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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Tür zu?
© Stefan Parsch
Ich fuhr gerade auf die Autobahn auf, als die Frage zum ersten Mal in meinem Kopf auftauchte: Habe ich eigentlich auch meine Wohnungstür hinter mir geschlossen? Im ersten Moment wollte ich umkehren, doch ich war schon fast auf der Einfädelspur. Also musste ich erst einmal auf die Autobahn. Die nächste Abfahrt war allerdings sieben Kilometer entfernt. Ich überlegte, dass es mich mindestens eine halbe Stunde kosten würde, wenn ich noch einmal zurück fuhr. Und überhaupt hatte ich doch immer die Tür geschlossen,
wenn ich noch einmal nachgesehen hatte. Wie oft war ich noch zurück zum Auto gegangen, weil ich wohl in Gedanken die Tür abgeschlossen hatte, es aber eine Minute später nicht mehr hundertprozentig wusste? Jedes Mal war die Tür verschlossen gewesen. Und so war es sicher auch mit der Wohnungstür: Ich hatte sie routinemäßig abgeschlossen, auch wenn ich mich an den konkreten Vorgang gerade nicht erinnern konnte. Die nächste Abfahrt kam, ich überlegte noch einmal kurz, dann fuhr ich vorbei. Lieber lenkte ich meine
Gedanken auf Anna, die in meiner Gegenwart immer so aufgeregt war und mich anlächelte, nein, sie strahlte mich jedes Mal an. Ich war mir ziemlich sicher, dass diese hübsche, junge Kollegin in mich verliebt war und dass wir nach meinem Urlaub zusammenkommen würden - die Frage war nur noch, auf welche Weise es geschehen würde. Ich war jedenfalls so verliebt wie seit Jahren nicht mehr.
Mein Weg führte mich nach Frankfurt am Main, wo ich meine Freunde Alexander und Marco traf. Gemeinsam hatten wir vor, mit Marcos Wagen nach Italien zu fahren, nämlich an die ligurische Küste (östlich von Genua). Dort gibt es einen Abschnitt, der "Cinque Terre" genannt wird, in dem sich fünf Dörfer befinden, die zum Teil in steile Hänge hinein gebaut wurden und die den Charme vergangener Jahrhunderte bewahrt haben. In einem dieser Dörfer, Manarola, hatten wir eine Ferienwohnung gemietet.
Die Fahrt nach Cinque Terre war eindrucksvoll. Wir fuhren durch die Schweizer Alpen, sahen mehrere Dreitausender und waren froh, als wir die 17 Kilometer des St.-Gotthard-Tunnels hinter uns hatten (es hatte ja in den vergangenen Jahren mehrere Tunnel-Unglücke gegeben). Die ganze Fahrt über dachte ich nicht an meine Wohnungstür, viel zu sehr beschäftigten mich die neuen Eindrücke. Wir erreichten Manarola etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang. Nachdem wir alle Formalitäten erledigt und den ersten Teil unseres Gepäcks
in die Wohnung gebracht hatten, sahen wir uns erst einmal den Ort an. Es gab zwar an einigen Stellen Sichtbeton, aber insgesamt war es ein pittoreskes Dörfchen mit eng aneinander gebauten Häusern, verwinkelten Gassen und mit Fassaden, die in verschiedenen Pastellfarben gestrichen waren. Ich machte gleich an diesem Abend mehr als ein Dutzend Bilder, weil das Licht kurz vor Sonnenuntergang den Ort in ein leicht rötliches Licht tauchte und die Farben im Wechselspiel mit den großen Schattenflächen intensiver erscheinen
ließ.
"Hast du die Tür abgeschlossen?", fragte Alex Marco, als wir am nächsten Morgen auf dem Weg zum Auto waren, weil dieses oberhalb des Dorfes geparkt werden musste. "Klar!", antwortete Marco ohne zu zögern. Auch ich war mir zu diesem Zeitpunkt sicher, dass meine Wohnungstür in Deutschland fest verschlossen war. Es war ein schöner, sonniger Tag in La Spezia, der nächst größeren Stadt.
