Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis
www.online-roman.de
Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Am Scheideweg
© Christa Niedermeyer
In der winzigen, kahlen Dachkammer hielt die Abendstille Einzug.
Seine Arme hinter dem Kopf verschränkt, sah Jonas dem Spiel der Regentropfen zu, die erst leise, dann immer heftiger klopfend, auf das winzige Dachfenster niedergingen. Seine drei Brüder atmeten in tiefen, gleichmäßigen Zügen des ersten Schlafes. Gregor, mit dem er sein Bett teilte, legte gerade wieder einmal sein schweres Bein auf seine kleinen Füße. Vorsichtig versuchte er ein wenig Platz zu gewinnen; wann würde er endlich sein eigenes Bett zum Schlafen bekommen. Jede Nacht entbrannte der Kampf um den besten
Schlafplatz, oft kampierte er auf dem harten Fußboden. Gregors Härte konnte er selten etwas entgegen setzen.
Vom Giebel des Hauses hörte er eine Amsel das letzte Abendlied jubilieren. Vorsichtig richtete er sich auf, zog seine fast erstarrten Füße unter Gregors Bein heraus und tastete sich aus seiner wohlig, warmen Schlafecke. Seine Kleidung lag griffbereit auf dem Stuhl. Hemd und Hose waren rasch übergestreift, die Sandalen nahm er in die Hand und schlich leise zur Tür. Hoffentlich ging alles gut. Erregt hielt er den Atem an, als sein ältester Bruder Thilo sich geräuschvoll im Bett umdrehte, aber da erklangen erneut
die vertrauten, schnaufenden Atemzüge, nun noch die tückische, quietschende Türklinke überwinden ... es war geschafft. Er lauschte in das fensterlose, unheimliche Treppenhaus, alles schien ohne Hindernisse abzulaufen. Behände sprang er, freudig erregt, mit nackten Füssen die steile Stiege hinab und streifte unten die Sandalen über.
Tief atmete er den Duft des herrlichen Fliederbaumes am Hause ein. Der Regen schien langsam zu versiegen. Was für ein wunderschöner Tag war es heute gewesen. Die ersten Schwalben waren aus dem Süden zurückgekehrt und hatten in rasender Jagd nach Ungeziefer, Joggeli, den Hauskater, angegriffen. Ängstlich, geduckt floh er in die Scheune. Diesen quirligen Gesellen war er nicht gewachsen. Selbst in der Schule ließ ihn heute der strenge Lehrer in Ruhe. Sonst genoss dieser jede Chance der Bestrafung mit dem Bambusstock.
"Ich werde dir das Lesen schon einprügeln", tönte er vor der versammelten Schülerschaft. Ohne Warnung sauste der biegsame Stock klatschend auf seine ungeschützten Hände nieder. Eines Tages werde ich es ihm heimzahlen, dachte Jonas voller Wut.
Schnell lief er den Weg mit dem holprigen Kopfsteinpflaster hinab. Er hoffte inständig, dass seine Überraschung gelänge.
Die kleinen Füße trugen ihn behände durch die Schrebergärten, die im Herbst die verlockendsten Früchte für ihn bereithielten. Wenn der Hunger wieder einmal zu groß war, hatte Opa Friedrich, der reiche Viehhändler, oftmals einen Apfel oder eine Birne übrig. Jonas arbeitete für ihn nach der Schule und an den Wochenenden für einige Groschen im Schweinestall oder im Garten. Hin und wieder fuhr er mit ihm über das Land zu den Bauern und erhandelte dort selbständig einige Hennen für den Kochtopf. Er liebte die plattdeutsche
Sprache der Bauern und sie liebten es, mit ihm zu Handeln.
Die wenigen Laternen am Wegesrand flammten auf, als er die dunkelste Strecke der Gärten erreichte. Es war ihm ein wenig unheimlich zumute. In den Bäumen schienen wirre Gestalten zu hausen, hinter den dichten Sträuchern lauerten mit glühenden Augen die kleinen Kobolde aus Thilos Märchenbuch.
Nun floh er in Angst vor diesen Schreckgespenstern. Nur noch die Brücke über den Fluss und den kleinen Berganstieg hinauf, dann er wäre am Ziel. Dort, hinter der nächsten Straßenecke, lag das große Fabriktor. Er hörte die lärmenden Fabrikarbeiter der Spätschicht, geschafft ... da sah er sie, seine Mutter. Er winkte lachend und lief ihr entgegen.
Noch ehe er es fassen konnte, erhielt er einen harten Schlag ins Gesicht. "Bist du denn von allen Geistern verlassen Jonas, weißt du nicht, wie spät es ist?" Ihre Stimme überschlug sich vor Zorn.
Mit Tränen unendlicher Trauer in den Augen, stammelte Jonas: "Mutti, hast du es denn ganz vergessen, ich habe doch heute Geburtstag!"
Stumm, ohne ein weiteres Wort, traten beide nebeneinander, doch meilenweit voneinander entfernt, den Heimweg an.
Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.