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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
D.
© Susanne Stich
Im Rückspiegel zeichnete sich der Hund deutlich vom Rücksitz ab, als Georg in der Abenddämmerung in Richtung Stadt aufbrach. Er war den Tag über durch die Berge gefahren und hatte irgendwann das Gefühl gehabt, etwas schreiben zu müssen. Das war ihm am Schreibtisch dann unmöglich erschienen und am Ende hatte nur zerknülltes Papier herumgelegen. Er hatte sich wieder ins Auto gesetzt, dort lange Zeit gesessen, und jetzt, während er fuhr, erschrak er jedes Mal über die in der Dämmerung unscharfen, vereinzelten Gestalten
am Straßenrand. Hinter ihm näherte sich jemand mit hoher Geschwindigkeit. Georg verlangsamte und wechselte auf den Seitenstreifen der Fahrbahn, bis ihn der schnelle Wagen überholt hatte. In Gedanken hätte er am liebsten wieder zu Hause vor dem Feuer gelegen, wie letzte Nacht, neben D., D. auf seinem roten Läufer. Und vielleicht hätte irgendwann das Telefon geklingelt und sie beide aufgeschreckt. Georg fuhr langsamer als sonst und parkte schließlich vor dem Einkaufszentrum in einem der Vororte. Als er bremste,
tat es auf dem Rücksitz einen leisen Ruck. Hinten war inzwischen alles dunkler. Er schaltete die Scheinwerfer aus und stieg aus dem Wagen.
Doch, natürlich hatte er auch diesmal die Silhouette gesehen, aber nun stand er in der kühlen Luft. Die Wagentür hatte geknallt. Über ihm flogen Krähen, und wie sie sich am vom Wind dramatisch aufgeblähten Himmel entfernten, sah es aus, als würden sie von den Wolken verschluckt werden.
Im grell beleuchteten Supermarkt nahmen sich die paar Sachen, die er brauchte, in dem Einkaufswagen winzig und unbedeutend aus. Plötzlich entschied er sich, den Wagen in einem der vielen Gänge stehenzulassen, drehte sich dann noch mal um und nahm den kleinen Knochen, der nicht mal verpackt war, heraus, bezahlte und ging zurück zum Wagen, fuhr geradewegs zu Marga. Es war die wöchentliche Einladung und heute kam sie ihm wirklich gelegen.
Marga hatte Wein gekauft und ihren Videorecorder reparieren lassen. Sie saßen eine Weile beisammen, sahen fern, einen Film, von dem er ihr in den Ohren gelegen hatte, und schließlich fing sie wieder einmal vom Zusammenwohnen an. Auch davon, dass sie den Wohnwagen am See kaufen wollte, sprach sie, und betonte mehrere Male, dass sie es nun tatsächlich tun würde. Dabei wusste er die ganze Zeit, dass sie es bloß sagte. Er wusste es einfach und er erinnerte sich, wie ihm am Nachmittag in den Bergen gekommen war, dass
Marga nie von der Landschaft da oben sprach. Ebenso wenig kannte sie den Streifen Strand, an dem er und D. gewöhnlich entlanggingen. Schließlich erzählte sie von der Reparatur des Videorecorders, gerade in dem Moment, als er glaubte, vor ihr auseinanderzubrechen, weil ihm wieder übel wurde, und er nicht erzählen, sondern nur zum Auto wollte. Er ließ sie, ohne viele Worte zu verlieren, allein. Sie nahm alles als eine seiner Launen hin und hielt ihn nicht auf.
Marga und er hatten doch nicht einmal eine gemeinsame Geschichte. Und selbst, hätte sie diesen Wohnwagen gekauft. Sie war in so vieler Hinsicht immer noch bloß eine Bekannte. Und wenn es noch so warm war vor ihrem "Kamin", einem Gaskamin, den er doch eigentlich gar nicht als echten Kamin akzeptieren wollte. Georg stand in der Kälte, ans Auto gelehnt. Als er völlig durchgefroren war, rang er sich durch, den kleinen Knochen aus dem Handschuhfach zu nehmen. Er kletterte auf den Rücksitz und hatte die Hand
lange im Fell des Hundes liegen. Sie war eiskalt. Irgendwann steckte er vorsichtig dem Tier den Knochen ins Maul.