Am folgenden Morgen wachte ich früher auf als die anderen beiden. Ich wollte sie aber schlafen lassen, deshalb blieb ich liegen und ließ meine Gedanken schweifen. Ich dachte an Anna, an die Begegnungen in der Firma und auf einer Party, an unsere beiden gemeinsamen Kinobesuche. Kurz vor der Abreise hatte ich ihr noch schnell beim Umzug geholfen, wenigstens mit einer Wagenladung voll. Und wir hatten uns nach der Verabschiedung noch so lange im Auge behalten, bis eine Mauer unsere Blicke trennte. Wahrscheinlich
wusste ich deshalb nicht mehr, dass ich meine Wohnungstür abgeschlossen hatte: Ich hatte eben andere Dinge im Kopf. An dieser Stelle zog ein kleiner Zweifel meine Aufmerksamkeit auf sich: Gerade wenn ich abgelenkt bin, neige ich bei Routine-Handlungen zu Fehlern. Dann lege ich mein Portmonee an eine völlig andere Stelle als die übliche, dann vergesse ich beim Waschen das Waschpulver oder schließe ich meinen Autoschlüssel im Kofferraum ein. Was, wollte der Zweifel wissen, wenn ich, von Anna abgelenkt, mein Gepäck
gepackt hatte und die Tür hatte aufstehen lassen? Ich erinnerte mich zwar daran, dass ich den Wohnungstürschlüssel in die Hand genommen hatte, doch da hatte das Gepäck noch in der Wohnung gestanden. Das konkrete Schlüsselumdrehen war mir indessen nicht mehr präsent. Dass ich es vergessen hatte, war sehr unwahrscheinlich, aber ich war mir nicht ganz sicher. Zum Glück kam gerade Alex aus seinem Zimmer, sodass die Gedanken ans Frühstück alle anderen verdrängten.
An diesem Tag begaben wir uns auf einen Wanderweg, der durch die Berghänge führend die fünf Orte miteinander verband. Dieser Weg war bei Touristen so beliebt, dass die Kommunen sogar Geld für das Betreten verlangen konnten.
Wir gingen auf dem abenteuerlich schmalen Pfad durch die steilen Weinberge mit den jahrhundertealten Trockenmauern aus geschichteten Felssteinen, die ohne Mörtel auskommen. Einige hundert Meter unter uns glitzerte das Mittelmeer in der Sonne. In Corniglia, das auf einem Felsen hoch über dem Meer liegt, gingen wir durch die schmalen Gassen mit vielen kleinen Läden.
Ein Mann um die 40 kam aus einem Haus, das ausnahmsweise kein Geschäft beherbergte, und ließ die Tür halb offen stehen. Ich wagte einen neugierigen Blick hinein, aber es war zu dunkel darin, um mehr als Umrisse von Möbeln zu erkennen. Wir setzten uns auf den winzigen Marktplatz und bestellten uns Eis. Etwa eine halbe Stunde später gingen wir wieder an dem Haus vorbei, das der 40-Jährige vorhin verlassen hatte. Die Tür stand noch im selben Winkel offen. Trotz der zahlreichen Fremden, die durch den Ort gingen,
hatte der Mann offenbar keine Angst, dass jemand in sein Haus eindringen könnte. Und ich machte mir Gedanken, obwohl meine Wohnungstür zum Treppenhaus und nicht direkt zur Straße führte, und obwohl ich sie höchstwahrscheinlich abgeschlossen hatte. Ich musste über mich selbst lächeln, dass ich mir überhaupt Gedanken um meine Wohnungstür machte.
Wir marschierten weiter nach Vernazza und schließlich nach Monterosso, wo wir uns für eine Stunde an den steinigen Strand legten und unsere erhitzten Körper im Meer kühlten. Allmählich begann ich zu begreifen, was so viele Menschen ans Mittelmeer zog: Die bemerkenswerte Landschaft, die freundliche Septembersonne und die Weite des Meeres erzeugten Emotionen, als wenn in meinem Inneren eine Tür aufgestoßen würde und ich nun Freiheit atmen konnte.
