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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Ein ganz normaler Freitag
© Michèle Pinkenell
Katharina saß in der Regionalbahn von Bad Nauheim nach Frankfurt. Sie war auf dem Weg in die Uni, packte ein dickes Buch aus und begann zu lesen. Es gab zwar kaum ein wirksameres Schlafmittel, aber sie kämpfte sich durch die Seiten, unterstrich, was ihr wichtig erschien und machte sich Notizen. Dadurch konnte sie sich trotz der Lektüre wach halten. Kurz vor dem Hauptbahnhof war sie mit dem Kapitel durch, packte ihre Sachen zusammen und stellte sich in den Mittelgang um auszusteigen. Sie bewegte ihre Lippen, da
sie den Stoff wie eine Litanei vor sich hin murmelte.
"Sie sind aber fleißig", lobte ein Mann, der neben ihr gesessen hatte, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Er lächelte sie an.
Katharina kam von weither zurück und schrak ein wenig zusammen.
"Ich nutze die Zeit gern", nahm die Anerkennung auf. "Wenn ich mir auf dem Hin- und Rückweg meine Unterlagen vornehme, habe ich bereits zwei Stunden gelernt. Zu Hause habe ich dann Zeit für meine Kinder."
Das Lächeln des Mannes gefror. Er musterte sie kritisch von oben bis unten.
"Sie haben Kinder?" In die Betonung der zweiten Silbe legte er Missbilligung und Verachtung.
"Ja, zwei Stück", berichtete Katharina stolz.
"Aber warum studieren Sie, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern?", fasste der Mann nach.
"Weil man sich die Zeit im Studium gut einteilen kann", erklärte Katharina. "Wirklich anwesend muss ich nur zu den Klausuren sein. Das sind zwei Wochen im Halbjahr. Wenn mich die Kinder brauchen, kann ich zu Hause bleiben und dort arbeiten."
"Sie nehmen Ihr Studium also nicht besonders ernst", folgerte der Mann.
"Natürlich nehme ich es ernst", verteidigte sich Katharina.
"Dann vernachlässigen Sie also Ihre Kinder", schloss der Mann triumphierend. "Das finde ich unverantwortlich."
Katharina wollte dagegen halten, dass gerade der Blick in die skandinavischen Länder zeige, dass Kinder nicht zu Psychopathen werden, wenn sie bereits früh in Krippen untergebracht seien. Aber der Zug hielt. Der Mann sah zufrieden aus, als er ausstieg und auf den Haupausgang zulief.
Katharina fühlte sich schlecht. Warum hatte ihr der Mann einreden wollen, dass er sich mit Kindererziehung besser auskannte als sie? Er kannte weder sie noch ihre Kinder. Ihr Frühstück rumorte unangenehm im Magen, als sie die Rolltreppe zur U-Bahn nahm.
"Hallo", sagte eine bekannte Stimme von hinten.
Katharina drehte sich um.
"Hallo, Markus", begrüßte sie freundlich ihren Kommilitonen.
"Ich wollte dir sagen, dass mir dein Vortrag letzte Woche gut gefallen hat", sagte er, während sie über den Bahnsteig liefen.
"Danke", freute sich Katharina.
"Wie geht es deinen Kindern?", erkundigte er sich.
"Wachsen und gedeihen", sagte sie abweisend. Sie hatte keine Lust, sich wieder erklären zu lassen, dass sie verantwortungslos war.
"Ich frage mich, wie du das alles schaffst", sagte Markus bewundernd. "Ich wohne daheim und muss mich um nichts kümmern. Aber ich schaffe es kaum in die Uni. Aber du bist immer da und gut vorbereitet. Deine Kinder sind richtig nett und wirken sehr ausgeglichen."
Katharina machte kugelrunde Augen. Die Bahn fuhr ein. Katharina wartete, bis sie hielt und stellte sich an die Tür. Nachdem sie eingestiegen waren, berichtete Kathrina: "Gerade eben hat mir ein Mann in der S-Bahn noch erklärt, dass er mein Verhalten unverantwortlich findet."
"Ach lass dir nichts erzählen!", winkte Markus ab. "Ich kann mir zwar auch nicht vorstellen, wie du's machst das geht, aber ich sehe, dass es funktioniert. Warum redest du überhaupt mit solchen Leuten? Such dir jemand, der dir den Rücken freihält und lass dich nicht runterziehen! Spar deine Energie für wichtige Sachen!"
Katharinas Magen beruhigte sich.
"Wenn ich mir überlege", sagte Markus nach einer Weile, "dass ich in ein paar Jahren auf dem Arbeitsmarkt mit dir konkurrieren muss, wird mir ganz schlecht."
Katharina winkte ab: "Die meisten Personalchefs argumentieren wie mein Freund aus der Regionalbahn. Mit zwei kleinen Kindern werde ich nicht so schnell eingestellt."
"Da magst du Recht haben", sagte Markus nachdenklich. "Wahrscheinlich warst du dem Typen unheimlich. Irgendwo musste er an deinem Lack kratzen, um sich selber besser zu fühlen."
Sie wurden auseinander gedrängt, weil der Zug hielt und die Leute ein- und ausstiegen.
"Wo musst du jetzt hin?", erkundigte sich Markus, als sie wieder nebeneinander standen.
"Zu Statistik", antwortete Katharina.
"Ich frage mich, warum Statistik einen so großen Fachbereich darstellt", sagte Markus nebenbei.
