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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Kindergeburtstag

© Eve Herzogenrath


"Mutti, wie spät ist es? Kommen meine Freunde denn nicht bald?" Aufgeregt hüpft Nadine von einem Bein aufs andere. Heute ist ihr fünfter Geburtstag und sie erwartet neun kleine Spielgefährten, die fast alle mit ihr gemeinsam den Kindergarten besuchen. "In einer Stunde ungefähr werden deine Gäste eintrudeln. Ich bin auch noch gar nicht fertig mit dem Tischdecken. Am besten hilfst du mir ein bisschen", fordert Christine Haller ihre kleine Tochter auf. "Dann geht es rascher und auch für dich geht die Zeit schneller vorbei." Eifrig macht sich Nadine ans Tischdecken. Liebevoll faltet sie die Servietten mit den Clownmotiven zu Dreiecken und legt sie neben die Teller. Christine, Nadines Mutter, schneidet die Kuchen, die sie gebacken und bunt verziert hat, in kleine Stücke.
Anschließend überprüft Christine, ob auch alles bereit liegt, was für die Spiele, die im Garten stattfinden sollen, benötigt wird. Säcke fürs Sackhüpfen, Kreisel, Springseile, ein großer Topf und ein Holzlöffel für das beliebte Topfschlagen. Ein besonderer Clou ist das Ballonspiel, welches am Ende der Geburtstagsfeier zum Ausklang vorgesehen ist. An einer Schnur, die zwischen zwei Bäume gespannt ist, hängen 10 Luftballons. Alle tragen eine Nummer, und jede Nummer weist auf ein Gastgeschenk für die kleinen Besucher. Christine hat für jedes Kind ein hübsches Papierflugzeug gebastelt. Durch den Rumpf des Fliegers hat sie eine Stecknadel geschoben, so dass vorn nur ein winziges Stück der Nadel heraus ragt. Jedes Kind darf so lange auf die Luftballons zielen, bis es einen getroffen und zum Platzen gebracht hat. Außerdem bietet der Garten eine Menge weiterer Möglichkeiten zum Spielen und Toben. Nadines Vater hat eine Schaukel und ein Turnreck installiert und mitten auf der Wiese steht ein großes Planschbecken.
Die Hausklingel ertönt. Als Erste trifft Nadines beste Freundin Lisa ein. Zu Christines Entsetzen bringt sie ihr Lieblingsmeerschweinchen mit und schenkt es Nadine zum Geburtstag. Der Haushalt Haller beherbergt bereits zwei Hamster und einen Zwerghasen. Gleich hinter Lisa marschiert Thomas, der siebenjährige Nachbarjunge und "Held" der Straße, ins Haus, bewaffnet mit einer Riesentüte Popcorn, hinter der sein nicht gerade schmächtiger Körper fast verschwindet. Ihm folgt zaghaft seine kleine Schwester Gundi, die vor Verlegenheit an ihrem Däumchen lutscht. Und dann geht es zügig so weiter. Gitti, ein kleines blondes schwedisches Mädchen, das kürzlich erst in Nadines Kindergartengruppe gekommen ist, steht schüchtern im Eingang, bevor sie sich ins Geschehen wagt. Maggie und ihr Zwillingsbruder Robby lassen sich dagegen nicht lange bitten und traben gleich quer durchs Wohnzimmer in den Garten. Auch John, der Sohn einer afrikanischen Botschafterfamilie, ist Nadines Einladung gefolgt. Als Letzte treffen Susi und Mark ein und bringen zur Freude aller Susis Boxer Ramsus mit. Bevor die ganze Rasselbande fröhlich über den köstlichen Kuchen herfällt, packt Nadine ihre Geschenke aus. Ein weiteres Tier findet Aufnahme im Hause Haller: eine Katze - glücklicherweise aus Stoff. Die Familie der Barbiepuppen vergrößert sich ebenfalls.