Alles war ein wild zusammengesuchtes Sammelsurium, und er hatte wirklich meist die dümmste Wahl getroffen. Und Marga, Marga gehörte auf seltsame Weise zu den letzten paar Jahren. Sie war diejenige, der man, wenn sie gemeinsam zum Tennisplatz gingen, die Schlüssel zum Platz reichte, und er ging neben ihr her. Sie erzählte dem Platzverwalter gewöhnlich flüchtig von ihrer Arbeit im Labor und wie sie so ging, genauso alt wie er, Georg, kam ihm ihre Zierlichkeit grotesk vor, zumal da sie sich ihr Leben so eingerichtet
hatte wie es war. Eine wilde Zeit hatte sie angeblich gehabt, als sie früher, vor vielen Jahren, nackt am Strand von Queensland lag, auf der ersten großen Reise. Das war vor zwanzig Jahren, und wenn er sie fragte, wann sich alles geändert hatte, runzelte sie die Stirn. Sie mochte außerdem weder seinen wild bewachsenen Garten noch die paar kleinen Kammern, die er nicht extra aufräumte und putzte. Und weil sie jetzt diesen Wohnwagen kaufen wollte, wurde alles plötzlich ganz greifbar bizarr, ganz so, wie er im Grunde
immer gewusst hatte, dass es werden würde. Die Vorstellung, mit ihr dort auf diesem Stück Strand zu sitzen, erschien Georg albern und im Grunde überhaupt nicht möglich. Marga hatte nie die Art rosiger Wangen gehabt, wenn sie mit ihm in Wind und Sonne war, diese Art rosiger Wangen, die er ganz früher umschwärmt hatte. Bei Marga schauderte ihn stattdessen davor, dass sie am Strand womöglich keine Hände mehr frei hätte vor lauter Grillbesteck und Tennisschlägern.
Und hier lag D., D. mit so vielen Jahren hinter sich. Georg sah das Licht oben in Margas Wohnzimmer. Sie kannte auch nicht die Straße im anderen Stadtteil, die er mit D. täglich mehrere Male auf und ab spaziert war, vor Jahren, und, wo der sich vor Knochen kaum hatte retten können. Alle, die die beiden gekannt hatten, schienen etwas für den Hund bereitzuhalten und, ganz sicher, sie waren damals die Berühmtheiten der Straße, ein verrücktes Paar. In einem Korb hatte er die Knochen für D. nach Hause getragen und
sie dem Hund dann Stück für Stück verabreicht, während er selbst sich am Schreibtisch Rezensionen ausgedacht, gelegentlich vor Aufregung über einen Einfall die Fenster aufgerissen hatte. Und damals lag D. schon auf dem roten Läufer, sah natürlich zu, sah überhaupt immer zu. Der Knochen im Maul des Tieres knackte unter den Zähnen, als Georg ihn zu bewegen suchte.
Das Mädchen damals: Wie es, kaum eingestiegen, nicht mehr abgelassen hatte von D. Jenes rotwangige Mädchen, das er vielleicht nicht mehr hätte aussteigen lassen sollen. Sie war damals sogar momentelang in seinen Armen gelegen, am Ende, als er sie am Bahnhof in der kleinen Stadt nicht sofort gehen lassen hatte wollen, und sie ihm auch gleich zugestimmt hatte, in dem roten Herrenhemd. Und dann hatte sie sich von D. zum Abschied das Gesicht lecken lassen. Und natürlich fiel ihm ihr kindlicher Kuss wieder ein, die
Wangen noch feucht von der Hundeschnauze, und ihre Tasche, die er ihr reichte, war voller Bücher, die sie selig mit sich herumtrug. Und Marga, jene Marga, die er nun hatte, geradeso wie einen Gegenstand, sie war beinahe wie ein Extrapaar Schuhe, einmal die Woche, hatte eine andere Vorstellung vom Wohnen, Leben mit Hunden, und Sport war für sie wie Haarewaschen etwas, das man tat und immer wieder tat, weil es diesen Anflug von Gesundheit und Regelmäßigkeit hatte, eine Art gutes Ablenkungsmanöver von weiß der Teufel
was. Er sah noch, wie sie auf dem Jahrmarkt an silbernen Fäden gezogen und einen Stoffbären hatte gewinnen wollen, der gar nicht zu ihr passte, und noch weniger zu dem damaligen Tag. Marga im Twinset, die sich ihm untergehakt hatte, und deren Theatertäschchen sich an einem aus einer Schießbudenlade heraushängenden Nagel verheddert hatte. Er hatte auf die Mokassins eines jungen Mädchens gesehen, während ein einziger, simpler Gedanke immer wieder und körperlich schmerzhaft in ihm kreiste: dass alles längst ohne
Illusionen war.