Am folgenden Morgen wachte ich erneut etwas früher als Alex und Marco auf.
Irgendwie glitten meine Gedanken zu dem Mann, der die Haustür offen gelassen hatte. War es einfach eine andere Mentalität oder fühlte er sich nur sicher, weil er wusste, dass die zahlreichen Händler ringsum sein Haus immer im Blick hatten? Hier funktionierte die Nachbarschaft als Sicherheitsgemeinschaft wahrscheinlich noch. Bei mir war das anders: Ich hatte keinen Wert auf die nähere Bekanntschaft zu meinen Nachbarn im Haus gelegt. Ich grüßte sie zwar freundlich, aber ansonsten wollte ich lieber meine Ruhe haben.
Dafür aber machte ich mir jetzt Gedanken darüber, ob ich die Tür geschlossen hatte, und konnte nicht einmal einen Nachbarn anrufen, um endgültige Sicherheit zu erlangen. Im Halbschlaf begann mich nun wieder der Quälgeist Zweifel zu piesacken. Mit einem Mal sah ich die Tür weit offen stehen. Vielleicht hatten die Nachbarn von nebenan und von oben gelegentlich mal einen Blick hinein geworfen, sich gewundert, aber nichts weiter unternommen. Vielleicht aber ist jemand auch hinein gegangen mit der Ausrede im Hinterkopf,
dass er nachsehen wollte, ob dem Mitbewohner (also mir) eventuell etwas zugestoßen sei. Und nachdem die Wohnung und hörbar auch das Treppenhaus menschenleer gewesen waren, hatte sich plötzlich mein neuer Drucker unter seinem Arm befunden. Ich erinnerte mich nun an eine Fernsehreportage, in der ein unbeschädigtes und verschlossenes Auto irgendwo in einer deutschen Großstadt abgestellt worden war. Man hatte eine Kamera versteckt so positioniert, dass sie alles aufzeichnete, was um den Wagen herum geschah. In den
ersten Nächten passierte nichts, doch dann brach jemand durch das Seitenfenster ein und entfernte das Autoradio. Das war ein Signal: Nun begann die Ausschlachtung des Wagens bis hin zu Sitzen und Rädern. Besonders dreist aber fand ich einen Jogger, der wohl zufällig vorbei kam, sich kurz umblickte und dann seinen Oberkörper durch das glaslose Seitenfenster steckte und nach etwas Brauchbarem suchte - und das am helllichten Tag! Wieder einmal hatte sich der Spruch bewahrheitet: Gelegenheit macht Diebe. Hatte ich
meinen Nachbarn nun auch solch eine Gelegenheit gegeben?
Ich überlegte, ob ich die Nachbarn, die unter mir wohnten, anrufen sollte, damit sie nachsahen, ob alles in Ordnung war, oder damit sie gegebenenfalls die Tür schlossen. Ich hatte zwar nicht ihre Telefonnummer, kannte aber ihre kompletten Namen. Ich konnte meinen Bruder anrufen und ihn bitten, die Nummer herauszufinden, damit ich dort anrufen konnte. Doch die Angst, mich lächerlich zu machen, war größer als die Angst vor der offenen Tür. Noch.
Der Blasendruck zwang mich aus dem Bett und aus Angst vor unabgeschlossenen Gedankengängen legte ich mich nicht wieder hin, sondern las lieber im Nachrichtenmagazin.
