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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Hab Acht
© Nils Machens
Dieser Frühling sollte alles verändern. Ich befand mich in jenem frühen Lebensabschnitt, den man die Frühlingsjahre nennt. Ich war damals gerade erst 8 Jahre alt und ich gehöre zu den Menschen dessen erste Stelle des Alters immer mit der ersten Jahreszahl im Kalender identisch ist. Es war im Jahr 1988. Als Kind hat es mir vergnügen bereitet diesen Zusammenfall der Zahlen zu beobachten und rechnete drauflos im welchen Jahr ich zum Beispiel 21 sein würde, natürlich 2001. Ich brauche nur die Nullen ausstreichen,
schon besitze ich mein Alter. Aber genug davon, auch wenn das Spielen mit Zahlen mir schon seit Ewigkeiten Freude bereitete. So gibt es doch eine Zahl, die mein Leben nachhaltig beeinflusst hat. Nämlich die Zahl Acht, im Taro die Karte "Der Tod". Ich weiß, einige von euch halten das für Aberglaube. Ich möchte auch keinen dazu zwingen oder davon überzeugen, dass ich Recht habe und dass das Schicksal vorherbestimmt ist. Schaut euch lieber meine Geschichte an und ihr werdet Zufälle darin sehen, die nicht
so einfach erklärbar sind. Das Furchtbare daran ist, dass sie wirklich wahr ist. Aber ich schweife ab. In meiner Kindheit lebte ich mit meiner Mutter, meinem Stiefvater und meinen Geschwistern in einem kleinen Dorf. Der Umstand, dass meine Mutter Ausländerin ist, genauer gesagt Finnin ist, hat dazu geführt, dass wir in einem Holzhaus wohnten. Der große Traum meiner Mutter und meines Stiefvaters. Mein leiblicher Vater lebte getrennt von uns in einer anderen Stadt. Ich sah ihn nur selten. Leider haben sie nicht
gewusst, dass die Entwurzelung aus unserer alten Wohnung in der Großstadt mir große Verluste bescheren würde, denn ich wurde rausgerissen aus meinem Freundeskreis und der mir lieb gewordenen bekannten Umgebung, die mir so wichtig war. Die folgenden Jahre, eigentlich die wichtigsten, haben es mir sehr schwer gemacht in meinem Leben, je wieder solche Freunde zu finden, wie ich sie einst besaß. Man sagt, die Karte "Der Tod" bedeute Veränderung. Ja, die hatte ich im großen Maße. Veränderung bedeutet leider
auch Verlust, um etwas Neuem Platz gemacht zu werden, muss etwas Altes weggenommen werden. Zunächst einmal besaß ich ein Elternhaus mit einer netten Erziehung und zwei Geschwistern. Es hat halt doch nicht schlecht angefangen. Mein älterer Bruder, war drei Jahre älter, den ich damals noch sehr bewunderte und meine Schwester war fünf Jahre jünger, damals noch sehr verschlossen. Ist es nicht interessant zu sehen, das mein Bruder und meine Schwester 8 Jahre auseinander liegen. Kein weiterer Kommentar von mir. Für
meine Schwester war ich der Beschützer und Spielgefährte. Draußen im Garten bei der Buddelkiste wühlten wir zusammen im Sand und erdachten uns eigene Geschichten. Unser Gelächter drang über den efeubewachsenen Zaun zu den Nachbarn herüber. Unser älterer Bruder jedoch schüttelte den Kopf gelangweilt über gebackenen Sandkuchen, der verkauft werden musste, über die lustigen Pferde, die wir nachahmten und von der Freiheit träumten und den Kinderspaß, den wir mit prustendem und kicherndem Lachen preisten. Er kannte
andere Spiele und was für welche. So kam er dann immer, wenn ihm die Laune danach stand, mit breiten Schritten zu uns in den Sandkasten. Einem Koloss gleich, hob er ganze Gräben mit seinen Schaufelhänden aus, betonierte glatte Mauern und spickte diese mit einer ganzen Armee von Figuren. In zwei Lager aufgeteilt machten sie sich bereit für den Krieg. Das verstand er unter spielen. Doch das Ganze reichte noch nicht, so schritt er von dannen und kehrte mit einem langen Gartenschlauch wieder, dessen Ende er in den