"Ich nehme an, weil Statistik sehr wichtig ist", nahm Katharina das Thema auf. "Wenn du einen bestimmten Mittelwert siehst, muss dir klar sein, wie er gebildet wird, um beurteilen zu können, ob er sinnvoll ist oder nicht. Du bist sonst hilflos allen ausgeliefert, die dieses Wissen haben."
"Aber, was die verschiedenen Mittelwerte aussagen", meinte Markus, "werde ich in der Praxis lernen. Viel wichtiger fände ich, wenn Personalwesen eine Pflichtveranstaltung wäre."
"Aber Personalwesen ist so ein Wischiwaschi", widersprach Katharina. "Das Fach ist doch nur dazu gut, dass der Professor sein Buch verkaufen kann."
"Aber", wandte Markus ein, "als Betriebswirt musst du doch eine Vorstellung davon haben, worauf du bei der Personalplanung achten musst. Wichtiger als Statistik ist es doch deine Rechte und Pflichten als Unternehmer zu kennen."
"Das wäre wichtig", räumte Katharina ein. "Aber das kommt in der Vorlesung nicht vor. Das Buch eignet sich prima als Einschlafhilfe und für die Kinder, wenn der Stuhl nicht hoch genug ist."
Markus schwieg. Auf die Gegenfrage, wo er hinmüsse, erwiderte er vage: "In die Bibliothek."
Der Zug hielt an der Bockenheimer Warte. Markus verabschiedete sich und ging mit großen Schritten vor ihr her.
Katharina hatte das Gefühl, als hätte sie noch eine Schlacht verloren. Ihr Magen meldete sich wieder.
Nach der letzten Vorlesung fuhr sie wieder nach Hause. Sie holte ihre Mitschriften heraus und las sie durch. Die Sonne brach durch die Wolken und blendete sie. Das störte. Katharina setzte mürrisch ihre Sonnenbrille auf und las weiter. Als sie in ihren Heimatbahnhof einfuhr, glättete sich ihre Stirn. Sie hatte ihre Aufzeichnungen durchgearbeitet. Damit war das Wochenende für sie angebrochen. Bei dem schönen Wetter könnte sie nachher mit den Kindern nach Rossbach auf den Wochenmarkt fahren. Außerdem hatte sie
jetzt Zeit. Sie musste sich um keinen Termin mehr kümmern sondern konnte tun, wozu sie Lust hatte.
Als sie mit den Kindern auf dem Wochenmarkt ankam, fand sie an einem der Biertische genug Platz für die Kinder und sich. Sie holte drei Gläser warmen Apfelsaft und freute sich, dass die Sonne noch wärmte. Die Kinder spielten auf einem Grashügel. Sie entdeckten eine Pfütze und prüften, was passierte, wenn man Steine hineinwarf. Dann fanden sie Stöcke und ließen sie schwimmen. Als Herren über alle Weltmeere kämpften sie gegen Piraten, entdeckten ferne Länder und geheimnisvolle Paradiese. Katharina beobachtete versonnen
ihre Kleinen und lauschte den Abenteuern, die sie erlebten.
"Ist da noch frei?", wollte ein Mann mit Schnauzbart wissen.
"Aber sicher", sagte Katharina, ohne den Blick von ihren Kindern zu nehmen.
"Sind das Ihre Kinder?", erkundigte sich der Mann.
"Ja", bestätigte Katharina. Gerade war es sehr spannend, weil die Kinder gerade auf einer Schatzinsel gelandet waren. Katharina wollte unbedingt wissen, ob sie große Beute machten und woraus sie bestand.
"Fahren Sie nicht jeden Morgen mit dem Zug nach Frankfurt?", wollte der Mann wissen.
Katharina bejahte die Frage und erlebte mit, wie die Kinder auf die Spur des alten Seeräubers Knatterbüchse stießen, der einen sagenhaften Goldschatz im Birkenhain vergraben hatte.
"Was machen Sie da?", bohrte er weiter.
"Ich studiere Betriebswirtschaftslehre", sagte Katharina und hoffte nun endlich Ruhe zu haben, aber ihr Tischgenosse empörte sich über den Unsinn, dass Frauen studierten. Katharina hatte keine Lust, sich zu streiten. Sie sah ihr Gegenüber an und sagte: "Das dürfen Sie ruhig meinen. Wir sind nicht verheiratet."
Der Mann schaute verdutzt über seinen Schnurbart hinweg.
"Ich bin sehr konservativ", erklärte er. "Sie werden mich nicht ändern."
"Ich will Sie nicht ändern", sagte Katharina nachdrücklich und wurde Zeugin einer Seeschlacht.
Ihr Gegenüber runzelte die Stirn. Er sah aus, als hätte er Magenschmerzen. Katharina hatte keine. Unter dem Tisch war ein leises Grummeln zu hören. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass es nicht ihre Aufgabe war, jedem ihren Standpunkt zu erläutern. Sie fühlte sich bedeutend wohler, wenn sie den Leuten ihre Meinungen und Vorurteile ließ. Sie war auch nicht verpflichtet auf jede noch so platte Diskussion einzugehen. Wichtig war nur, dass sie und ihre Kinder zufrieden waren. Sie nahm sich fest vor, niemanden mehr
von der Richtigkeit ihres Lebensweges überzeugen zu wollen, schloss ihre Augen und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages.
Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.