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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Erkenntnisse
© Kay Kalff
Der Raum wirkt offen, aber auch leer. Er hat kein Leben. Noch nicht. Die Tische sind an die Wand gerückt, die sieben Stühle bilden einen Kreis.
Jede Woche am Montag treffen wir uns hier um zu reden. Ich drücke den Lichtschalter, der Raum erglänzt im hellen Neonlicht. Ich finde die Schalter für die indirekte Wandbeleuchtung, entscheide mich für das gemütlichere Licht und schalte die Neonröhren wieder ab.
Sofort zieht eine wärmende Gemütlichkeit in die Wände ein und lässt sogar die Tafel an der Wand matt und warm erscheinen.
Die Tür ist offen und die Gruppe findet sich murmelnd ein. Ich blicke in Gesichter, die den Tag und den Moment spiegeln. Gehetzt ist der eine, müde die andere, erwartungsvoll der nächste Ausdruck in jungen, älteren und alten Gesichtern.
Die Stille, die nun folgt, macht alle gespannt auf meine Eröffnung.
"Unser heutiges Motto soll lauten - Schlüsselerlebnisse." Einige Augenpaare sehen mich blitzend an. Andere sehen leer aus, wieder andere scheinen sich nach innen zu kehren, um an den anliegenden Gehirnwindungen Erinnerungen nach einem Schlüsselerlebnis abzusuchen.
Ein Augenpaar sieht mich unverwandt an. Heinz macht den Anfang: "Es war als ich das Problem der Unendlichkeit endlich in den Griff bekam", sagt er. Heinz war Professor für Mathematik. Wie immer steht er vorsichtig auf, bewegt sich weich und linkisch zur Tafel, zögert, greift die Kreide und beginnt sie mit Formeln zu beschreiben.
Die Anderen reagieren unterschiedlich. Teils Stöhnen, teils Verkrampfung in den Händen, teils Teilnahmslosigkeit. Ich sehe ihm zu. Bis die Tafel voll ist. Heinz sieht mich unsicher an. "Die Tafel ist voll", sagt er hohl.
Gebückt schleicht er an seinen Platz und kauert sich hin, den Kopf in die Hände gestützt, die Zähne auf den Fingerkuppen gebleckt.
"Wie war Dein Gefühl?", fragt Gerda. Während die Frage in der schwülen Luft hängt, sich die sterilen Gerüche von Kunststoffboden und Kunststoffarmlehnen zu verdichten scheinen, löst sich Heinz aus seiner krampfartigen Haltung. Das Gesicht wird entspannter, es zeichnet sich ein Lächeln ab. "Leicht. Es war alles plötzlich so leicht."
Alle atmen auf. Peter nickt plötzlich heftig. "Das war genauso, als ich endlich fliegen konnte." Peter, wissen wir alle, war Pilot.
"Ich breitete die Arme aus und fühlte mich so leicht. Es war nur ein Flügelschlag, und ich hob ab. Wann und wo ich wollte." Peter strahlt in die Runde. "So war das. Ganz leicht."
Ich mache mir Notizen. "Darf ich?", fragt Linda. Sie ist schüchtern, hat große Augen und trifft wohl die Vorteile jedes Kindchenschemas. Ich nicke lächelnd.
"Es war der Berg. Ich hole tief Luft und er wird weich und samtig. Es ist ein schönes Gefühl, so durch den Berg wandern zu können. Ganz geborgen fühle ich mich immer, wenn ich durch einen Berg wandere. Und kein anderer ist da. Obwohl es doch so leicht ist."
Gerda staunt. "Das hast du mir ja noch nie erzählt", sagt sie in Lindas Richtung. Linda sieht schüchtern und lächelnd zu Boden. "Na ja, es war halt beim ersten Mal unheimlich und aufregend, aber bestimmt mein schönstes Schlüsselerlebnis."
Wilfried wackelt schon eine Zeit auf dem Stuhl herum, wirkt sichtlich aufgekratzt. "Wollt ihr mein Schlüsselerlebnis eijentlich nich auchemal hören ?" Der Rheinländer in ihm ist unüberhörbar.
Alle sehen ihn überrascht an. "Dat war als menge erste Frau mich erausjeschmissen hatte un ich de verflixte Tür nich mehr aufjekricht hab." Er macht eine Kunstpause. Wir erwarten den nächsten Satz.
"Na ja, ohne Schlüssel jeht dat ja och schlecht, nä ?" Er bricht in schallendes Wiehern aus, haut sich auf die Schenkel und lacht sich Tränen in die Augen. "Von wejen Schlüsselerlebnis !"
Als er merkt, dass keiner mitlacht wird er schnell still. "Isch hann ja nur emal so jemeint …"
Kaum zu hören, was er dann noch nuschelt.
Gerda schluckt, fasst sich ein Herz und meint "Erster Schultag. Es war schönes Wetter, ich war ganz fein angezogen, und … und …" Sie schluchzt.
"Was war dann?" höre ich mich fragen.
"Dann hab ich gemerkt, dass meine Schwester viiel hübscher angezogen war, ihre Schultüte war auch viiel größer gewesen als meine, und da habe ich angefangen …" Gerda holt tief Luft.
"Sie zu h a s s e n !" Sie brüllt es heraus. Wir alle zucken zusammen.
Gerda sitzt still wie eine Statue, wächsernes Gesicht. Sie zittert. "D a s war m e i n Schlüsselerlebnis", sagt sie fest.
Ich wende mich an Berthold. Er sitzt immer noch da wie eine Schaufensterpuppe, gläserne Augen, die Hände ineinander gekrallt.
Ich frage, mich zu ihm herüberbeugend: "Möchtest du uns von deinem Schlüsselerlebnis erzählen?"
Das erste Mal scheinen seine Augen den Blick aus der Unendlichkeit abzuwenden, wandern in meine Richtung. Er sieht mich leer an. Seine schweißnasse Hand greift nach meiner.
"Ich kann gar nichts sehen", sagt er wimmernd. Ich halte seine Hand.
Zwei Stunden später sitze ich bei meinem neuen Chef. Er sieht mich neugierig an. "Und? Wie ist ihre erste Sitzung verlaufen, Herr Kollege?"
Ich denke nach, gehe die einzelnen Patienten noch einmal im Geiste durch. Ich sehe seinen fragenden Blick, räuspere mich und flüstere: "Ganz alleine das erste Mal eine Therapiegruppe leiten - das ist gar nicht leicht."
Der Chef lacht, in die Überheblichkeit vieler Jahre psychiatrischer Erfahrung versinkend, sich wohlig am Wohlstandsbauch kratzend nickt er, sieht mich verträumt an und die Worte blubbern aus ihm heraus: "War auch für mich damals ein Schlüsselerlebnis."
Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.