Boden steckte, dann Wasser marsch! Die Schlacht begann. Schnell fielen die Soldaten, nieder gemäht von des Gegners Schüssen. Es brachen die ehemals so festen Mauern, durch die Kraft der Wassermassen. Unsere Beine steckten tief im Schlamm, doch bereitete es uns Jungs stets Vergnügen, wie Götter über dem Chaos gebeugt, über das Leben der Soldaten zu richten, während unsere Schwester auf einem Balken sitzend und die Beine baumelnd lassend, dem Spektakel zuschaute. Anschließend sprangen wir mit lautem Kreischen durch
den Rasensprenger und wuschen unseren Dreck ab. Das waren jene unbeschwerten Kindertage. Heute bin ich 25 Jahre alt, es sind also 17 Jahre vergangen und was ergibt die Quersumme? Als der Beschütze meiner Schwester brachte ich ihr als kleines Kind oft einen Haufen Ratschläge bei. Gib Acht, wenn du über die Straße gehst und gehe mit keinem unbekannten Herrn mit, auch wenn er dir Süßes verspricht. Sie nahm diese und ähnliche Ratschläge sehr ernst und obwohl ich nur ein paar Jahre älter war als sie und selber noch
ein Kind, war ich doch der Vormund für sie gewesen. Natürlich nach den wahren Eltern, das versteht sich von selbst. Aber diese erwachsenhafte Achtung vor mir hat sich bis auf den heutigen Tag nicht geändert. Habe ich ihr doch so manches Mal zur späterer Zeit aus mancher Klemme geholfen und sie, wie ein weiser alter Herr, mit klugen Ratschlägen gemahnt. Doch gab es eine Zeit, da hatte ich eine schwere Bürde zu tragen und wie das Leben einen Menschen schleift und zu dem macht, was wir soziologisch Erwachsensein
nennen, so kam ein bestimmtes Erlebnis über mich ein, das mich einen weiten Schritt näher dorthin brachte und mich logischerweise aus dem bunten Tal der Kindheit heraus entfremdete. Es war an diesem warmen Frühlingstag, wo ich von der Schule, die ich jüngst besuchte, nach Hause kam und meine Schwester hinterm Haus im Garten spielend fand. Ich gesellte mich zugleich zu ihr und fing an allerlei Späße und Närrereien mit zu treiben. Wir tollten auf dem grünen Rasen vor der Veranda herum und das sonnige Licht fiel
durch das blühende Geäst der Bäume in unserem Garten. Doch ich bemerkte irgendetwas, was die Stimmung in unserer Heiterkeit trübte. Durch das große Fenster bei der Veranda, das das Wohnzimmer mit seinen schweren Möbel zeigte und mit der kleinen Telefonnische an der Seite, wo ein kleiner Tisch stand und darauf das Telefon, konnte ich meine Mutter, davor sitzend, sehen. Zunächst machte ich mir nichts daraus, da es ja kein ungewöhnlicher Anblick war. Ich stieg in das Gelächter und Spielerei meiner Schwester wieder
ein. Wir schlugen Purzelbäume und veranstalteten Wettrennen, doch konnte ich einmal, unbewusst mit einem komischen Behagen in mir, die Neugier nicht besänftigen und blickte immer wieder zum Fenster hin, wo meine Mutter nach wie vor saß und den Hörer in der Hand hielt. Nun kam aber mein Stiefvater hinzu, der in einem respektvollen Abstand vor ihr stehen blieb und sie mit ernster Miene musterte. Ich muss hier kurz einhaken und das Bild von meinem Stiefvater ein wenig schärfen. Dieser war nämlich ein von Natur aus
ernsthafte Persönlichkeit, der das Gehabe eines Professors hatte, wenn er auch keiner war. Zumindest hatte er studiert und war sehr belesen. Er lachte selten und hatte jene zurückgezogene melancholische Art, die nur schwer zu entdecken ist, wenn man ihn nicht näher kannte. Früher trug er noch einen schwarzen langen Bart, hat ihn aber zu diesem Zeitpunkt vor ca. einem Jahr schon abrasiert. Meine Schwester hat geweint als sie ihn das erste Mal so sah. Er war eigentlich kein richtiger Familienmensch und besaß diese
intellektuelle Distanziertheit anderen Menschen gegenüber. Er war stets hilfsbereit, wenn es um ein technisches oder wissenschaftliches Problem ging. Hier fand er immer seine meditative Versenkung. Wissenschaft und Technik umschloss sein bekanntes Universum, in dem er aufzugehen verstand. Ich tue ihm aber Unrecht, wenn ich ihn jetzt so negativ beschrieben habe. Er gab sich der Familie auf seine Weise hin, er war schließlich der Brotverdiener und arbeitete hart. Für uns Kinder war er der Beschützer und ein Lehrer,