Georg zitterte. Die Kälte kam durch die angelehnte Autotür herein und er hörte draußen Krähen schreien. Er hatte auf einmal das absurde Bild im Kopf, diese Vögel würden vom Himmel fallen, wie Schneebälle mit Eisklumpen darin, mitten auf D.s kalten Körper. Er packte das Tier, um es zu schützen. Und wie er es packte, fiel der Knochen aus dessen Maul, vom Sitz herab auf die Fußmatte, ohne die kleinste Bissspur. Und endlich fand Georg die passende Lage, um zu weinen, des toten Hundes wegen.
Die Metastasen hatten in der vergangenen Nacht schließlich den Tod verursacht und D. hatte schon ein paar Stunden lang nicht mehr stehen können, sich nur an den Türrahmen gelehnt, ein Schatten seiner selbst, während Georg hilflos etwas gekocht hatte, um nicht untätig zu sein, den Tod nicht gar zu erwarten. D. hatte auch die Augenfarbe gewechselt, in ein tieftrübes Grün. Der Tierarzt hätte nichts mehr tun können. So war es wiederholt gesagt worden, die paar Wochen vorher, als D. noch Hölzer apportieren konnte,
wenn auch langsam. Und ein weiterer Schnitt hätte nur eine schmerzliche Verzögerung bedeutet. Georg musste an den alten Mann denken, den er vor Jahren getroffen hatte, der mit seinem Hund vielleicht immer noch lebte wie mit einem Kameraden aus alten Tagen, der die Hundeleckereien in Gläsern neben den normalen Lebensmitteln aufbewahrte, und dessen Hund selbst im Bett und am Tisch gleichberechtigt war. Er war sich nie sicher gewesen, wie er das hatte finden sollen. Heute hätte er gerne mit dem Mann gesprochen.
Wie war es noch, D.s Hecheln nach dem Knochenversteckspiel? War es wirklich so verzückt und närrisch? Zitterte tatsächlich sein ganzer kleiner Körper dabei? Und damals, als er vom Nachbarn in Melonengröße gebracht wurde, war es bereits genau dieses Hecheln?
Georg spuckte auf den gefrorenen Asphalt. Schräg gegenüber brannte oben in Margas Wohnzimmer Licht, und wirklich, sie hatte kein einziges Mal nach D. gefragt, und er ihr nie genauer von dem Hund erzählt. Georg hielt sich mit der einen Hand am Sitzpolster fest, die andere strich mechanisch durch D.s Fell. Die Wangen dieses Mädchens damals waren nass gewesen vom Speichel aus dem kleinen Maul, das nun geschlossen lag und friedlich aussah an diesem Todestag. Letzte Nacht hatte D. jenen Schrei ausgestoßen, an dem
es sich offenbart hatte, diesen schrillen, nicht enden wollenden, fast pfiffhaften Schrei, der plötzlich begonnen hatte, als Georg die Kühlschranktür geöffnet und die Hand an der angebrochenen Bierflasche hatte. Im Augenblick des Schreis hatte der Hund die Augen zum Fenster gerichtet und die Not war so gar nirgends abzulesen gewesen, nur zu ahnen, aufgrund dieses ohrenbetäubenden Geschreis. Georg war zu D. hinübergestürzt, beinahe auf ihn gefallen und hatte seinen Kopf zu sich her gerissen, kurz in dessen Augen
gestarrt und dann nicht mehr hingucken können, ins Tieftrübe, wie es lauter zu werden schien als der Schrei. Er hatte den Hund nur gewiegt, nicht mehr ganz sicher, ob sein Herz noch schlug. Ein paar Stunden hatte D. daraufhin noch gelebt und ganz ruhig auf dem Läufer gelegen. Georg hatte Feuer gemacht, den Hund mit sich vor den Kamin geschleift und dann mit ihm, den er in eine zerschlissene Decke gewickelt hatte, so nah vor den Flammen gekauert, dass sein Gesicht die Hitze kaum ertragen hatte.
