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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Endstation R'lyeh

© Matthias Kuhr


Es war gelungen. In seiner Tasche trug er die unterzeichneten Papiere. Beschwingt verließ er den großen Glasbau, in dem er seinen bisher härtesten Kampf ausgefochten hatte. Er war gut, er war unbesiegbar, nichts konnte ihn aufhalten. Die Aktentasche schlug gegen sein Bein, und es schien ihm fast, als ob sie einen Rhythmus für seinen eigenen Triumphmarsch vorgab. Nun galt es nur noch, diesen Sieg zu Hause standesgemäß zu feiern.
Am Straßenrand winkte er sich ein Taxi heran und stieg ein. "Zum Bahnhof bitte", sagte er zu dem Fahrer, den er nicht ganz zuordnen konnte. Dunkle Haut, schwarze Augen und kurze Haare fielen ihm als Erstes ins Auge, dann das Lächeln und der intelligente Blick des Mannes.
"Aber sicher." Der Fahrer gab Gas und das Auto brauste davon, in Richtung Bahnhof.
"Sie sehen zufrieden aus", sagte der Mann.
Er sprach das r mit der Zungenspitze aus, was ihm einen eigenartigen Akzent verlieh.
"Bin ich, bin ich", antwortete er.
"Ein sehr wichtiger Vertrag, den ich hier in meiner Tasche habe."
"Dann herzlichen Glückwunsch. Es geht doch nichts über Erfolg bei einer wichtigen Sache, oder?" Der Fahrer schenkte ihm ein Lächeln, das er erwiderte.
Der kürzeste Weg zum Bahnhof führte am Rand des Altstadtviertels entlang. Die riesigen verspiegelten Glasflächen wichen Holzbalken und Mauerwerk.
Er schaute aus dem Fenster und bewunderte die Kunstfertigkeit der Fachwerkhäuser, mit ihren goldenen Lettern über den Türen. Einige von ihnen erhoben sich so herrlich und strahlend, als seien sie gestern erst erbaut worden. An anderen Gebäuden war schon Putz abgebröckelt und gab den Blick auf einzelne Steine der Wände frei.
Vor ihnen floss der Verkehr zähflüssig die Straße entlang. Die Bremslichter und Blinker veranstalteten ihr eigenes Spektakel, aufleuchtend und erlöschend in einem unsteten Rhythmus. Anstatt sich aber weiter auf der Hauptstraße zu halten, bog der Fahrer plötzlich rechts ab.
"Was soll das?", fragte er, während sie sich durch eine unbefahrene enge Seitenstraße bewegten. Ihn ihm kroch Angst hoch. War er an den einen kriminellen Fahrer in der ganzen Stadt geraten, der ihn jetzt ausrauben und zusammenschlagen würde?
Erneut lächelte der Fahrer, ohne eine Spur von Bedrohung. "Das ist eine Abkürzung. Wenn Sie Ihren Zug noch erwischen wollen, dann müssen wir uns beeilen." Er runzelte die Stirn. Woher wollte der Mann wissen, welchen Zug er erreichen musste? Dann sah er auf seiner Aktentasche das Logo seiner Firma prangen, inklusive Adresse, Ort, Telefonnummer, Telefaxnummer, Internetauftritt ... Er entspannte sich wieder und sah aus dem Fenster.
Die Häuser hier wirkten nicht mehr wie gebaut, sondern eher wie über die Zeit gewachsen. Windschiefe Gebäude lehnten sich auf ihre Nachbarn, dass diese sie stützen mochten. Als er seinen Blick schweifen ließ, sah er kaum noch rechte Winkel; jedes Haus stand so, wie es Platz fand, ähnlich den einzelnen Klippen einer Felswand. In die Gasse fiel kaum Licht. Wie alte Bäume hatten sich die Häuser in die Höhe gereckt, zur Sonne hin, für sich selbst um Licht bemüht, so dass sich über der Straße beinahe ein Dach befand, das nur von einem schmalen Streifen grauen Himmels unterbrochen wurde.
Er schüttelte den Kopf und sah zu Boden. Die merkwürdige Anordnung der Häuser hatte ihm eine optische Täuschung vorgegaukelt; es hatte geschienen, als ob die Häuser sich bewegen würden, als wären sie auf Treibsand errichtet, und würden nun langsam aufeinander zu driften, um sich schließlich in der Mitte zu treffen, einer Umarmung müder Riesen gleich.
