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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Fremde Gespräche

© D.P.


Ich verzichte nie auf eine Platzreservierung, wenn ich mit dem ICE fahre.
Meine Reisetasche liegt auf der Gepäckablage über dem mir zugewiesenen Sitz, meine Jacke hängt am Haken daneben. Und ich sitze mit einer Zeitung oder einem Buch im Bordrestaurant. Mich stört die erzwungene Intimität zu demjenigen, der den Platz neben mir reserviert hat. Zufällige Berührungen bleiben nicht aus und jedes "Oh, bitte entschuldigen Sie!" gleicht innerlich eher einem Seufzen. Ich beobachte Fremde lieber aus einer gewissen Distanz. Nicht nur lieber, sondern leidenschaftlich gern.
Ich bin Kommunikationsanalytikerin. Das ist keine wirkliche Berufsbezeichnung. Eigentlich bin ich Soziologin, die gerne kommunikationsanalytisch arbeiten würde. Da die Mittel der Universitäten knapp sind, und es einiges erfordert, Drittmittel einzuwerben für Projekte, in denen es darum geht, die Bedeutung der Alltagskommunikation in Supermärkten zu erforschen, verdiene ich meinen Lebensunterhalt mit Seminaren zum Thema: "Warum wir uns so häufig missverstehen. So verbessern sie ihre Kommunikationsfähigkeit". Die Klientel wechselt so oft, wie die Städte, in denen ich Aufträge erhalte. Erzieherinnen, Bankangestellte, Volkshochschulkurse. Mit der Zeit stellte ich fest, dass es egal ist, was für eine Gruppe mir gegenüber sitzt. Es gibt jedes Mal Interessierte, Übereifrige, Nörgelnde und Schlafende. Mich reizt die Vorstellung, meine Notizen über diese Seminare irgendwann in einer Publikation zusammen zu führen, die sich mit der Kommunikation während eines Kommunikationsseminars beschäftigt.
Auf der Fahrt im Eurocity von Berlin nach Flensburg wartete ich den Kontrolleur ab und stieg dann über die ausgestreckten Beine meiner Sitznachbarin, die es sich bereits mit Kopfhörern auf den Ohren bequem gemacht hatte. Ich durchquerte mehrere Waggons und erreichte dann das Bordrestaurant. In vorderen Bereich waren einige Tische eingedeckt. Sowohl Gäste als auch Kellner versuchten trotz des schwankenden Zuges Haltung zu bewahren, und so zu tun, als säßen sie in einem echten Restaurant. Ich ging zwischen den Tischen hindurch und an der Küche vorbei in den Kneipenbereich.
Ein Tisch war von zwei Männern besetzt. Sie saßen nebeneinander auf der gepolsterten Bank, so dass ich einen Moment überlegte, wo ich mich am besten platzieren sollte. Es war fraglich, ob sich eine Datensammlung an diesem Ort lohnen würde. Wenn Menschen sich gegenüber sitzen, kann man sie leichter beobachten und die Wahrscheinlichkeit, ihr Gespräch verfolgen zu können, erhöht sich, weil sie lauter sprechen müssen. Da die beiden die einzigen Gäste waren, beschloss ich, es dennoch zu versuchen, und nahm auf der Bank neben ihnen Platz. Ich bestellte ein Budweiser und blätterte meine Zeitschrift auf. Meine Sorge erwies sich als unbegründet. Ich konnte jedes Wort verstehen.
"... in Holland sprechen schon ganz kleine Kinder Englisch. Und wissen Sie, woran das liegt?"
"Nein."
"Am Fernsehen! Es gibt fast nur englisches Fernsehen! Jedes Kind kann Ihnen zumindest den Weg zur Polizei oder so was erklären."
Der erste sprach mit niederländischem Akzent. Er machte einen sympathischen Eindruck. Den zweiten konnte ich nicht genau erkennen. Sein Gesicht war dem anderen Mann zugewandt.
"Wissen Sie, letzten Monat war ich geschäftlich in Hong Kong. Können Sie sich vorstellen, wie schwer es gewesen ist, dort einen Taxifahrer zu finden, der Englisch spricht?"
"Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht."
"Doch. Aber es waren hauptsächlich die Taxifahrer. Ansonsten bin ich gut zurecht gekommen", er lachte. "Ehrlich gesagt würde ich mir auch nicht zutrauen, Chinesisch zu lernen.
""Was machen Sie denn eigentlich?"
"Software. Nichts Großartiges. China war ein außergewöhnliches Abenteuer. Normalerweise bleibe ich auf europäischem Boden." Er gab kurze Statements zu verschiedenen Ländern ab, die er häufig bereist hatte. Der zweite lauschte.