An diesem Tag machten wir einen Ausflug nach Pisa und Florenz. In Pisa sahen wir uns nur den zentralen Piazza del Duomo mit dem Dom, dem Baptisterium und dem Schiefen Turm an und aßen etwas abseits vom Touristenstrom in einer Nebengasse eine Kleinigkeit. Ansonsten empfand ich die Stadt als eher schlicht. Florenz hingegen gilt als eine der wichtigsten Kulturstätten Europas. Doch irgendwie wollte mir auch diese Stadt nicht gefallen. Ich überlegte schon, ob es die ständigen Gedanken an meine Wohnungstür waren, die
mir an diesem Tag die Laune vermiesten, aber nach und nach fand ich Argumente für mein Gefühl: Abgesehen vom Dom und einigen anderen Bauten waren die Häuser schmucklos und trotz der vielen Menschen wirkten die Gassen nicht lebendig. Irgendwann bemerkte ich, was mir vermutlich fehlte: Grün. Es gab so gut wie keine Bäume und Beete in der historischen Stadt. Offenbar hatten die Städtebauer einen ganz und gar künstlichen Ort erschaffen wollen.
Ich war beruhigt, als ich in einem Reiseführer las, dass einst der Dichterfürst Goethe, "getrieben von der Sehnsucht nach dem Land, wo die Zitronen blühen", Florenz ebenso schnell wieder verlassen hatte wie er hineingeeilt war und dass er über die hohen, dunklen Gassen schimpfte.
Vielleicht werde ich einmal anders über Florenz urteilen, wenn ich die Museen besichtigt habe, die ja zu den bedeutendsten der Welt gehören sollen.
Und vielleicht würde ich mir beim nächsten Besuch auch sicher sein, dass ich die Wohnungstür geschlossen hatte.
Tagsüber hatte ich also genügend Ablenkung, doch im Unterbewusstsein nagte der Zweifel weiter. In dieser Nacht wachte ich sehr früh auf, die Ferienwohnung war dunkler als sonst, also war die Sonne noch nicht aufgegangen. Wieder hatte ich die offene Wohnungstür vor meinen Augen, sie stand sperrangelweit offen. Anfangs hatten sich meine Nachbarn sicher gewundert, vor allem die Frau gegenüber, die immer so seltsam hüstelt und deren Hund stets anschlägt, wenn ich den Flur betrete. Sie müsste die offene Tür als Erste
bemerkt haben. Vielleicht hat sie ja geahnt, dass ich sie zu schließen vergessen hatte, und hatte sie einfach zugezogen. Nein, diese Lösung war zu einfach! Die Frage war eigentlich nur, in welchem Zustand ich meine Wohnung vorfinden würde: Würden die Eindringlinge gehaust haben wie die Vandalen oder würden sie gezielt einzelne Dinge rausgetragen haben?
Kürzlich war jemand in die Kellerräume eingedrungen, hatte auch das Schloss zu meinem Verschlag geknackt, dann aber gar nichts, noch nicht einmal das Fahrrad mitgenommen. Möglicherweise hatten die meisten Gegenstände in meiner Wohnung für Einbrecher und Hehler überhaupt keinen Wert. Gut, der Scanner-Drucker und der Flachbildschirm, die waren sehr neu, die wären wahrscheinlich weg. Aber der Computer könnte ihnen schon zu alt sein und eine Stereoanlage, die seit sieben oder acht Jahren in Betrieb war, mit Sicherheit.
Mein Fernseher war zwar ein Black Trinitron von Sony, aber gebraucht gekauft und 14 Jahre alt - unverkäuflich! Mein Keyboard dito.
Meine Möbel: Alle bei Ikea oder ähnlichen Läden gekauft und selbst zusammengebaut - uninteressant. Meine CD-Sammlung: Sie zu Geld zu machen, wäre wahrscheinlich viel zu aufwändig. Wenn sie dreist wären, würden sie sich die CDs aussuchen, die ihnen gefallen würden - es wären wohl nicht viele, dachte ich, denn Ganoven haben gewöhnlich keinen guten Musikgeschmack. Vielleicht aber würden sie aus Wut oder weil sie wirklich wertvolle Dinge suchten, sämtliche CDs auf den Boden werfen. Würden sie die Bücher stehen lassen?
Solchen Gaunern traute ich zu, dass das Telefonbuch das einzige Buch in ihrem Haushalt war.