Sie passierten rumpelnd eine Bordsteinkante und waren wieder im trüben Sonnenlicht der Hauptverkehrsstraßen.
Über das ruhige Motorgeräusch des Wagens hinweg hörte er nun ein leises Klicken.
Klick-klick. Klick-klick.
Als er sich nach der Quelle des Geräusches umsah, fiel sein Blick auf eine kleine Statuette, die am mittleren Armaturenbrett baumelte und nun immer wieder gegen die Plastikvertäfelung schlug.
Klick-klick. Klick-klick.
"Was ist das?" fragte er.
"Oh, das ist nur eine Art Talisman. Aus meiner Heimat." Er hatte gelesen, dass die Wasserspeier von Notre Dame absichtlich hässlich seien, um böse Geister zu erschrecken und zu vertreiben. Auch wenn er das Fremdwort vergessen hatte, war er sich sicher, dass dieser Kamerad einem ähnlichen Ziel diente. Kein Geist, der noch alle seine fünf Sinne und Übersinne beisammen hatte, würde sich so einem Scheusal auch nur nähern, überlegte er müßig. Wer dachte sich so etwas Scheußliches aus? Allein diese zahllosen Tentakel ...
Klick-klick. Klick-klick.
Bald bog das Taxi auf den Parkplatz des Bahnhofes ein.
Er zahlte und gab dem Mann ein großzügiges Trinkgeld.
"Danke, mein Herr. Ich hoffe, Sie haben noch eine gute Reise."
"Danke. Wiedersehen."
Er stieg aus, schloss die Wagentür und ging zielstrebig auf den Haupteingang zu.
Angereist war er mit einem Freund, der in der Stadt ebenfalls etwas zu erledigen hatte, aber noch länger blieb. Aus diesem Grund zog er jetzt sein Handy und wählte.
"Hallo, ich bin's", sagte er in den Hörer. "Ja, alles glatt gegangen. Keine Probleme. Ja. Ja, sicher. Du, wir reden zu Hause, in Ordnung? Ich stell schon mal die Getränke kalt. Alles klar. Ja, bis dann." Während dieser Konversation hatte er sich immer tiefer in das Innere des Bahnhofes hinein bewegt. Es war inzwischen später Nachmittag, aber dennoch schien es ungewöhnlich leer. Ein paar Reisende sah er im Zeitungsladen oder im Café sitzen, aber insgesamt schien sich kaum mehr als ein Dutzend Menschen in der Halle zu befinden.
Er ging zu einem der Automaten, um seine Fahrkarte zu lösen. Doch mit diesen Dingern hatte er seit jeher auf Kriegsfuß gestanden. Er drückte wild auf den Tasten herum, bis sich die Maschine dazu herabließ, ihm eine Verbindung zu zeigen, die zu seinem Ziel führte. Dabei fuhren die Züge über Orte, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Wo zum Teufel lag denn die Endstation R'lyeh? Wahrscheinlich hatte er eine internationale Verbindung erwischt, die irgendwo an einem obskuren polnischen Bahnhof endete.
Ihm war es einerlei, er kaufte seine Fahrkarten und begab sich zu seinem Bahnsteig.
Zwei weitere Menschen standen schon da. Sie hatten den typischen Blick, der sich einstellt, wenn das menschliche Gehirn einen Gang zurückschaltet und sich im Kopf eine große Leere ausbreitet. In Bus und Bahn scheint dies ein sehr häufiger Zustand zu sein.
Er blickte zu der Uhr neben der Anzeigetafel. Noch zwei Minuten.
Die Frau in dem langen Mantel ging einen Schritt zur Seite, dann wieder zurück. Einen Schritt zur anderen Seite, wieder zurück. Ein stiller Tanz der Ungeduld.
Der Mann zu ihrer Linken starrte auf die Schienen.
Unverwandt, nur auf Schotter und Stahl konzentriert, als erwarte er im nächsten Moment eine Vision. Die Frau weitete ihre Schrittfolge aus, machte zwei Schritte in jede Richtung, bevor sie wieder an ihrem Ausgangspunkt zum Stehen kam. Der Mann starrte. Auch als die Frau ihn anrempelte, unterbrach er seinen festen Blick auf die Schienen nicht. Sie schien ebenfalls nicht sonderlich interessiert an dem Zwischenfall und lief weiter herum, als ob nichts geschehen wäre, bis sie wieder für einige Sekunden stillstand.
