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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Einstein
© Rüdiger Lehmann
Das Licht wurde von der Jalousie in Streifen geschnitten und tauchte mein Zimmer in ein eigenartiges Grau. Es war Montagmorgen.
Ich schwankte ins Bad und schaltete die Wandleuchte ein. Meine Augen hatten sich in Erwartung des unangenehmen Reizes rechtzeitig zu Sehschlitzen verengt. So kam es, dass ich noch immer nicht die seltsame Veränderung bemerkte.
Während des Zähneputzens trat die allmorgendliche Gewöhnung an die Lichtfülle ein. Vor dem Hintergrund des weißen Waschbeckens, über das ich mich beugte, sah ich im unscharfen Bereich der Augen, wie sich meine Hand mit dem grauen Stiel der Zahnbürste hin und her bewegte. Ich stutzte. Gestern Abend war dieselbe Zahnbürste noch rot gewesen. Erschrocken zog ich sie aus dem Mund. Aber es blieb bei dem überraschenden Ergebnis. Auch meine Hand sah ganz fahl aus. Ich riskierte einen Blick in den Spiegel und prallte
entsetzt zurück. Mich starrte ein farbloses Gesicht an, fast wie das eines Gespenstes. Ich konnte nicht begreifen, was geschehen war. Alle warmen Farbtöne schienen dem Licht abhanden gekommen zu sein.
Ich wohnte in Berlin, zweiter Hinterhof. Um den Himmel zu sehen, musste ich mich aus dem Fenster lehnen. Die Sonne sah man nur, wenn sie sich in einem der gegenüberliegenden Fenster spiegelte. Sie tat es auch jetzt; ebenfalls in diesem seltsamen Grau. Alles wirkte wie auf einer schwarzweißen Ansichtskarte. Ich schloss die Augen in der Hoffnung, dass der Spuk danach vorbei sein würde. Doch es änderte sich nichts. Ich hatte die Fähigkeit verloren, die Welt in Farben zu sehen.
Oder lag es gar nicht an mir, sondern an der Sonne? Hatte sich vielleicht die Zusammensetzung des ausgesandten Lichtes geändert? Ich sagte mir, dass das unmöglich sei, klammerte mich aber dennoch an diesen Hoffnungsschimmer. Das Radio würde die Antwort liefern. Doch welchen Sender ich auch einstellte, überall wurde mit an Hochverrat grenzender Gelassenheit beschwingte Morgenmusik gespielt, und ignorante Moderatoren verbreiteten künstlichen Frohsinn. Schließlich kamen die Nachrichten und dann der Wetterbericht.
Mit keiner Silbe wurde eine Strahlungsanomalie der Sonne erwähnt. Nun stand endgültig fest, dass nicht die Welt aus den Angeln geraten war, sondern mit mir selbst etwas nicht stimmte. Ich musste einen Fachmann konsultieren.
Auf dem Weg zum Augenarzt schaute ich kurz im Büro vorbei. Das Gesicht einer Chefin sah ohne das für mich nun kaum noch wahrnehmbare Make-up merkwürdig nackt und müde aus. Natürlich vermied ich es, ihr den wahren Grund meiner Abwesenheit zu nennen. Ich hätte nur Spott und Unglauben geerntet.
Wenig später betrat ich die Augenarztpraxis. Der Doktor konnte keine organische Ursache für meine Farbuntüchtigkeit feststellen. Ich war mir nicht sicher, ob er mir überhaupt glaubte. Jedenfalls überwies er mich an einen Spezialisten der Charité. Ich machte mich sofort auf den Weg.
Mein Ziel war ein altes Backsteingebäude. Neben der Eingangstür bezeichnete ein Schild das Gebäude viel sagend als Abteilung für Sondertherapien. Ich mochte hier richtig sein, aber welche anderen Fälle waren sonderbar genug, um ebenfalls an diesen Ort verwiesen zu werden?
Doktor Mücke war ein beleibter Mittdreißiger. Seine Miene verbarg er hinter einem Vollbart und einer Brille mit getönten Gläsern. So war es mir nicht möglich, in seinem Gesicht zu lesen, was er von mir hielt. Untersuchung folgte auf Untersuchung. Nach mehreren Stunden war ich endlich erlöst. Der Doktor räumte ein, dass die totale Farbenblindheit eine bekanntes, wenngleich seltenes, Phänomen sei. Nur käme sie normalerweise nicht über Nacht. Um aber Genaueres sagen zu können, müsse er die Untersuchungsergebnisse
abwarten - nicht vor einer Woche.