ja sogar ein guter Mentor. Nun stand er mit seinem ernsten Gesicht vor meiner Mutter, seine schwarzen dicken Brauen besorgt zusammengezogen. Meine Mutter hielt noch immer den Hörer in der Hand und schien konzentriert zu lauschen. Sie blickte zu meinem Stiefvater auf, schien aber durch ihn hindurch zu blicken. Ich war derweil hin und her gerissen, da mich dieser Anblick zu faszinieren begann und meine Schwester mich, auf der anderen Seite, immer wieder zum Spielen lockte. So kam es, dass ich wie in lebendigen
Fotobildern die Szenerie im Hause mit verfolgte, in dem ich beim Spielen hin und her rannte und immer wieder ein Blick durchs Fenster warf, wenn ich daran vorbei kam. Zuerst legte meine Mutter den Hörer auf, dann saß sie nur da, mein Stiefvater stand bewegungslos die ganze Zeit über vor ihr. Dann erhob sie sich und gleichzeitig kam er auf sie zu und ihre besorgten Blicke trafen sich. Er umarmte sie dann, woraufhin sie zurück auf den Stuhl sank. Er hielt ihren Kopf an seine Brust. Das war das letzte Bild, an das
ich mich noch erinnern kann, denn dann versank ich wieder in den Spaß mit meiner Schwester. Plötzlich stand meine Mutter an der Veranda und winkte mich zu sich. Mit schnellen Schritten rannte ich zu ihr. Ich ging mit ihr zusammen ins Haus, vorbei an den schweren Möbeln und wir setzten uns hin. Mein Stiefvater stand stumm wie immer ernst blickend. "Wir müssen dir etwas sagen", waren ihre Worte. Dann erzählte sie mir, dass mein Vater tot sei. Er ist bei einem Autounfall in der Türkei umgekommen. Der Wagen
fuhr eine Bergstraße entlang und kam auf ungeklärte Weise von der Fahrbahn ab. Er war nicht angeschnallt. Ich fühlte mich mit einmal leer. Ich hatte den Sinn der Worte verstanden, doch der tief greifende Sinn dahinter blieb mir verborgen. Ich ging in mein Zimmer und legte mich auf mein Bett. Ich versuchte etwas zu spüren, doch fand keine Gefühle in mir. Es war als seien sie verschwunden. Ich lauschte den Geräuschen in meiner Umgebung und dachte über die Konsequenz des Todes nach. Ich kannte meinen Vater und hatte
ich häufig besucht und anders als mein Stiefvater, war er ein richtiger Vater gewesen. Einer, der einem Mut macht und zu Fußballspielen mitnimmt. Das war nun vorbei. Ich hörte, wie mein Bruder nach Hause kam. Ich hörte, wie er anfing zu weinen und meine Mutter ihn tröstete. Wie meine Schwester im Garten spielte und zu meinem Fenster angelaufen kam und dann mir zuwinkte. Sie lachte mich an, woraufhin ich mich weg drehte. Sie fing an, an die Scheibe zu klopfen und rief mich. Sie hatte ja keine Ahnung, was geschähen
war. Meine Mutter kam raus und holte sie weg. Meine Geschichte endet hier. Es bleibt nur noch zu sagen, dass mein Kindsein eine große Veränderung durchgemacht hat. Bei solchen Ereignissen bleiben wir nie dieselben. Ich begann die Welt mit anderen Augen zu sehen und büßte ein Teil meiner naiven kindlichen Heiterkeit ein. Meine Schwester sagte einmal später, dass sie meine Ernsthaftigkeit früher sehr bewundert hat. Man darf sich nicht zerstören lassen durch solche Ereignisse. Der Tod bringt immer Veränderung mit
sich und hinter dem Horizont kann immer die Sonne aufgehen für einen neuen Tag. Die Zahl Acht ist auch ein Zeichen des Neubeginns. Denn der achte Tag, nach dem Gott die Welt geschaffen hat, galt der Vervollkommnung des Menschen werden. Man muss die Kraft finden zur Regeneration, um die Persönlichkeit zu erweitern. Das nennt man erwachsen werden. Nun lieber Leser, dies sind die Zeichen, die ich meine, die unser Leben beeinflussen. Es gehört keine große Magie dazu. Man muss nur wissen, sie zu erkennen und für sich
zu deuten.
Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.