Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Jeder Mensch braucht einen Engel

© Martina Kroll


"Susanna, was meinst du - gibt es eigentlich Engel?" Anna sah ihre Tante Susanna fragend an und wartete geduldig auf eine Antwort. Wie so oft schien Susanna in eine Welt zu versinken, die nur ihr gehörte, ehe sie aufschaute.
Statt einer Antwort fragte Susanna zurück: "Was glaubst denn du?"
"Mama hat mir, als ich ein Kind war gesagt: Alle Menschen hätten einen Schutzengel, der über ihr Leben wache."
"Und hast du es geglaubt?"
"Ja, als Kind war ich mir ganz sicher. Ich stellte mir meinen Engel immer als ein Kind vor. Er sah fast so aus wie ich. Mein Engel war blond, hatte ein langes Kleid und natürlich Flügel aus weißen Federn." Anna verzog, während sie erzählte, ihr Gesicht so, als mache sie sich über sich selbst lustig. "Ach ja," fiel ihr noch ein, "und er hat immer gelächelt." Annas Sommersprossen schienen, als sie das sagte, über ihr Gesicht zu hüpfen. Schließlich war sie mit ihren sechzehn Jahren schon fast erwachsen.
Wie immer entlockte dieser Anblick ihrer Tante ein Lächeln. "Und wie fühlte es sich an, einen Engel zu haben?"
"Das war ein wirklich schönes Gefühl. Es war so, als wäre immer jemand bei mir. Ich fühlte mich nie ganz allein."
"Und einmal", fiel Anna weiter ein, "wäre ich fast von einem Auto überfahren worden, weil ich beim Überqueren der Straße gestolpert war. Der Wagen kam nur wenige Zentimeter von meinen Beinen entfernt zum Stehen. Damals sagte eine Frau zu mir: Da hast du aber einen guten Schutzengel gehabt! Außer ein paar Kratzern durch den Asphalt hatte ich keine Verletzungen. Ich habe damals wirklich Glück gehabt."
"Oder eben einen guten Schutzengel, wie die Frau zu dir gesagt hat."
"Ja, genau, das ist ja meine Frage, die du mir noch nicht beantwortet hast", entgegnete Anna. Und weil sie endlich eine Antwort hören wollte, forderte sie ihre Tante erneut auf. "Also, nun sag schon. Glaubst du an Schutzengel?"
Susanna machte es sich in ihrem Sessel noch ein wenig bequemer, indem sie ihre Beine überkreuzte. Anna wurde plötzlich bewusst, warum Susanna, die mit Einmetersechzig wahrlich nicht groß war, einen so großen Sessel brauchte: weil sie so gerne im Schneidersitz saß.
In ihre Erkenntnis herein sagte Susanna: "Als Kind hatte ich eine ziemlich ähnliche Vorstellung wie du. Meine Eltern, deine Großeltern, waren sehr religiös. Mein Vater auf eine eher stille Art. Doch durch meine Mutter, die uns Kindern gerne Geschichten vorlas, wimmelte in meiner Kindheit nur so von Heiligen, Märtyrern, Wundern und anderen Merkwürdigkeiten."
Nach einem Schluck aus ihrem Rotweinglas fuhr Susanna fort. "Als Kind waren all diese Wesen sehr real für mich. Ich träumte von den Menschen, denen das Leben für ihren Glauben genommen wurde, die im Feuer für ihre Überzeugung brennen mussten, und auf andere grausame Weisen starben. Was am Tage schaurig schöne Geschichten waren, wurde nachts oft zu Alpträumen, aus denen ich schweißgebadet erwachte. Wenn im Flur noch Licht war, oder der Mond in mein Zimmer schien, konnte ich schemenhaft mein Lieblingsbild an der Wand sehen. Darauf war ein Mädchen, das eine Taube in ihren Händen hielt. Dieses Bild prägte als Kind die Vorstellung meines Schutzengels."
"Hey, ich glaube, ich kenne dieses Bild!" entfuhr es Anna. "Hast du es nicht in deinem Schlafzimmer hängen?"