Da es erst früher Nachmittag war, ging ich wieder ins Büro, und fand tatsächlich die Konzentration, um einige Stunden zu arbeiten. Den Zahlen, die ich jonglierte, war es egal, ob ich sie farblich sah. Hätte ich jedoch gewusst, was mich noch erwartete, hätte ich diesen letzten fast normalen Tag lieber angenehmer verbracht.
In der nächsten Nacht wachte ich nämlich durch eigenartige Geräusche auf. Das erste Dämmerlicht füllte bereits das Zimmer, so glaubte ich. Doch als ich auf die Uhr sah, stellte ich fest, dass es erst kurz nach zwei war. Ich trat ans Fenster und blickte nach draußen. Auch dort herrschte das seltsame Zwielicht, ohne dass ich seine Herkunft ausmachen konnte. Ich hätte ein Buch lesen können, ohne eine Lampe zu benutzen.
Auch mein Gehör war extrem geschärft. Wegen der warmen Nacht standen die nach dem Innenhof gerichteten Fenster offen. Aus den Wohnungen drangen die verschiedensten Laute an meine empfindlichen Ohren. Ein Konzert aus Schnaufen, Schnarchen, Stöhnen, Röcheln, Flüstern, Husten, Knarren aus Pfeifen. Benommen schloss ich das Fenster. Das Geräusch, das ich dabei verursachte, erinnerte an das Poltern von Hallentoren. Ich warf mich aufs Bett, das unter meinem Gewicht ächzte. Weitere Eindrücke drängten sich mir auf. Der
Wecker klopfte wie eine Hammermühle, mein Atem rasselte in den Bronchien und das Herz pochte dumpfes Stakkato. Dazu in den Ohren ein ständiges Rauschen, das vom Fließen des Blutes herrühren musste. Ich wollte nicht wahnsinnig werden. Nein, nein, nein!
Ich war fast wieder eingeschlafen, als eigenartige Klänge den Raum erfüllten. Eine Mischung aus Sitarspiel und Vogelgezwitscher. Ich schlug die Augen auf und wusste nicht, ob ich doch nur träumte. Die Musik wirkte beruhigend auf mich. Eigentlich hätte ich zu Tode erschrocken sein müssen bei dem, was ich erblickte. Mein Zimmer machte noch immer den Eindruck einer vergilbten Schwarzweiß-Fotografie, aber am Fußende meines Bettes stand eine farbige Gestalt mit Zipfelmütze, grinsendem Gesicht, rundem Leib und kurzen
Gliedmaßen. Mir kam nur eine Bezeichnung in den Sinn: ein Hampelmann.
Die Musik wurde leiser, dann begann mein Besucher zu sprechen: "Sei gegrüßt Albert."
War ich bisher wie gelähmt, überkam mich nun der Schrecken in Gänze. Ich zog mich in den letzten Winkel meines Bettes zurück und verschanzte mich hinter der Decke. Mein Gehirn arbeitete fieberhaft. War das Traum oder Wirklichkeit? War es ein Traum, konnte es nur ein Alptraum sein. Aus einem solchen war es mir bisher stets gelungen aufzuwachen, wenn ich mich fest darauf konzentrierte. Ich probierte es - ohne Erfolg. Auch die Tatsache, dass sich an der Verschärfung meiner Sinne nichts geändert hatte, sprach für
meinen Wachzustand. Und wenn die Sensibilisierung ebenfalls Bestandteil des Traumes war? Aber warum gelang es mir dann nicht aufzuwachen? So lange hatte noch nie ein Traum gedauert!
Die beruhigende Musik war wieder lauter geworden. Der Hampelmann, der sich seit seinem Auftauchen nicht gerührt hatte, sprach erneut: "Du brauchst keine Angst haben, Albert!"
Albert? Ich hieß nicht Albert! Albert klang fast wie albern, schoss es mir durch den Kopf. Und albern oder absurd kam mir die Situation vor, in der ich mich befand. Hatte ich jemals während eines Traums den Eindruck gehabt, dass ich absurde Dinge träumte? Nein! Also war ich wach. Allerdings konnten auch diese Gedankengänge wiederum nur geträumt sein. Ich gab es auf - meine Gedanken rannten im Kreise. Ich hoffte, die Ereignisse würden sich von selbst erklären.
