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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der letzte Pendelschlag
© Günter Suda
Johann parkte seinen grünen Nissan direkt vor dem schmiedeeisernen Tor in der Pfundnergasse sieben. Als er die Autotür öffnete, riss sie ihm der Herbstwind fast aus der Hand. Er drückte sie zu und lehnte sich an sein Auto - Halt suchend vor seinem Gang in den grauen Altbau. Sein Blick wanderte die Fassade hinauf. Durch das Gerippe eines Kastanienbaumes sahen die oberen Stockwerke aus wie in einem Spinnennetz. Hatte Achim sich hier verfangen?
Als hinter ihm die Straßenbahn vorbeifuhr löste er sich mit einem Ruck und ging zur Klingeltafel.
In verschnörkelten Buchstaben stand Roberts Name darauf: Seidlgruber, integrative Bewusstseinsarbeit. Johann klingelte. Eine alte Frau kam aus dem Haus. Sie musterte ihn misstrauisch und ging davon. "… so ein Spinner", hörte er sie murmeln. Johann wollte nochmals klingeln, als Roberts Stimme ertönte: "Ja?"
"Johann Buchner."
Stille, in der Johann sein Herz schlagen hörte. Dann geschäftsmäßiger Ton: "Zweiter Stock, dritte Tür links." Der Türöffner ertönte.
Robert erwartete ihn in der offenen Wohnungstür. Schlank, wachsame blaue Augen, altmodische Hose, sauber gebügeltes Hemd. Er sah aus wie ein Buchhalter. Nur das bunte Stirnband wirkte unpassend. Sie schauten sich an. "Du bist also Johann."
"Ja, ein Freund von Achim."
Robert verzog das Gesicht als hätte er Zahnschmerzen.
Johann fuhr fort: "Hat irgendwie mir dir zu tun. Ich war bloß ein Freund."
"Das hast du schon gesagt. Na vielleicht hilft es auch mir, wenn wir darüber reden. Komm rein."
Sie gingen durch einen Flur voller Ikeamöbel. Roberts Büro erinnerte Johann an eine Arztpraxis: Holzmöbel, Grünpflanzen, ein Schreibtisch mit Notebook und eine gemütliche Sitzecke. Sanfte Meditationsmusik ertönte aus dem Lautsprecher neben dem Aquarium. Ein Vollholzregal nahm eine ganze Wand ein. Darin Dinge, die Achim bei seinem Besuch möglicherweise fasziniert hatten: Pendel, Bachblüten und Tarotkarten. Außerdem Tuben und Fläschchen unbekannten Inhalts und stapelweise esoterische Bücher. Es roch nach Mandarinen.
Die Duftlampe stand auf dem ovalen Tisch neben der Couch.
"Mein Arbeitszimmer", Robert zeigte mit der Hand durch den Raum. "Hier hat es vermutlich angefangen ..." Gedankenverloren fügte er hinzu: "… und irgendwie auch geendet." Dann schaute er Johann wieder an: "Setz dich." Er zeigte auf die Couch. "Willst du etwas trinken?"
"Danke, jetzt nicht."
Robert setzte sich auf die Seite, die näher beim Regal war, Johann schräg gegenüber. "Achim ist auch dort gesessen."
Johann strich mit der Hand über die Couch. "Was wollte er?"
"Er sagte, seit er denken kann, wäre er auf der Suche. Als er fünf war, ließen sich seine Eltern scheiden. Sein Vater ist damals nach Südamerika ausgewandert und hat den Kontakt abgebrochen."
"Das weiß ich." Johann runzelte die Stirn. "Was hat das mit dir zu tun?"
"Achim fehlte der Sinn in seinem Leben. Jeder hat einen Auftrag hier auf Erden. Der große Plan …"
Um den drohenden spirituellen Vortrag abzukürzen unterbrach ihn Johann: "Warum kam er ausgerechnet zu dir?"
Robert schaute ihn irritiert an, als überlegte er, ob er seinen Vortrag fortsetzen sollte. Er entschied sich zum Weiterreden: "Ein Inserat im Magazin Transzendentes Bewusstsein. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Einweihungslehren. 1999 habe ich mich mit meinen Beratungen selbständig gemacht."
"Esoterik", sagte Johann geringschätzig.
Robert schüttelte entschieden den Kopf. "Ich mag es nicht, wie dieser Begriff verludert. Für viele ist es leider nur Geschäftemacherei. Daher biete ich integrative Bewusstseinsarbeit an - seriöse Hilfe für Suchende mit esoterischen Methoden."