Er sah wieder auf die Uhr. Der Zug müsste eigentlich jetzt kommen. Doch nichts. Kein Geräusch durchbrach die Stille, keine Durchsage, in der ein Sprecher um Verzeihung für die Unannehmlichkeiten bat. Nur Stille.
Die Frau schien einen Entschluss gefasst zu haben und ging die Treppe zur Halle wieder hinunter.
Er und sein Mitreisender blieben noch weitere fünf Minuten stehen. Gerade hatte er den Entschluss gefasst, den Anderen zu fragen, ob er wisse, was hier los sei (der Andere würde natürlich "Nein" sagen, aber es wäre ein Gespräch in der Stille), als dieser ebenfalls die Treppe hinunterging.
Verwirrt schaute er hinterher. Dann trat er an die Schwelle der Bahnsteiges und blickte in die Ferne.
Kein Zug zu sehen, aus keiner Richtung.
Da hörte er Schritte hinter sich, und als er sich umwandte sah er einen Bahnangestellten.
"Entschuldigung, was ist mit meinem Zug? Verspätet er sich?"
"Hier fährt ihr Zug nicht."
"Bitte?" Er schaute verwirrt auf sein Ticket. "Aber hier steht doch: Gleis 3."
"Von diesem Gleis fährt Ihr Zug nicht mehr. Niemals."
"Aber wieso steht es dann auf meiner Karte? Und auf dem Fahrplan? Und warum ist es nicht abgesperrt."
"Es ist ja nicht beschädigt. Ihr Zug fährt nur nicht von hier."
Er verstand es nicht. Alles an diesem Gleis war normal - die Anzeigetafel, der Fahrplan, die Bänke, nichts deutete darauf hin, dass auf diesem Gleis etwas nicht stimmte. Und nirgendwo ließ sich eine Notiz oder etwas Ähnliches entdecken.
"Von wo fährt er denn dann?"
"Nicht von diesem Gleis."
Er wollte schon zu einer scharfen Antwort ansetzen, als er das Geräusch eines herannahenden Zuges hörte.
Aber nicht auf seiner, sondern auf der entgegengesetzten Seite des Bahnsteiges.
Er drehte sich um und sah wie der Zug einfuhr; kein ICE, nicht einmal ein normaler Regionalzug, sondern ein merkwürdig überholt aussehendes Ding, mit kantigen Formen, wie er es schon lange nicht mehr gesehen hatte. Offenbar hielt die Bahn es für eine gute Idee, Altlasten beweglich auf den Schienen zu lagern, anstatt auf dem Schrottplatz.
Unter dem verdreckten Glasfenster konnte er mit Müh und Not die Endstation entziffern. Der Zug fuhr in seine Richtung.
"Was ist mit dem?" fragte er den Bahnangestellten. "Kann ich mit dem fahren? Ich muss meinen Anschluss schaffen."
"Den würde ich an Ihrer Stelle nicht nehmen."
Seine Geduld neigte sich ihrem Ende zu. "Das habe ich nicht gefragt, kann ich diesen Zug mit meiner Karte benutzen?" Und er streckte sein Ticket wie einen Fehdehandschuh aus.
Der andere Mann lächelte nach einem kurzen Blick auf die Fahrkarte und sagte: "Sicher. Aber ich würde es an Ihrer Stelle nicht tun."
Ratschläge waren ihm inzwischen herzlich egal.
Außerdem: was glaubte der Mann eigentlich, wen er vor sich hatte? Heute war sein Tag, heute konnte ihn nichts umwerfen. "Typisch Deutsche Bahn", grummelte er vernehmlich und ging auf die Waggontür des schnaubenden Fahrzeugs zu.
Kein einfacher Druckknopf, sondern ein Hebel befand sich an der Außenseite. Er zog das Ding zur Seite, doch erst nach einigem Kraftaufwand setzte sich die Tür in Bewegung. Während er sich einen Zugang aufstemmte fragte er sich, wie lange es wohl her war, dass dieser Zug eine Wartung gesehen hatte.
Der Innenraum war nicht viel einladender als das Äußere. Zwei gläserne Schiebetüren trennten den kleinen Zwischenraum, in dem er stand, von den Abteilen. Die Scheiben waren zerkratzt und voller Schlieren. Das Plastik auf dem Boden begann sich bereits abzulösen und Wellen zu schlagen. Durch diesen unebenen Boden schien es beinahe, als ob man sich auf einer schrägen Fläche bewege, die durch Glück und Willkür, jedoch nicht durch Gesetzmäßigkeiten auf die Seitenwände traf.
