Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Schweigen

© Diana Lühmann


Erich saß noch genauso da wie sie ihn verlassen hatte. Seine Hände ruhten auf dem Lenkrad, sein Blick war geradeaus gerichtet. Katharina blieb im Eingang des Krankenhauses stehen und schaute auf die Uhr. Zwei Stunden. Vor zwei Stunden hatte sie die Beifahrertür hinter sich zuschnappen hören und war die Treppe hinaufgestiegen. 25 Stufen. Addiert mit den 25 Schritten zum Wartezimmer eine perfekte Zahl. Sie ergab, erst durch zwei, dann durch fünf geteilt, wieder fünf. Oder man teilte sie erst durch fünf und dann durch zwei. Und doch hatte diese Zahl es nicht verhindern können.
Katharina ging zum Wagen, öffnete die Tür und ließ sich auf den Sitz gleiten. "Und?", fragte er. Sie zog die Tür ins Schloss. "Operation." Katharina schaute ihn an und suchte in seinem Gesicht etwas, an das sie sich kaum noch erinnerte, nach den Jahren ihrer Ehe. Er drehte den Zündschlüssel um und legte den Rückwärtsgang ein.
Sie fuhren die Landstraße entlang und Katharina zählte nicht. Keine Autos, keine Häuser, keine Bäume, keine Mittelstreifen. Sie addierte nicht und sie teilte nicht. Und als Erich das Radio anstellte, korrigierte sie auch nicht die Zahl auf dem Lautstärkeregler, um sie in ihre Welt zu holen. Eine Welt aus Zweien und Fünfen, die sich langsam in ihren Kopf geschlichen hatte, irgendwann. Erichs Schweigen war lauter als die Musik und Katharina fühlte sich wie an dem Abend, an dem ihre Mutter auf den Heuboden gegangen war. Ihr Vater hatte das Seil durchgeschnitten und sie liegen lassen, bis die Männer mit dem Sarg kamen. Er war die Leiter hinabgestiegen und Katharina hatte, versteckt zwischen Heuballen, das Quietschen der Scheunentür abgewartet.
Nach dem Aufschrei der Katze aus der Milchküche, nach der ihr Vater trat, wenn sie nicht schnell genug zwischen den Kannen verschwand, war sie hinüber gegangen zu diesem Körper, der anders war, blass und mit einem roten Strich am Hals. Über dem Kragen der Bluse hatte die Kette mit dem Kreuz gelegen.
Erich ließ Katharina vor der Garage aussteigen. Sie wartete nicht auf ihn, schloss das Haus auf, wusch sich auf der Gästetoilette die Hände, ging in die Küche und stellte den Wasserkocher an. Sie hörte, wie die Haustür zufiel und Erich im Wohnzimmer den Fernseher einschaltete. Sie nahm eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und brachte sie ihm. "Abendbrot in einer halben Stunde?", fragte sie. Er nahm einen Schluck aus der Flasche.
Katharina blieb kurz neben ihm stehen und streckte ihre Hand aus. Doch bevor sie ihn am Arm berührte, hielt sie inne, drehte sich um und ging zurück in die Küche.
Katharina beobachtete, wie die beiden Teebeutel das Wasser in der Kanne färbten. Ihre Mutter hatte sich jeden Abend Melissentee gebrüht. Am Fenster stehend hatte sie eine Tasse getrunken, in winzigen Schlücken, bevor sie den Tisch deckte und die Familie zum Essen rief. Das Telefon klingelte und Katharina eilte in den Flur. "Was sagt der Arzt?", fragte Erichs Mutter.
"Sie müssen die Eileiter entfernen."
Erichs Mutter schwieg. Dann sagte sie: "Erzähl es niemandem im Dorf, verstanden?"
Katharina hörte, wie sie auflegte, und ließ den Hörer auf die Gabel sinken. Sie ging zum Wohnzimmer und lehnte sich an den Türrahmen. "Wieso hast du deiner Mutter von dem Termin erzählt?" Erich zielte mit der Fernbedienung auf den Fernseher und schaltete ihn lauter.
In der Küche goss Katharina sich eine Tasse Tee ein und stellte sich ans Fenster. Mit der freien Hand tastete sie ihren Unterleib entlang, über die Stelle, die seit Monaten wehtat und Erich dennoch nicht fernhielt.
"Sterilisieren", hatte sie sich heute Morgen wiederholen hören. Der Arzt hatte genickt. Katharina nippte am Tee und suchte den Himmel ab. Keine einzige Wolke war zu sehen. Der Himmel war leer. Null. Nicht teilbar.
Katharina stellte die Tasse in die Spüle. Sie ging in den Keller und zur Hintertür hinaus auf den Hof. Erich würde sie erst in 20 Minuten vermissen, wenn sie ihn nicht zum Abendbrot rief. 20 ergab, erst durch zwei, dann durch fünf geteilt, wieder zwei. Oder man teilte sie erst durch fünf und dann durch zwei. Katharina tastete an ihrem Kragen nach ihrer Kette. Das Kreuz drückte sich in ihre Fingerkuppen und sie ging auf den Geräteschuppen zu.



Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Naturgedichte «««
»»» Liebesgedichte «««
»»» HOME PAGE «««