Als er gegen Morgen das Feuer hatte ausgehen lassen, war D. gestorben und hatte kurz vor seinem Tod noch einen kleinen See auf dem roten Läufer hinterlassen, der dann bei Dämmerung fast eingetrocknet war. Frühstück hatte Georg bereitet und alles auf einem Tablett vor den Kamin getragen, dort auf dem Fußboden gegessen, neben D., der wie im Schlaf wirkte. Er hatte den Kaffee wie verrückt gezuckert, dann dem Hund noch beinahe die Futterschüssel gefüllt und beim Dosenöffnen beschämt innegehalten, anschließend einen
Gang durch den Garten unternommen. Dort hatte er momentelang einen geeigneten Ruheort gesucht, ohne es überhaupt wirklich für möglich zu halten, in diesem eingezäunten Rasenstück ein für D. ausreichend großes Loch zu graben und es dort auf lange Zeit hin ertragen zu können. Schließlich hatte er im Keller trotz allem nach der Schaufel gesucht, sie allerdings in den Kofferraum gepackt und D., so sachte er es zustande brachte, auf den Rücksitz gebettet, sich keine Zeit gelassen und war losgefahren in die Berge,
dort so lange herumgekurvt, bis D. bloß ein schlafendes Tier war, während er selbst wiederentdeckte, wie sehr er die Berge liebte, und manche Straßen dort oben ganz besonders.
Irgendwann hatte er dann das Gefühl, etwas aufschreiben zu müssen. Daraufhin hatte er das Auto irgendwo stehen lassen, alle Türen aufgerissen, in der Hoffnung, dass vielleicht gar niemand darin war, kein Tier jedenfalls, denn D. fuhr doch überhaupt nicht gern im Auto. Er hatte es doch immer nur für die kurze Strecke zum Strand ausgehalten, und da nicht ohne Hecheln. Georg hatte am Fuße eines Hügels gestanden, auf der gefrorenen Erde, die knirschte, und sein Notizbuch nicht halten können, weil ihm die Hände, als
er es aufschlug, intensiv zu zittern begannen. Wieder zu Hause hatte er D. erneut vor den Kamin gezerrt und ein paar Äste angezündet, die nur Funken spuckten. Er hatte sich, als er nicht schreiben konnte, hinter dem Schreibtisch zu schaffen gemacht, dort am Boden gekauert und einige belanglose Fotografien gefunden. Er war außerdem auf Notizen gestoßen, die ihm fremd vorkamen, und so hatte er die Papiere ohne zu zögern zerknüllt, sie überall im Zimmer verstreut, mit ihnen beinahe zu spielen begonnen als wären
es Bälle. D. hatte er zugerufen, ihnen hinterherzujagen und sich dann gewünscht, weinen zu können, es nicht zustande gebracht, den Tag schließlich mit dem toten Hund im Schoß verbracht, bis es dämmerte und er sich schlagen wollte, nachdem er sich kindisch geschworen hatte, immer so sitzen zu bleiben. Irgendwann hatte er eine Scheibe Brot gegessen und die angebrochene Bierflasche ausgetrunken. Dabei war er auf den Gedanken gekommen, den Hund einfach bei sich zu behalten. Außerdem war es Margas Tag gewesen und
jene Tage waren immer seltsam. Er hatte auch noch keine Einkäufe erledigt gehabt und die Sonne war bereits wieder am Untergehen. Also hatte er D., den Schläfer, noch mal auf den Rücksitz geschleift, ihn mehrere Male geküsst und war dann losgefahren, den Rückspiegel so tief gestellt, dass die gelbe Silhouette, selbst als das Licht zusehends nachließ, immer erkennbar blieb.
Georg umklammerte D. nun mit beiden Händen und weinte. Er fühlte die feinen Knochen im Leib des Tieres und wollte sich nicht vorstellen, dass D. irgendwann anfangen würde zu riechen. Er wollte den Hund nie aus den Händen geben. Er wollte mit ihm gemeinsam in einem Loch liegen, mit ihm den freien Fall dahinein erleben, oder, wenn das nicht ging, einfach vom Asphalt, diesem vor Kälte blinkenden Asphalt verschluckt werden.
Irgendwann zog er die Wagentüre zu und schlief mit D. auf dem Rücksitz ein. Als er erwachte, brach er wieder in die Berge auf. Es war tiefschwarze Nacht. Er fuhr immer weiter, stundenlang, mitten in den Tag hinein. Georg, der auf einmal sicher war, D. von allen am meisten geliebt zu haben, fuhr mit seinem toten Hund noch drei Tage lang herum, bis er irgendwann kein Geld mehr für Benzin bei sich trug. Er begrub D. schließlich, ohne sich um Vorschriften zu kümmern, an einem Ort, von dem er sich einbildete, geträumt
zu haben, und, wie er noch so über manches Vergangene nachdachte, während er oben in den Bergen herumging, zogen immer wieder Krähen hoch über ihm durch die Kälte und er hoffte, dass sie nicht auf ihn herabfallen würden, wie Schneebälle mit Eisklumpen darin, auf ihn oder auf D. oder dieses kleine Gefühl der Liebe, das er spürte.
Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.