Ich döste und versuchte wieder einzuschlafen, deshalb konnte ich mich nicht richtig gegen diese Gedanken wehren; teilweise amüsierten sie mich auch. Mir wurde auch bewusst, wie wenig ich besaß, was einen äußerlichen Wert besaß:
Keinen Schmuck, kein Bargeld, keine aktuellen Hi-Fi-Geräte, keine derzeit so aktuellen DVDs. Meine Anzüge - womöglich würden sie sie mitnehmen und auf einem Flohmarkt oder bei E-Bay verticken, aber es waren ja keine aufregenden Marken, nur gute Stücke aus einer Kaufhauskonfektion. Eigentlich lebte ich doch ein recht bescheidenes Leben. Viel mehr als der Verlust einiger Geräte oder Kleidungsstücke machte ich mir Gedanken über das Chaos und seine Beseitigung. Da ich keine Hausratversicherung hatte, würde ich ohnehin
alles selbst bezahlen müssen; wenigstens musste ich dann keiner Versicherung erklären, wie die Diebe in meine Wohnung eindringen könnten, ohne Einbruchsspuren zu hinterlassen. In meinem schlaftrunkenen Kopf war die unverschlossene Tür schon beinahe eine Tatsache. Und so hoffte ich inständig, dass die Eindringlinge nicht allzu sehr gewütet hatten. Ob meine Nachbarn unter mir es mitbekommen hatten? Vielleicht war Er nach oben gekommen, um sich über den Lärm zu beschweren, und Sie war nachgekommen, weil Er nicht
zurück gekommen war, und beide waren von den Gangstern getötet worden und wenn ich nach Hause kam, würde ich ihre Leichen in meiner Wohnung finden und der Polizei erklären müssen ...
An diesem Punkt regte sich nun doch Widerstand in meinem Vernunftzentrum.
Ich wies das Worst-Case-Szenario meiner eigenen Fantasie zurück. Doch was sollte ich ihm entgegen setzen? Eine Gasexplosion! Wenn eine Gasexplosion mein Wohnhaus in Schutt und Asche legte, dann war auch mein Besitz, sofern ich ihn nicht bei mir hatte, verschwunden. Und ich hatte sogar noch Glück gehabt, weil ich im Urlaub gewesen war. Ich versuchte mir klar zu machen, dass es jederzeit passieren konnte, dass mein Besitz abhanden käme. Aber gab es nicht Dinge, die wichtiger waren? Mein Leben, meine Unversehrtheit,
mein Arbeitsplatz und - die Liebe meiner Angebeteten. Ja, ich musste auf einmal an Anna denken, an diese wunderbare Frau, von der in mir vorstellen konnte, mit ihr eine Familie zu gründen. Wenn ich die Wahl hätte zwischen ihrer Liebe und einer geschlossenen Wohnungstür, dann würde ich ihre Liebe wählen, da war ich mir in diesem Augenblick ganz sicher, obwohl die Liebe in diesem Fall nur theoretischer Natur und der (verlorene) Besitz schon sehr konkret war. Wer weiß, philosophierte ich weiter, womöglich war die
Habgier nur das Ergebnis verschmähter oder unmöglicher Liebe.
Diese Gedanken beruhigten mich. Wenn ich die Liebe meines Lebens finden würde, wäre mein materieller Besitz mit einem Mal nicht so wichtig (vielleicht würde das aber die Liebe meines Lebens ganz anders sehen ...).