Der Hampelmann bewegte sich vorsichtig, wie um mir zu demonstrieren, dass er keine bösen Absichten hegte. Dabei erklärte er: "Ich werde die Musik jetzt herunterregeln, sonst beeinflusse ich dich zu sehr."
Je leiser die Klänge wurden, desto stärker stieg Beklemmung wieder in mir auf. Aber sie war nun schon mit Neugier durchsetzt. Ich getraute mich sogar zu fragen, mit wem ich es zu tun hätte. Schließlich war es das Mindeste, dass man sich vorstellte, wenn man unangemeldet eine fremde Wohnung betrat. Das sprach ich jedoch nicht aus; auf keinen Fall provozieren!
"Mein Name ist Kripp. Ich bin ein Psyk und komme vom Tzixt, einem Planeten der Sonne, die ihr Deneb nennt."
Von diesem Stern hatte ich noch nie gehört. Aber egal, wenn es real war, was ich gerade erlebte, war ich der erste Mensch, der in Kontakt mit einer fremden Intelligenz stand. Eine Portion Misstrauen bewahrte ich jedoch, allein wenn ich an den komischen Aufzug des Außerirdischen dachte.
"Ich kann mir nur schwer vorstellen, warum ein Besucher von einem anderen Stern ausgerechnet als Hampelmann auftreten sollte."
"Was ist ein Hampelmann?"
"Du siehst aus wie einer; betrachte dich im Spiegel!"
"Oh, das ist nicht meine wirkliche Gestalt. Du musst wissen, dass ich nicht körperlich auf eurem Planeten weile. Lediglich die Kopie meines Ichs wurde zur Erde geschickt. Es ist nur meine Seele, die diesem Körper Leben einhaucht."
"Warum aber solch einer Witzfigur. Das gibt doch deiner Mission einen lächerlichen Anstrich."
"Das lässt sich leicht erklären: Der natürliche Körper eines Psyk ist dem eines irdischen Insekts nicht unähnlich. Sollte ich riskieren, als lästiger Störenfried totgeschlagen zu werden? Und in die Hülle eines Menschen zu schlüpfen, schien ebenso unratsam. Du hättest mich womöglich für einen Einbrecher gehalten, der sich für den Fall seiner Entdeckung eine phantastische Geschichte zurechtgelegt hatte. Ich brauchte also einen Körper, der zwar eigenartig, aber nicht abschreckend wirkt."
Jede Frage, die Kripp beantwortete, warf sofort zwei neue auf. So wollte ich von ihm wissen, was eigentlich der Grund seines Besuches sei und warum er gerade bei mir erschienen war. Die erste Antwort hörte sich nicht besonders aufregend an: Man beobachte unseren Planeten schon seit langem. Jetzt halte man die Zeit für gekommen, mit uns Kontakt aufzunehmen. Unsere Wissenschaft habe nun einen Stand erreicht, der es erlaube, uns mit der Existenz der Psyk zu konfrontieren.
Dann die Antwort auf die zweite Frage. Sie verschlug mir die Sprache: "Wir haben lange nach einer geeigneten Person für den ersten Kontakt gesucht. Auf keinen Fall wollten wir den gleichen Fehler begehen wie vor dreiundneunzig Perioden, als unser Gesandter für den Sohn eines Gottes gehalten wurde. Schließlich haben wir dich ausgewählt, weil du durch deine Arbeiten zur Quantentheorie genug abstraktes Denkvermögen bewiesen hast, um und zu verstehen."
Meine Arbeiten zur Quantentheorie! Ich musste lachen. War ich verrückt?
"Warum lachst du, habe ich mich falsch ausgedrückt?"
"Ich glaube, du bist einem Irrtum aufgesessen."
"Der Große Koordinator irrt nie."
"So? Ja für wen hältst du mich denn?"
"Es ist nicht die Frage, für wen ich dich halte. Ich weiß, dass du Albert Einstein bist."
"Waaas, der Physiker Einstein?", fragte ich fassungslos.
"Genau der!"
Er oder ich, einer von uns beiden war verrückt.
