recht. Meine Beweggründe waren letztendlich rein egoistischer Natur, denn mir würde die alte Dame fehlen. Daran musste ich denken, als ich an dem offenen Grab stand, und eine schwarze Calla auf ihren Sarg warf. Als ich sie vor vier Tagen wie gewohnt besuchen wollte, fing mich eine Schwester gerade noch rechtzeitig ab, bevor ich in ihr Zimmer gehen konnte. Diese erzählte mir mit Tränen in den Augen, dass Frau Saßner in
der Nacht plötzlich gestorben war. Sie musste eingeschlafen sein und war am nächsten Morgen einfach nicht wieder aufgewacht.
"Sie hat sehr friedvoll ausgesehen. Ein schöner Tod. Sie hatte ihn verdient", erklärte die Schwester und tupfte sich mit einem weißen Taschentuch die Augen.
"Ja, da haben Sie Recht. Das hatte sie wirklich", antwortete ich ihr mechanisch und ging wie betäubt nach draußen. Obwohl es nasskalt war und nieselte, ging ich über eine Stunde im Park spazieren, der an diesem Tag wie ausgestorben dalag. Ich war zwar sehr traurig, aber nicht in Tränen aufgelöst, denn ich wusste, dass sich ihr lang ersehnter Wunsch endlich erfüllt hatte. Für sie war der Tod willkommen, und nicht das Schreckgespenst, das er für uns jüngere Leute ist.
Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.