Später im Garten geht es nicht weniger munter zu. Den größten Spaß haben die Kinder beim Sackhüpfen. Während sie um die Wette versuchen ans Ziel zu kommen, werden sie von Ramsus verfolgt, der nach den Säcken schnappt und die Kinder am Vorankommen hindert und zu Fall bringt. An die eher ruhigen Spiele, wie zum Beispiel Seilspringen, ist heute kein Denken. "Puh", lästert Thomas, "das sind ja Mädchenspiele." Das fröhliche Treiben findet seinen Höhepunkt, als er den Schlauchwagen mit dem Gartenschlauch entdeckt, der an der Hauswand steht. In unmittelbarer Nähe befindet sich auch der Wasserhahn. Blitzschnell rollt Thomas den Schlauch ein Stück ab, öffnet den Wasserhahn und hält den Strahl voll auf seine Spielgefährten. Im Nu sind alle pitschnass. "Schöne Bescherung", murmelt Christine, als sie der triefenden Gestalten vom Küchenfenster aus ansichtig wird. "Die Eltern werden sich ja freuen. Blöde, dass ich nicht daran gedacht habe, den Wagen in den Schuppen zu stellen. Ich kenne ja Thomas, dem fallen immer solche Spiele ein." Und zur Bestätigung platscht ein dicker nasser Treffer durchs geöffnete Küchenfenster. "Jetzt reicht's", ärgert sich Christine, rennt in den Garten, dreht den Wasserhahn zu und macht somit dem Spiel ein Ende.
Langsam naht die Zeit des Abschieds. Vorher steht noch das Ballonspiel auf dem Programm. Christine trommelt die Kinderschar zusammen. Dank des schönen Wetters sind die Sachen der meisten Kinder schon fast wieder trocken. Christine verteilt die Flieger mit der Bitte, vorsichtig damit umzugehen. Zunächst darf die kleine Gundi auf die Ballons zielen. Christine will ihr helfen, aber Gundi will "selbst ganz alleine". Nach mehrmaligen Fehlversuchen darf Christine sie auf den Arm nehmen; so ist sie näher am Ziel. Mit einem lauten Knall platzt der Ballon Nummer sieben und Gundi empfängt strahlend ihren Preis, ein kleines buntes Perlenarmband. Nacheinander zielen die Kinder auf ihre Ballons.
Thomas ist als siebter dran und voller Ungeduld. Er schubst die anderen und feuert sie an, schneller zu machen. John, der noch hinter Thomas in der Reihe steht, bittet ihn in seiner sanften Art, doch geduldig zu sein. Gitti pflichtet ihm bei. Thomas, der nicht gewohnt ist, dass die Kleineren ihn maßregeln, läuft rot an vor Zorn und schreit die beiden an, sie sollen gefälligst ihr Maul halten. Im Übrigen seien sie Ausländer und hätten hier überhaupt nichts zu melden. Die beiden Kinder schweigen verblüfft. Thomas, dem jetzt eigentlich ein bisschen nach Kampf zu Mute ist, möchte sich gern weiter streiten. Doch Gitti und John schauen in eine andere Richtung und kümmern sich nicht um ihn. Plötzlich schreit John auf und hält sich den Arm fest. Christine, die die anderen Kinder während des Zielens auf die Ballons beaufsichtigt und von der Meinungsverschiedenheit nichts mitbekommen hat, stürzt entsetzt zu John. John schaut sie aus seinen großen schwarzen Augen, aus denen jetzt dicke Tränen rollen, ängstlich an. Behutsam zieht Christine seine rechte Hand fort, die er auf den linken Oberarm presst. Die Hand ist blutig und auf dem Arm befindet sich eine dicke Schramme, deren Ausmaß Christine in Folge der dunklen Hautfarbe des Jungen erst nach näherer Untersuchung prüfen kann. Sie nimmt John mit ins Haus und verbindet die Verletzung. John will nicht sagen, was passiert ist. Offenbar hat er Angst. Die Kinder sind den beiden gefolgt und stehen betreten etwas abseits.