Ich machte einen langen Hals, um vom Bett aus in den Spiegel zu blicken. Nein, das war nicht das Konterfei des großen Wissenschaftlers, das ich dort sah. Obwohl - ich kannte ja nur ein Bild des alten Einstein mit weißem, widerspenstigen Haar. Trotzdem, auch der junge musste anders ausgeschaut haben.
Der Blick in den Spiegel hatte mir die Veränderung meiner Sinne ins Gedächtnis zurückgerufen. Sie musste im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Besucher stehen. Ich fragte ihn, was das zu bedeuten habe.
"Wir mussten dein Gehirn etwas manipulieren, damit du mich überhaupt wahrnehmen kannst. Normalerweise wäre ich für dein Auge unsichtbar. Darum haben wir deine Sehkraft erhöht. Das ging nur zu Lasten der Farbempfindlichkeit. Ähnliches geschah mit deinem Gehör. Wir mussten seine Leistung steigern, weil wir nicht über einen Akuster verfügen, der stark genug wäre, um uns in eurer Sprache verständlich zu machen."
"Wie aber habt ihr die Manipulation vorgenommen, ohne dass ich sie bemerkte?"
"Es war kein physischer Eingriff, wie du denken magst. Nein, wir haben ein spezielles Virus gezüchtet, das wir dir auf dem Luftwege verabreicht haben. Doch keine Angst, ich habe auch das Gegenmittel dabei. Nach meinem Besuch wird es deinen genetischen Code wieder in Ordnung bringen."
Das klang alles sehr phantastisch. Konnte sich eine Intelligenz, die über derartige Möglichkeiten verfügte, in der Behauptung irren, dass ich Einstein sei? War ich infolge der Genmanipulation in einer Identitätskrise?
Laut aber sagte ich: "Ich bin nicht Albert Einstein!"
"Natürlich bist du Einstein."
"Ich bin es nicht."
"Du bist es doch." Hampelmann stampfte mit dem rechten Fuß auf.
"Nein, bin ich nicht! Wie erklärst du dir zum Beispiel, dass an meiner Wohnungstür ein anderer Name steht?"
"Ich bin nicht durch die Tür gekommen. Außerdem kann ich eure Schrift ohne Skriptor nicht lesen."
"Wie konntest du mich dann finden?"
"Der Materialisator hat mich entsprechend der Vier-D-Vorgabe direkt in deiner Wohnung aufgebaut. Ich brauchte also gar nicht suchen."
"Wie soll das nun wieder funktionieren?"
"Um das zu verstehen, fehlen eurer Gattung noch ein paar Jahrhunderte an Erfahrung", sagte Kripp von oben herab.
"Ach, so ist das! Was glaubst du denn, in welcher Zeit du dich im Augenblick befindest?"
"Ich glaube nicht, ich weiß, dass ich in euer Jahr 1905 geschickt worden bin."
"Ha - total falsch; wir sind im Jahr 2005. Ich weiß nicht genau, wie lange Einstein schon tot ist, vierzig Jahre aber mindestens!"
"Warum versuchst du, mich zum Narren zu halten?"
"Wer hält denn hier wen zum Narren? Warte, ich hole die gestrige Zeitung. Dann wirst du sehen, dass ich die Wahrheit sage."
"Ich habe dir schon gesagt, dass ich ohne Skriptor eure Schrift nicht lesen kann."
"Dann hättest du doch deinen verdammten Skriptor mitgebracht!"
"Konnte ich den wissen, dass ich hier auf einen halsstarrigen Menschen treffe, der abstreitet, Albert Einstein zu sein?"
"Ich kann dir verschiedene technische Geräte zeigen, die es auf keinen Fall schon zu Einsteins Zeiten gegeben hat: ein Fernsehgerät oder eine elektrische Waschmaschine ... "
"Das ist doch vollkommen nutzlos. Die Wissenschaft geht in verschiedenen Welten verschiedene Wege. Entdeckungen und Erfindungen werden nach Notwendigkeit gemacht und nicht nach einem festen Zeitplan. Ich betone noch einmal, der Große Koordinator irrt nie. Warum also versucht du dich gegen seine Allmacht zu stemmen!"
Ich gab auf. Es hatte keinen Zweck, mit diesem verbohrten Psyk zu streiten.
"Gut, ich bin Albert Einstein. Was willst du also von mir?"
"Aha, du bist zur Vernunft gekommen."
"Nein, ich beuge mich der Allmacht des Großen Koordinators."