"Du hast fast Recht, Anna. Das Motiv ist wirklich das gleiche. Aber trotzdem ist es ein anderes Bild. Das Bild meiner Kindheit war sehr viel kleiner, doch es spendete mir damals oft Trost. Auch eine Aufgabe für Schutzengel."
"Also hast du als Kind an Schutzengel geglaubt", folgerte Anna.
"Ja, habe ich."
Anna merkte, dass sie unruhig wurde. Warum konnte ihre Tante nicht einmal wenigstens eine klare Antwort geben? Zwar wusste sie nun, dass Susanna als Kind an Schutzengel geglaubt hatte, aber wie sie heute darüber dachte, war immer noch unklar. Doch sie hatte ja Susanna gefragt und nicht jemanden anderen. Und Susanna beantwortete Fragen oft mit Gegenfragen oder erzählte Geschichten, die am Ende die Lösung brachten. Und eigentlich liebe ich genau diese Geschichten, gestand sie sich ein. Merklich entspannter lehnte sie sich auf dem Sofa zurück und wartete auf die Fortsetzung.
Als hätte Susanna dies gespürt, fuhr sie nun fort: "Dann spielten Engel, egal welcher Art, keine Rolle mehr für mich. Abbildungen von Engeln oder Figuren fand ich nur kitschig. Mit der Religion meiner Eltern brach ich. Auch das Schutzengelbild meiner Kindheit verschwand - vermutlich bei einem meiner Umzüge. Ich studierte, ging meiner Arbeit nach, lebte mein Leben. Stark und eigenständig. Viele Jahre."
Susanna nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Glas. Dann schien sie erneut Schwung zu nehmen, ehe sie fortfuhr.
"Doch dann starb mein Vater. Wie du weißt, vor ziemlich genau zehn Jahren. Es hat mir sehr wehgetan, ihn zu verlieren und ich war sehr traurig. Aber damals geschah etwas Merkwürdiges."
Nach einer kurzen Pause redete Susanna weiter. Jetzt hatte sie Annas ganze Aufmerksamkeit.
"Eigentlich war es eine Anhäufung von Merkwürdigkeiten. Kurz vor seinem Tod, zu Weihnachten hatte ich meinem Vater unter anderem ein Bild geschenkt. Ich hatte beim Besuch eines Basars eine Seidenmalkarte entdeckt. Als ich sie sah, dachte ich: Die würde meinem Vater gefallen. Es gab sicher schönere Motive, wenn ich für mich eine Karte ausgesucht hätte. Aber für meinen Vater war es genau diese. Auf der Karte war ein Engel.
Ich hätte die Karte einfach beschreiben können. Stattdessen schrieb ich unter die Karte: Jeder Mensch braucht einen Engel! Dann rahmte ich sie. Mein Vater freute sich tatsächlich über dieses Bild, seinen Engel. Vielleicht hat er ihm den Übergang in die Totenwelt leichter gemacht, den er wenige Tage später - scheinbar unverhofft - antrat."
Anna spürte, genauso wie Susanna, einen Kloß im Hals. Susanna räusperte sich und fuhr dann fort: "Doch als ich nach Weihnachten in den Urlaub fuhr, wusste ich noch nicht, was kommen würde. Eines Nachmittags bekam ich Lust zu Malen. Ich setzte mich mit Buntstiften und Papier an einen Tisch, lauschte der Musik, die zwei Frauen machten und malte einen Engel. Einen sehr menschlichen Engel, der mit beiden Beinen und nackten Füßen auf dem Boden stand und Jeans trug. Trotzdem einen Engel, einen lächelnden Engel, einen männlichen Engel mit Flügeln. Weil neben dem Engel so viel freier Platz war, malte ich dorthin einen Weihnachtsbaum. Beim Malen dachte ich: Wenn mein Vater wüsste, dass ich mal wieder male, würde er sich bestimmt freuen ... Zwei Stunden später erfuhr ich beim Abendessen, dass mein Vater zu genau dieser Zeit gestorben war. Zufall? Ich glaube nicht an Zufälle."