Christine sammelt die Flieger ein und gibt jedem Kind, das noch keinen Treffer hatte, ein Gastgeschenk. Allen ist die Lust am Ballonschießen vergangen. Sie fragt nochmals in die Runde, was denn passiert sei. Alle schweigen; die meisten haben den Vorgang auch gar nicht mitbekommen. Doch da sammelt ausgerechnet Thomas' kleine Schwester Gundi all ihren Mut und sagt, dass Thomas mit der Spitze des Fliegers ganz fest an Johns Arm heruntergefahren sei. Christine ist sprachlos. Thomas ist als Unruhestifter bekannt; aber das hätte sie ihm nun doch nicht zugetraut. Thomas lässt auch keinerlei Zeichen der Reue erkennen. "Ich wollte wissen, ob John schwarzes Blut hat", behauptet er. "Aber wie kommst du denn darauf?" fragt Christine den Jungen. Schweigen.
Nach und nach werden die Kinder - meist von einem Elternteil - abgeholt; die in der Nähe wohnen, gehen zusammen nach Hause. Nadine ist traurig. Sie hatte sich so sehr auf ihren Geburtstag gefreut, und alles hatte so schön begonnen. Nadines Vater kommt soeben von der Arbeit zurück und fährt gemeinsam mit Nadine den kleinen John und Gitti nach Hause. Christine geht - Gundi auf dem Arm - mit Thomas, der gleich nebenan wohnt, zu dessen Eltern hinüber. Obwohl sie direkte Nachbarn sind, kennen sich die Familien nur vom Grüßen.
Thomas Mutter öffnet die Haustür. Sie nimmt ihre Kinder in Empfang und will Christine nur kurz danken. Diese bittet sie jedoch um ein Gespräch. Resigniert tritt Frau Braun von der Tür zurück und lässt Christine in die Wohnung. Thomas läuft ohne ein Wort in sein Zimmer, nicht ohne noch vorher Gundi zu drohen "na warte, wir sprechen uns später noch!" Gundi klammert sich verängstigt an die Mutter. In dem kleinen Wohnzimmer, auf gut bürgerliche Art eingerichtet, sitzt Thomas' Vater auf der Couch, vor sich einen Teller mit belegten Broten, in der Hand eine Flasche Bier, die er bei Christines Eintreten gerade vom Mund nimmt und auf den Tisch stellt. Im Fernsehen läuft eine spätnachmittägliche Krimiserie in einer solchen Lautstärke, dass man das mürrische Begrüßungsbrummen des Hausherrn kaum hört. Herr Braun ist mit so genannten Boxer-Shorts bekleidet. Sein Oberkörper ist nackt und schweißglänzend. Immerhin bringt Frau Braun ihren Ehemann dazu, die Lautstärke des Fernsehers zu drosseln.
Christine schildert den Vorfall. Frau Braun holt ihren Sohn ins Wohnzimmer. Auf die Frage, was er sich dabei gedacht habe, dem John die Nadelspitze in den Arm zu rammen, erklärt Thomas wiederum, dass er nur wissen wollte, ob der John schwarzes Blut habe, weil er doch ein Farbiger ist. "Gestern hast du gesagt, die von Blockstedts hätten blaues Blut, weil sie adlig sind", versucht Thomas seine Tat zu mildern. Der Vater schweigt verdutzt, wischt sich den Bierschaum mit dem Handrücken von den Lippen und bricht dann in lautes Gelächter aus. Ermutigt durch die Reaktion seines Vaters legt Thomas nun richtig los: "Und dann hast du gesagt, den Ausländern muss man es zeigen, wer hier Herr im Lande ist. Dir haben sie deine Arbeit weggenommen und …" Mehr hört Christine nicht mehr - will sie nicht mehr hören. Sie streichelt Gundi über die Wange und verlässt leise das Haus.



Eingereicht am 21. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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