"Das wird auch höchste Zeit. Ich wenigen Schwingungen schon wird man mich zur Basis zurückholen ..."
"Dann beeile dich; was willst du?" Ich hatte den Respekt vor Kripp verloren. Nun glaubte ich wieder fest daran, dass mein Abenteuer im Traum stattfand.
"Also, ich hatte schon gesagt, dass wir dich als Kontaktperson ausgewählt haben. Du sollst helfen, den Weg für ein offizielles Treffen unserer beiden Zivilisationen zu bereiten. Es steht dir natürlich frei abzulehnen. Aber bedenke, welch universelles Ereignis du damit verhindern würdest!"
Ich nickte nur kurz. Daraufhin fuhr er fort: "Du, als Gelehrter, wirst am besten wissen, an wen du dich wenden kannst. Vor allem eure Koordinatoren müssen auf die Ankunft unserer Delegation vorbereitet werden."
"Und wann soll das sein?"
"Das wird davon abhängen, wie schnell es dir gelingt, den Boden für das Ereignis zu bereiten. Wir hoffen aber, dass es innerhalb der nächsten zwei Perioden zu einem Treffen kommt."
Leider unterließ ich es zu fragen, was unter einer Periode zu verstehen sei. Aus heutiger Sicht eine dumme Unterlassung, aber bei meiner damaligen Ungläubigkeit kam es mir nicht wichtig vor. Stattdessen fragte ich: "Und warum dieses umständliche Verfahren? Warum kommt ihr nicht einfach und stellt uns vor vollendete Tatsachen?"
"Weil ein Missverständnis die schlimmsten Folgen haben könnte. Denke nur daran, was ich dir über unser Aussehen erzählt habe. Außerdem seid ihr noch immer in der aggressiven Phase eurer Entwicklung. Bedenke, mit welch abwehrender Haltung sogar du mir begegnet bist!"
"Das ist es ja gerade! Wer wird mir denn glauben, wenn ich erzähle, dass mir in der Nacht ein Hampelmann erschienen ist, der behauptet hat, er sei von einem fremden Stern? Auslachen wird man mich!"
"Das wird man nicht." Mit diesen Worten zauberte er ein Briefkuvert hervor. "Hier sind Unterlagen, die beweisen werden ..."
Unvermittelt brach er ab und fiel in eine eigenartige Starre. Ich wog das Kuvert abschätzend in der Hand. Nach irdischen Maßstäben mochte es vielleicht zwanzig Blatt Papier enthalten. Äußerlich wies nichts auf den außerirdischen Ursprung hin.
Dann setzte der Hampelmann seinen Satz genau dort fort, wo er ihn vor Sekunden unterbrochen hatte: "... dass du die Wahrheit sprichst. Außerdem bedeuten diese Aufzeichnungen einen großen Wissenszuwachs für die Menschheit. Er wird euch helfen, den universellen Zusammenhang der bevorstehenden Ereignisse besser zu verstehen. Leider bleibt mir keine Zeit für weitere Erläuterungen. Mir wurde soeben der baldige Beginn meiner Rückholung angekündigt. Nimm dieses Flakon. Mit seiner Hilfe werden sich dein Gehör und
Sehvermögen wieder normalisieren. Einfach an die Nase halten und dreimal tief einatmen."
Er überreichte mir ein durchsichtiges Fläschchen, das mit einem Stopfen verschlossen war. Ich konnte nicht die Spur einer Substanz darin entdecken.
"Da ist ja gar nichts drin!"
"Doch, doch, oder glaubst du, Viren könne man mit bloßem Auge sehen?"
Die Stimme meines Besuchers wurde immer kraftloser. Seinen letzten Satz konnte ich kaum noch verstehen:
"Albert, ich muss scheiden. Wir rechnen auf deine Hilfe. Lebe wohl und viel Erfolg!"
Damit begannen sich die Konturen des Psyk aufzulösen. Nach wenigen Sekunden war er vollends verschwunden. Kripp vom Tzixt. Am liebsten hätte ich laut gelacht. Rechtzeitig fiel mir ein, dass dies auch Wahnsinnige tun.