Zumal ich einiges sowieso hätte neu kaufen müssen. Aber es gab doch einige Dinge, um die es sehr schade sein würde, wenn ich sie verlöre: die meisten meiner Bücher und CDs, meine Geschichten und Aufzeichnungen und meine Fotos - also meine persönlichsten Dinge. Meine Ausbildung und meine Berufs- und meine Lebenserfahrung würden mir ohnehin erhalten bleiben, und die sah ich mit zunehmendem Alter als immer wichtiger an. Ich habe einmal gelesen, dass jüdische Familien schon vor der Nazi-Zeit viel Wert auf die Ausbildung
ihrer Kinder gelegt haben, weil sie aus ihrer Geschichte wussten, wie schnell man um seinen Besitz gebracht werden konnte. Besitz konnte man sich immer wieder zulegen, nicht aber eine gute Berufsausbildung, die die Grundlage für den Besitzerwerb bildete. Ich hatte ja noch ein paar Euro auf der hohen Kante und würde mir für die herbsten Verluste schnell Ersatz verschaffen können.
Obwohl - wenn die Diebe die Unterlagen meiner Geldanlagen fänden: Wären sie eigentlich vor unberechtigtem Zugriff geschützt? Ich war mir nicht einmal sicher, ob da ein Passwort verlangt wurde ... Schluss jetzt! Ich rief meine Fantasie zur Ordnung. Die Liebe ist wichtiger. Punkt!
Der restliche Urlaub verlief dann wesentlich entspannter. Sobald ich an den Eingang zu meiner Wohnung dachte, erfolgte eine Direktverlinkung zu Anna und die Vorfreude auf eine tolle Zeit mit ihr. Ja, sie war deutlich mehr wert als mein Computer und das Zubehör, alle HiFi-Geräte und als meine Möbel und Klamotten sowieso.
Nachdem wir noch Genua besichtigt hatten, eine sehr lebendige Hafenstadt, die mir (auch architektonisch) deutlich besser gefallen hat als Florenz, gönnten wir uns zum Abschluss des kurzen Urlaubs ein Abendessen in dem "ersten" der Cinque-Terre-Dörfern, Riomaggiore. Erst jetzt, nach einer knappen Woche, setzte ein kleiner Erholungseffekt ein; eigentlich hätten wir noch mindestens eine Woche länger bleiben müssen, um neue Kraft zu tanken.
Aber dank Anna hatte ich ja einen guten Grund, mich auf die Rückkehr in mein Alltagsleben zu freuen. Andererseits rückte nun der Augenblick der Wahrheit näher: Tür zu oder nicht?
Ich hatte mich herzlich von Alex und Marco verabschiedet und befand mich mit meinem Wagen auf der Autobahn. Ich näherte mich einer Raststätte, von der ich wusste, dass sie die letzte war, bevor ich die Autobahn verlassen würde.
Ich überlegte, ob ich noch einmal eine Toilette aufsuchen sollte, doch entschied dann, dass ich den Druck bis zu meiner Wohnung aushalten würde.
Aber wenn die Eindringlinge die Kloschüssel entfernt oder zumindest unbrauchbar gemacht hatten? Ich beurteilte diesen Gedanken als unsinnig und fuhr an der Raststätte vorbei. Doch der Gedanke ließ mich nicht ganz los.
Die Assoziationskette rasselte und ich sah mich schon bei einem meiner Nachbarn vor der Tür stehen und um die Benutzung der Toilette bitten - es wäre ja ein Notfall. Ich würde sie wohl auch fragen, ob sie nicht mitbekommen hätten, was in meiner Wohnung vor sich gegangen war, aber sehr zurückhaltend und höflich, es sollte nicht wie ein Vorwurf klingen. Alles Quatsch! Immer wieder musste ich meine davon galoppierenden Gedanken einfangen. Obwohl Zweifel an der Verschlossenheit der Tür vorhanden waren, hielt ich
es immer noch für unwahrscheinlich, dass ich sie offen gelassen hatte. Doch mit jedem Kilometer, dem ich mich meinem Wohnhaus näherte, stieg auch ein innerer Druck, nicht nur der meiner Blase. Ich bog in meine Straße ein und nachdem ich einen kleinen Knick passiert hatte, konnte ich das Eckhaus schon sehen. Es stand also noch, keine Gasexplosion. Ich parkte meinen Wagen und stieg aus, betrachtete die Fensterfront, hinter der meine Wohnung lag. Die Scheiben waren ganz, nichts Ungewöhnliches zu entdecken.