Er wandte sich nach links und zog am Türgriff.
Kreischend gab sie nach und bewegte sich widerstrebend in ihrem verzogenen Rahmen. Ohne sich weiter um sie zu scheren, schritt er hindurch und ließ sich auf einen der Plätze fallen. Federn, die über die Jahre ausgeleiert waren, gaben unter seinem Gewicht nach, so dass er sich fühlte, als ob er von einer widerstandslosen Masse halb verschluckt würde. Der Geruch des Abteils war kaum definierbar, das eigen- und einzigartige Aroma alter Orte, die ihrer letzten Ruhe entgegensehen.
Er schloss die Augen und atmete hörbar und erleichtert aus. Und bei einem solchen Standard erwartete die Bahn ernsthaft, Gewinne zu machen. Es war lachhaft!
Die dumpfe Schlagen der Außentüren drang an sein Ohr und ein alter Motor röhrte auf. Schwerfällig setzte sich der Zug in Bewegung.
Als er nach ein paar Sekunden wieder die Augen öffnete, fiel ihm etwas auf. Es lag vor ihm auf dem gegenüberliegenden Sitz seiner Vierergruppe. Ein Buch.
Doch kein Buch, wie er es schon einmal gesehen hatte.
Es schien zu keinem DIN-Format zu passen, und sah überhaupt nicht aus wie etwas, das maschinell angefertigt worden war. Der Einband bestand aus altem Leder, und soweit er das erkennen konnte, waren die Seiten dicker als gewöhnlich.
Es war ihm schon das eine oder andere Mal passiert, dass er eine liegen gelassene Zeitung gefunden hatte, aber das hier war etwas Anderes. Dieses Ding musste doch wertvoll sein. Sollte er es mitnehmen und bei der nächsten Bahnhofsverwaltung als Fundsache abgeben?
Nun schaute er sich genauer im Abteil um und bemerkte zum ersten Mal, dass er nicht allein war. Ein ältlicher Mann saß etwas weiter in der Wagenmitte an einem Fensterplatz in Fahrtrichtung. Seine Lippen bewegten sich etwas und er starrte blicklos aus dem Fenster.
"Entschuldigung?"
Er bekam keine Antwort. "Verzeihung", versuchte er es noch einmal, diesmal lauter und bestimmter. "Ist das Ihr Buch?" Nun verstummte der Alte und wandte seinen Kopf zu ihm.
Sein regungsloses Gesicht schien aus zahllosen Falten zu bestehen, die von etwas Haut zusammengehalten wurden. Das weiße Haar fiel ihm ungepflegt bis auf die Schultern, und sein Körper verharrte schlaff in der gleichen Position wie zuvor.
Wenn er nicht gesehen hätte, wie sich die Augen bewegten, hätte er den Alten für blind gehalten. Doch der Blick des Anderen veränderte sich und wanderte in seine Richtung. Es schien jedoch nicht, als würde er ihn wirklich sehen; der Fokus der merkwürdigen grauen Augen schien auf einem Punkt kurz vor oder hinter seinem Gesicht zu liegen. Es ließ ihn frösteln.
"Ist das Ihr Buch?", wiederholte er unbehaglich, ergriff den schweren Band und hielt ihn in die Höhe.
Für eine oder zwei Sekunden blieb der unheimliche Blick in seiner Umgebung, dann drehte der Fremde wieder den Kopf und richtete seine tranceartige Aufmerksamkeit auf die Landschaft. Erneut begannen sich seine Lippen zu bewegen, als rezitiere er ein Gedicht.
Offenbar hatte der Andere kein gesteigertes Interesse an dem Buch, und so schlug er es auf und überflog die Seite, auf die er gelangt war.
Ein merkwürdiges Gemisch aus Deutsch, Englisch, Latein und anscheinend auch Arabisch schlug ihm entgegen.
Doch nicht nur wechselte die Sprache, auch die Handschrift, mit der die Seiten bedeckt waren, veränderte sich ständig. Neben den Absätzen standen kryptische Abkürzungen wie "DVM", "CdG", "DuK" und ein oder zwei Mal "N".