Noch immer hielt ich das Fläschchen in der Hand. Ich zögerte, bevor ich es öffnete; käme diese Handlung ja dem Eingeständnis gleich, dass ich an die Realität des Erlebten glaubte. Wenn es jedoch ein Traum war, musste ich mich nach dem Aufwachen nicht für meine Handlung schämen. Also: Stopfen raus und dreimal eingeatmet. Ich hatte keinerlei Empfindung dabei. Wie riechen Viren?
Kaum hatte ich das Flakon zur Seite gelegt, wurde ich unsagbar müde. Augenblicklich schlief ich ein. Zumindest träumte ich, es zu tun.
Als ich aufwachte, war es heller Tag. Die Geschehnisse der Nacht waren sofort gegenwärtig. Ich sprang auf und starrte aus dem Fenster. Ich sah, wie sich das vertraute Gold des Sonnenscheins in den gegenüberliegenden Fenstern spiegelte. Mich umgab auch wieder die gewohnte Hinterhausruhe. Dann fiel mein Blick auf die Kommode. Dort lag ein braunes Kuvert und daneben stand das leere Flakon.
Aber trotzdem war ich nicht Einstein! Ich brauchte Rat.
An wen sollte ich mich wenden? Selbst meinen besten Freunden wollte ich die Geschichte nicht zumuten. Blieb Doktor Mücke. Bei ihm sah ich eine kleine Chance, ernst genommen zu werden. Ich machte mich auf den Weg in die Charité.
Der Doktor begrüßte mich etwas ungehalten:
"Ich hatte Ihnen doch gesagt, es würde seine Zeit dauern, bis ich Ihre Untersuchung ausgewertet hätte!"
"Deswegen bin ich auch nicht hier. Das heißt, indirekt schon. Aber ..."
Ich suchte fieberhaft nach Worten. Ich hatte Angst, der Doktor könnte mich für geistesgestört halten, wenn ich die falschen gebrauchte.
"Seit heute Morgen kann ich wieder normal sehen. Doch der Umstand, durch den es dazu kam, ist noch eigenartiger als meine vorübergehende Farbenblindheit an sich."
"Na, dann schießen Sie mal los!"
Er lehnte sich im Sessel zurück, und ich erzählte stockend meine Geschichte. Ich schilderte jede Einzelheit, auch meine Identitätskrise verschwieg ich nicht. Als ich fertig war, fühlte ich mich erleichtert. Der Doktor äußerte sich zunächst nicht. Er schien ein wenig zu lächeln, soweit das durch seinen Bart zu erkennen war. Dann sagte er: "Sie muten mir da ziemlich viel zu."
"Nicht mehr, als mir zugemutet wurde."
"Falls es stimmt, was Sie erzählen."
"Warum sollte ich Sie belügen?"
"Ich will Sie nicht der Lüge bezichtigen. Aber - was halten Sie von Halluzinationen?"
"Und das Kuvert? Und das Flakon?"
"Bis jetzt nichts weiter als Gegenstände, die genau so irdischen Ursprungs sein könnten. Aber gut, ich werde ihre Untersuchung veranlassen. Warum haben Sie das Kuvert nicht geöffnet?"
"Weil ich dem Inhalt keinen Schaden zufügen wollte, bevor er sich in Expertenhand befände."
"Ich werde trotzdem nachsehen, was der Umschlag enthält."
Zum Vorschein kamen mehrere Blätter, die über und über mit Text, Zahlen und Formeln beschrieben waren. Ich konnte mit ihnen nichts anfangen. Dem Doktor schien es ebenso zu gehen. Er studierte kopfschüttelnd die erste Seite; dann stopfte er die Aufzeichnungen ins Kuvert zurück.
"Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie für einige Tage zur Beobachtung hier behalte?"
"Zur Beobachtung? Sie denken doch nicht etwa, ich bin ein Fall für den Psychiater!"
"Für diese Diagnose ist es noch zu früh", antwortete er ausweichend. "Momentan möchte ich Sie lediglich unter Kontrolle haben, wenn Sie Ihre Erlebnisse niederschreiben. Um diesen Gefallen möchte ich Sie bitten."
Ich wollte unbedingt Klarheit über das Erlebte haben. Darum willigte ich ein.
"Sie bekommen natürlich ein Einzelzimmer."
Mir drängte sich der Eindruck auf, er meinte Einzelzelle.
"Und ich möchte Sie bitten, dieses Medikament einzunehmen."
Er schob mir ein Porzellanschälchen mit zwei grünen Pillen über den Tisch.