Johanns Blick wanderte über das Regal: "Achim war Programmierer. Ein nüchterner, logisch denkender Mensch. Was wollte er mit diesem Zeug?" Er zeigte auf die gestapelten Bücher.
"Er war ein Pilger, wie wir alle. Du auch, sonst wärst du nicht hier."
Robert erinnerte Johann an einen Pfarrer bei der Sonntagspredigt. "Du weißt genau, weshalb ich hier bin, das habe ich dir schon am Telefon gesagt. Bitte erzähl mir von der letzten Zeit Achims. Sechs Wochen nachdem er bei dir war, hat er den Kontakt zu all seinen Freunden abgebrochen."
"Kurz darauf auch zu mir."
Johann stutzte: "Das wusste ich nicht."
"War aber so." Robert zuckte mit den Achseln. "Wie gesagt, beim seinem ersten Besuch saß er dort, wo du jetzt sitzt. Alle Klienten sitzen dort. Ein besonderer Platz."
Johann verzog das Gesicht. Robert redete schnell weiter: "Achim erzählte von seiner Sinnsuche und von der Krankheit seiner Mutter."
"Welche Krankheit?"
"Sie hatte Krebs. Wusstest du das auch nicht?"
Johann schüttelte den Kopf.
Robert fuhr fort: "Achim sagte, er hätte über Pendel und Wünschelruten gelesen - wo, das hat er nicht erzählt. In meinem Inserat stand, dass ich Kurse dazu anbiete. Er wollte wissen, was man mit dem Pendel erfahren kann. Ich erklärte es ihm, er kaufte einen Pendel und meldete sich für die drei Seminare an, die ich dazu hielt: Pendeln Grundlagen, Die innere Weisheit und Pendeln als Lebenshilfe. Außerdem kaufte er vier Bücher über Radiästhesie."
"Davon hat er kein Wort erwähnt." Johann schüttelte den Kopf. "Wir sind zusammen aufgewachsen, waren wirklich gute Freunde."
"Seine Freunde würden das nicht verstehen, hat Achim gesagt."
"Wie ging es weiter?"
"Beim ersten Seminar wusste er bereits sehr viel. Er hatte alle Bücher richtiggehend aufgesaugt. Beim zweiten Kurs Ende August erzählte er, dass seine Mutter in der Woche davor gestorben war. Er war nicht überrascht, da er es vorher bereits ausgependelt hatte. Ich erklärte ihm, unser Wissen beeinflusst die Ergebnisse beim Pendeln. Da wurde er wütend. Er beschimpfte mich als Pfuscher und sagte, sein Pendel sage ihm, was gut für ihn ist. Seine Freunde seien es nicht. Das habe er bereits gefragt. Seine Mutter
war es auch nicht. Der Krebs hätte zuviel negative Energie in sie gebracht. Daher hatte er sie zuletzt auch nicht mehr besucht. Dann fragte er seinen Pendel vor allen Teilnehmern, ob ich gut für ihn sei. Auch da kam ein Nein. Da stand er auf und ging."
"Willst du damit sagen, Achim machte dieses Pendel zum Maßstab seines Lebens?"
"Es heißt der Pendel." Robert schaute lange zu Boden. "Ja … das Werkzeug wurde sein Götze."
"Und dann?"
"Ich habe nichts mehr von ihm gehört bis vor drei Wochen. Er rief mich an und sagte triumphierend, er habe jetzt alle Menschen durchgependelt. Keiner wäre gut für ihn. Seine letzte Frage an den Pendel war, ob er selbst gut für sich war. Im Hintergrund hörte ich düstere mittelalterliche Musik. In dieser Stimmung pendeln ist gefährlich, das weiß jeder. Auf seine Frage erhielt er ebenfalls ein Nein."
Robert saß gebeugt. Er flüsterte: "Ich redete auf ihn ein, beschwor ihn, Hilfe anzunehmen. Aber er lachte und sagte, er würde wirklich gut pendeln. Ich sei nur ein lächerlicher Amateur. Er würde jetzt den wichtigsten Rat des Pendels befolgen. Dann legte er auf. Ich verständigte den Notruf, aber die kamen zu spät. Ein einziger Schuss aus der Schrotflinte hatte genügt. Es war nichts mehr zu machen …"
Johann stand langsam auf: "Danke."
"Ich wollte das alles nicht."
Johann nickte und ging.
Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.