Er vertiefte sich in die deutschen und englischen Absätze und versuchte, ihrer altertümlichen Sprechweise ein wenig Sinn abzuringen. Der Wortlaut erschloss sich ihm recht schnell, doch erfasste er die Bedeutung nicht sofort. Was für ein wirres Zeug war hier auf Papier gebannt worden? Große Alte? Dunkle Kulte? Götter vom Anbeginn der Menschheit? An diesen New Age Schwachsinn hatte er noch nie geglaubt. Auf seiner Stirn bildete sich eine spöttische Falte, als er weiter durch den klobigen Wälzer blätterte.
Doch nach einigen Minuten erfasste ihn eine merkwürdige Unruhe. Je weiter er Einblick in die Welt der dunklen, bösartigen Wesen gewann, desto feuchter wurden seine Hände. Mit jedem Absatz, der neue Abscheulichkeiten beschrieb, die er sich zuvor nicht hatte vorstellen können, raste sein Herz schneller.
Etwas in seinem Unterbewusstsein schrie entsetzt auf und verkroch sich in der hintersten Ecke seines Geistes, in der Hoffnung, der Schatten möge vorüber ziehen. Er klappte das Buch energisch zu und warf es zurück auf den Sitz, wo es eine kleine Staubexplosion auslöste, die von der Abendsonne rot eingefärbt wurde.
"Unsinn", knurrte er. "Spinnerei. Wahnsinn." Er suchte nach immer neuen Vokabeln, um das Buch abzutun, um nicht über seinen Inhalt nachdenken zu müssen.
Der Zug verlangsamte sich und als er aufblickte sah er, dass auf der klickenden Anzeigetafel über der Tür sein Umsteigebahnhof geschrieben stand.
Er erhob sich, und sein Blick fiel noch einmal auf das schwere Buch. Es war das Leder nicht wert, in das es gebunden war. Aber ... bei dem Gedanken, es zur Bahnhofsverwaltung zu bringen, ja, es noch einmal in die Hand zu nehmen, wurde ihm plötzlich schlecht.
Er wirbelte herum und stürmte aus dem Abteil, gegen die Übelkeit ankämpfend. Vor dem Fenster der Zugtür zogen parallele Gleise vorbei und der Anfang des Bahnsteigs kam in Sicht. Er trommelte nervös mit den Fingern gegen das zerkratzte Glas, auf dem merkwürdige Zeichen, wahrscheinlich Graffitis oder irgendein ähnlich geistloser Quatsch verewigt waren. Er wollte aus diesem Zug raus, so schnell wie möglich. Er musste schließlich noch einen anderen erwischen, oder? Ja, genau, das war es, er musste dringend woanders sein, es war ja nicht so, als ob er vor etwas davon liefe.
Der Zug hielt ächzend an und ließ ihn fast umfallen.
Er zog an dem Hebel, aber nichts rührte sich in dem veralteten Mechanismus. Seine Übelkeit wallte auf; er zog noch einmal. Wieder rührte sich nichts. Diese Tür musste sich doch öffnen lassen. Er musste aus diesem Zug raus. Wenn sie jetzt wieder anfahren würden, wäre er in diesem Ding gefangen, müsste zusehen, wie sein rettender Bahnhof ihm wieder entglitt, wäre bis zur nächsten Station weiter eingesperrt mit diesem Ding - und dann würde er ...
Er riss noch einmal an dem Hebel und mit einem Ruck, der ihn fast auf den Bahnsteig fallen ließ, gab sie nach. Kühle Abendluft umfing ihn, als er ins Freie stolperte. Ohne noch einen Blick zurück zu werfen hastete er zu der Treppe, die vom Gleis führte.
Unten angelangt lehnte er sich an die Wand und kämpfte gegen seinen Brechreiz an. Langsam gewann er die Oberhand und nahm wieder eine aufrechte Haltung ein, zurückgekehrt in den Schoß der Zivilisation. Leise begann er zu lachen. Er war ein aufgeklärter Mensch, Angehöriger eines Goldenen Zeitalters; es wäre doch wirklich lachhaft, wenn er sich von einer alten Schauergeschichte ins Bockshorn jagen ließe, nicht wahr? Lachhaft, einfach lachhaft ... und während er so herzlich darüber lachte wurde ihm langsam bewusst, dass sich ein leiser Unterton in sein Gelächter mischte, der ihm gar nicht gefiel. Wie zuvor seine Übelkeit kämpfte er das Lachen nieder, das sich in seinem Inneren immer wieder wie sumpfige Blasen erhob.