"Wozu denn Tabletten?"
"Sie wollen doch, dass ich Ihnen helfe?"
"Ja, aber ..."
"Dann machen Sie bitte, was ich sage. Es ist ein harmloses Mittel."
Ich nahm die Pillen und wollte sie in die Tasche stecken.
"Nein, bitte schlucken Sie sie in meiner Gegenwart."
Ich zögerte, aber dann tat ich ihm den Gefallen. Was würde der Doktor mir schon Schlimmes wollen?
Eine hübsche Schwester brachte mich auf mein Zimmer. Sie war sehr nett zu mir. Das beruhigte mich weiter. Und überhaupt, ich fühlte mich von Minute zu Minute besser. Warum nur hatte ich Bedenken gehabt? Beschwingt machte ich mich daran, meine Erlebnisse aufzuschreiben.
Ich bin nun schon den vierten Tag hier. Mir geht es blendend. Das Essen ist gut. Nach jeder Mahlzeit bekomme ich wieder zwei grüne Kügelchen. Vormittags schreibe ich. Das ist gar nicht so einfach; schließlich will ich kein Detail vergessen.
Immer nachmittags gehe ich in den Aufenthaltsraum, wo ich die anderen treffe. Die sind zwar alle ein bisschen merkwürdig (Sie verstehen, was ich meine?), aber im Grunde genommen liebenswert.
Der General zum Beispiel: Er geht ständig auf und ab und brüllt Heil Hitler. Oder Erwin: Er sitzt in einem Drehstuhl, schiebt sich mit den Beinen von der Wand ab und ist bei jeder Umdrehung der Meinung, dass Nina Hagen die Größte sei. Meistens kommt dann der Professor an meinen Tisch. Er trägt ein Halmabrett vor sich her und fragt mich mit frohen Kinderaugen, was ich von einem Spielchen halte.
Gestern rief mich der Doktor zu sich. Er teilte mir mit, dass es sich bei den Aufzeichnungen aus dem Kuvert um eine Widergabe der Speziellen Relativitätstheorie handle, und zwar exakt in der von Einstein im Jahre 1905 veröffentlichten Fassung. Ist das nicht großartig!
An dem Flakon habe man keinerlei Besonderheiten feststellen können. Da habe ich gelacht. Der Doktor auch. Prima Kerl, der Doktor.
In der Nacht habe ich dann gegrübelt. Mir kam ein grandioser Gedanke. Es war wie der Schlüssel zu meinem Erlebnis.
Ich bin jetzt fast sicher, dass das des Rätsels Lösung ist: Nachdem Kripp wieder nach Tzixt zurückgekehrt war, mussten die Psyk wohl ihren Irrtum, nämlich mich für Einstein zu halten, bemerkt haben. Falls sie sich überhaupt die Mühe machten, sich wegen dieser Panne bei mir zu entschuldigen, trafen sie mich natürlich nicht an, denn ich befand mich ja mittlerweile in der Obhut von Doktor Mücke. Letztendlich würden die Psyk sich ausrechnen können, dass ich mit den Unterlagen im Jahre 2005 keinen Schaden anrichten
kann und unterließen Nachforschungen nach meinem Verbleib.
Sie schickten Kripp erneut los, diesmal ins richtige Jahr. Dort übergab er dem echten Einstein die Relativitätstheorie mit dem Auftrag, ein Treffen der beiden Zivilisationen vorzubereiten. Was aber machte der große Gelehrte? Anstatt die ihm übertragene Mission zu erfüllen, verleitete ihn der Ehrgeiz, sich mit fremden Federn zu schmücken. Er veröffentlichte die bahnbrechende Theorie unter seinem Namen, ohne ihre eigentliche Herkunft zu erwähnen. Er handelte damit nicht nur egoistisch, sondern gefährdete in verantwortungsloser
Weise die Kontaktaufnahme mit einer anderen Zivilisation.
Waren die Psyk inzwischen doch auf der Erde gewesen und sind, weil sie die Menschheit nicht vorbereitet fanden, unverrichteter Dinge wieder abgezogen?
Was ist mit dem Tunguska-Meteor, der auf unseren Planeten niederging, und was mit den riesigen Heuschreckenschwärmen, die jedes Jahr die Erde heimsuchen?
Ist Einstein schuld?
Urteilen Sie selbst!
Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.