Nach einer kurzen Pause redete Susanna weiter.
"Bei seiner Beerdigung gab ich meinem Vater sein Bild, seinen Engel mit in sein Grab, mit auf den Weg.
Einige Monate später wurde ich krank. Ich, die ich außer einem Schnupfen fast nie an einer Krankheit gelitten hatte, wäre fast gestorben. Nur das Wissen um die Todesursache meines Vaters rettete mein Leben. Mit anderen Worten: Mein Leben verdankte ich nur dem Tod meines Vaters! Das löste damals in mir enorme Schuldgefühle aus.
Doch von dieser Zeit an, schien es in meinem Leben vor Engeln nur so zu wimmeln. Ich begegnete ihnen, wohin ich sah, bekam etliche von lieben Menschen geschenkt. Jeder Engel schien mir zu sagen: Du bist wichtig für mich! und alle erwärmten ein Stück mein Inneres. Sie halfen mir dabei nicht aufzugeben, neuen Lebenswillen zu entwickeln. Und Stück für Stück ging es wieder aufwärts. Trotzdem blieben die Schuldgefühle meinem Vater gegenüber und drückten mich nieder.
Aber dann passierten zwei Dinge.
Manchmal kommt es mir vor, als wenn das Leben aus diversen Puzzlestückchen besteht. Wenn wir es schaffen, sie an ihren richtigen Platz zu rücken, kommen wir mit unseren Erkenntnissen vorwärts. Ich bekam zwei entscheidende Teile von zwei unterschiedlichen Menschen.
Eines Tages lauschte ich dem Vortrag eines Mannes - später sagte ich zu ihm: Er habe sich in meine Seele geredet. Während seines Vortrags liefen mir plötzlich Tränen über mein Gesicht, und ich spürte mit großer Sicherheit: Mein Vater hat mich zu seinen Lebzeiten oft beschützt und sein größtes Geschenk an mich war sein Tod, der mir das Leben rettete. Zum ersten Mal konnte ich es als Geschenk begreifen und annehmen. Eine Riesenlast fiel von mir, und ich konnte die Liebe spüren, die mein Vater mir entgegenbrachte. Die Tränen spülten die Schuldgefühle hinweg und ich wurde ganz ruhig und glücklich.
Das nächste Puzzlestückchen erhielt ich im Gespräch mit einer Frau, die ich gerade erst kennen gelernt hatte. Wir redeten über unsere Erfahrungen mit dem Thema Tod. Ein Thema, das viele Menschen meiden, dabei ist es Teil unseres Lebens, oder sollte es sein. Mit dieser Frau konnte ich darüber reden, und es war gar nicht bedrückend, sondern ein sehr emotionales und stellenweise fröhliches Gespräch.
Wir beide waren der Meinung, die Menschen spüren zu können, die wir scheinbar verloren haben - und zwar solange, wie wir sie brauchen.
Dieses Gespräch brachte mir die Gewissheit: Mein Vater ist bei mir, immer wenn ich ihn brauche, er beschützte mich nicht nur zu seinen Lebzeiten, sondern noch heute."
"Dann ist ja er dein Schutzengel!"
"Ja, so sehe ich das inzwischen auch. Er ist mein Schutzengel, der liebste, den ich haben kann.
Ich glaube sogar daran, dass er mich abholen wird, wenn meine Zeit hier auf der Erde abläuft. Seitdem habe ich keine Angst mehr vor dem Tod, der auch mich eines Tages erwartet. Aber das ist eine andere Geschichte, Anna. Und es ist ganz schön spät geworden."
Plötzlich merkte auch Anna, dass sie müde war.
"Danke, dass du mir das erzählt hast."
"Hab ich gerne gemacht. Gute Nacht, und träum was Schönes!"



Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Naturgedichte «««
»»» Liebesgedichte «««
»»» HOME PAGE «««