Ich vermutete einen ganz leichten schwäbischen Dialekt. Ganz sicher war ich nicht. Noch immer konnte ich sein Gesicht nicht genau erkennen. Nur die Lachfältchen um sein linkes Auge. "In Frankreich sollten Sie mal mit dem Zug fahren! Da bekommt man immer einen Platz, weil nur so viele Karten verkauft werden, wie Plätze vorhanden sind."
"Wirklich?"
Wieder hielt er sich zurück.
Geschickt nickte er, lächelte aufmunternd und stellte kurze, ungläubige Zwischenfragen, die den Niederländer begeistert weiter erzählen ließen. Er suggerierte Aufmerksamkeit, ohne dabei viel von sich preis zu geben.
Mittlerweile waren sie bei der Wirtschaftslage der Europäischen Union angelangt.
"Es kann nur besser werden, wenn wir endlich erkennen, dass wir zusammen gehören. Anders geht es nicht."
"Natürlich."
"Wissen Sie, so schlecht sieht es nämlich gar nicht aus..."
Ich vergaß fast, mich lesend zu stellen, so sehr faszinierte mich das Verhalten des zweiten Mannes. Im Geiste notierte ich mir seine Körperhaltung und achtete kaum noch auf den Inhalt des Gesprächs.
"... vielen Dank für die nette Unterhaltung. Ich muss langsam meine Sachen zusammen suchen. Auf Wiedersehen!"
"Auf Wiedersehen. Kommen Sie gut heim!"
Der Niederländer ging. Ich war etwas enttäuscht, denn noch immer waren wir die einzigen Gäste im diesem Teil des Restaurants. Über meine Zeitschrift hinweg konnte ich sehen, wie der andere Mann einen Notizblock hervorholte und eifrig darauf schrieb. Ich trank einen Schluck Bier und beschloss, noch eine Zigarette zu rauchen. Während ich einen Bericht über die "Unheimliche Kraft des Unbewussten" las und mich fragte, ob ich den gleichen Artikel nicht vor einiger Zeit schon mal in einem anderen Magazin gelesen hatte, stand der Mann auf und blieb kurz vor meinem Tisch stehen. Wortlos legte er mir einen Zettel hin, drehte sich um und verließ den Wagen.
Ich habe Sie beobachtet. Wollen Sie wissen, was ich denke?
Sie tut nur so, als ob sie liest. Ihr neugieriger Gesichtsausdruck verrät sie. Sie rückt immer näher an mich heran. Ich frage mich, wie ihre Stimme klingt. Aber wenn ich sie anspreche, wird sie mich abwimmeln. Sie redet nicht mit Fremden.
Bis Flensburg sitze ich in Wagen neun. Der Platz neben mir ist noch frei.
Kommen Sie doch vorbei. Sie werden mich bestimmt lustig finden. Oder haben Sie nun Muffensausen?
Ich fühlte mich ertappt und sah mich instinktiv nach dem Kellner um. Er räumte den Tisch ab, an dem der Fremde bis eben gesessen hatte. Es ärgerte mich, dass der Mann mich hatte auflaufen lassen. Völlig unpassend, mir diesen Zettel vor die Nase zu legen und dann einfach wegzugehen. Dennoch reizte er mich. Noch immer hatte ich sein Gesicht nicht gesehen. Aber wenn ich jetzt hinginge, würde ich damit seine Beobachtungen bestätigen. Blieb noch die Möglichkeit, es auf der Metaebene zu probieren. Ich könnte ihm ein Kompliment machen und so tun, als ob er mich als Person kein bisschen interessierte. "Sie sind ein guter Beobachter. Es ist immer spannend, jemanden zu treffen, der hilft, das eigene Beobachtungsverhalten zu reflektieren. Wissen Sie, beruflich ist das für mich sehr interessant." Ein guter Gedanke. Ich straffte mich und vermerkte auf der Rückseite seiner Nachricht schnell noch, dass der Kellner hinter der Theke anscheinend mit seiner Frau telefonierte und einen unglaublich gelangweilten Gesichtsausdruck hatte, während er ihr versicherte, dass ihn nichts brennender interessierte, als das, was sie ihm erzählte. Langsam packte ich danach die Zeitschrift und meine Zigaretten ein und trank das Bier aus. Dann stand ich auf und machte mich auf den Weg durch den Zug. Wagen neun.
Kommunikationsanalytisch bestimmt interessant. Wenn nur mein Herz nicht so laut geklopft hätte, dass ich Angst bekam, nichts anderes mehr würde hören zu können.



Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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