Ihm wurden nun die Blicke peinlich bewusst, die andere Leute ihm zuwarfen.
Er richtete sein Jackett und marschierte zielstrebig los. Dann musste er zielstrebig in die entgegengesetzte Richtung marschieren, weil sein nächster Zug dort wartete.
Dieser war tröstlich modern. Normal. Die Tür surrte bei der ersten Berührung des Druckknopfes freundlich auf. Er ließ sich am Fenster nieder und lehnte seinen Kopf gegen das kühle Glas. Der Zug fuhr an. Langsam kam ihm wieder in den Sinn, warum er sich eigentlich auf Reisen befand. Der Vertrag. Der größte Vertrag seines Lebens. Er hatte ausgesorgt, für seine Zukunft gab es keine Zweifel mehr.
Während er durch die Landschaft nach Hause schoss, gestattete er sich erneut ein kleines Lachen. Er hatte gewonnen. Er war die Krone der Schöpfung, erhaben über seine Mitmenschen, die im Staub ihrer alltäglichen Sorgen herumkrochen.
Ein weiteres Lachen. Und dann, als er aus dem Fenster blickte, sah er es.
Das heißt, er sah es weniger, als dass er es wahrnahm.
Im Zwielicht des Abends konnte er die Steine und den Schotter der Bahnstrecke erkennen - und auch die Linien darin. Linien, die kein Zug verursachen konnte, da war er sich sicher. Linien und Haufen, die nicht durch Zufall und Naturgewalten entstanden waren.
Er strengte sich an, kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen, das er nicht sehen wollte. Erneut stieg die Übelkeit in ihm hoch, doch er ignorierte sie, denn alles andere wurde nun unwichtig. Alles außer dieser leisen Bewegung unter dem Schotter, die sich über die gesamte Strecke zog, und die er so klar sah, als ob er völlig stillstände. Die Bewegung von etwas, das sich unter dem Schotter wand, ein langes dünnes Etwas, wie eine riesige Schlange, oder ein Tentakel ...
Und als er dann in seinem Kopf den unheimlichen Laut hörte, einen Laut, wie ihn keine irdische Kehle hervorbringen konnte, war es vorbei.
Er sprang auf. Raus. Raus. Weg. Rennen. Überleben.
Rennen.
Er fiel förmlich aus seinem Sitz und stolperte die Treppe auf Händen und Füßen hinauf. Dann war er bei der Tür und hämmerte darauf ein. Sie durften ihn nicht einsperren, sie durften nicht, er musste weg.
Da fühlte er die ersten Tentakel, fünf Tentakel, die sich um seinen Arm schlossen, und ihn festzuhalten versuchten.
Er schrie wild, und bohrte seinen Ellbogen dem Wesen in den Körper, doch sofort war ein weiteres da, das ihn festzuhalten versuchte. Er trat und schlug und schrie. Auch als ihn mehrere packten wand er sich in ihrem Griff, nur von dem Wunsch beseelt, schreiend zu entfliehen.
Der Verrückte, den man am Abend aus dem Regionalexpress gezerrt hatte, war am nächsten Tag das Stadtgespräch. Viele rätselten, was einen erfolgreichen Geschäftsmann dazu bringen konnte, plötzlich von einem Augenblick auf den anderen seinen Verstand zu verlieren. Die Ärzte konnten keine genaue Diagnose stellen. Der Mann war kaum ansprechbar, und wenn die Wirkung der Sedativa nachließ, schrie er nur und versuchte, aus der nächsten Tür zu rennen.
Denen, die ihn an diesem Abend auf dem Bahnsteig gesehen hatten, blieb der Anblick unvergesslich, wie der Mann in seinem feinen Anzug panisch auf die ihn umgebenden Leute eindrosch, das Gesicht unter dem harten Neonlicht zu einer Fratze verzerrt, wobei er immer wieder sinnlose Wortfetzen ausstieß. Um ihn herum standen schon die ersten, die er in seiner blinden Raserei geschlagen, gekratzt oder gebissen hatte. Erst eine dreifache Dosis Beruhigungsmittel der Bahnhofssanitäter hatte ihn ruhig gestellt.
Niemand achtete auf den merkwürdigen Alten, der etwas abseits stand und unverständliches Zeug murmelnd das Schauspiel betrachtete.



Eingereicht am 20. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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