Schwer bepackt öffnete ich die Haustür und stellte dann alles erst einmal ab, um meinen überfüllten Briefkasten zu öffnen. Mit Gepäck und Post stapfte ich die Treppen hinauf. Die letzten Stufen, dann konnte ich den Eingang sehen: Die Tür war geschlossen. War sie nur zugezogen - von Nachbarn - oder auch abgeschlossen? Der Schlüssel knirschte im Schloss - scheinbar alles in Ordnung. Die Wohnung war kühl, aber unberührt. Alle Geräte und Möbel waren noch da, kein Vandalismus, vermutlich hatte während meiner Abwesenheit
nicht einmal eine Fliege die Raumluft durcheinander gewirbelt. Ich stellte mein Gepäck im Flur ab, schloss ganz bewusst die Wohnungstür, zog meine Jacke aus und begab mich auf die Toilette. Alles in Ordnung! Mir fiel durchaus ein mittelschwerer Stein vom Herzen. Aber hoffentlich war das kein schlechtes Omen für mein Zusammenkommen mit Anna. Nach diesem Gedanken ärgerte ich mich über mich selbst: Ich war doch Rationalist und ich glaubte nicht an Omen!
Am nächsten Tag hielt ich in der Kantine nach ihr Ausschau. Ich wusste, dass sie nicht immer zur selben Zeit Essen ging, oft auch gar nicht, aber ich hoffte natürlich, dass ich sehen würde. Unter dem Vorwand, dass sie mir eine bestimmte Funktion in Word zeigen möge, wollte ich sie in mein Büro locken, um sie dort zu fragen, ob ich sie in ein Restaurant ausführen dürfe. Auf dem Rückweg würde ich ihr dann eröffnen, dass ich ihr einen Rotwein aus Italien mitgebracht habe, und ob sie noch Lust habe, auf einen Schlummertrunk
in meine Wohnung zu kommen. Und dann ... mal sehen! Das war mein Plan, doch er scheiterte zunächst daran, dass ich sie nicht sah. Ich wollte sie aber auch nicht in ihrem Büro anrufen, es sollte eher so aussehen, dass ich gerade darauf gekommen sein würde, sie um Hilfe zu bitten, als ich sie gesehen haben würde.
Als ich sie am nächsten Tag auch nicht in der Kantine sah, entschied ich mich, sie doch anzurufen. Doch dreimal erwischte ich nur ihren Anrufbeantworter, aber darauf sprechen wollte ich nicht - nicht, dass sie es irgendwie falsch auffasste; ich wollte lieber direkt mit ihr sprechen. Am folgenden Tag ging ich mit einer Kollegin (verheiratet, zwei Kinder, also keine Absichten) in die Kantine. Wir hatten uns schon an einen Tisch gesetzt, als ich im Augenwinkel Anna zu entdecken glaubte. Zwei Kantinengäste versperrten
mir den direkten Blick, weshalb ich immer mal wieder zur Seite sah, um mich zu vergewissern, dass sie es war. Meine Kollegin sah etwas irritiert auch in diese Richtung, als wenn es dort etwas zu sehen gäbe, aber sie sprach mich nicht auf meine nervösen Seitenblicke an. Nach dem Essen bat ich sie, noch einen Augenblick zu warten und ging zu Anna hinüber. Sie saß mit ihrer Kollegenclique zusammen, und als sie mich erblickte, setzte sie ihr strahlendstes Lächeln auf. Ihre Kollegen, die ich zum Teil auch kannte,
grüßten mich, doch ich grüßte nur halbherzig zurück.
Ich war ganz auf Anna fixiert. Ich stellte ihr meine Büro-und-Word-Frage.
Ich war sicher, dass sie in Kürze in meinem Büro erscheinen würde. Doch sie sagte: "Ist es sehr dringend? Weißt du, ich habe im Moment wirklich sehr viel zu tun. Reicht es, wenn ich Anfang nächster Woche komme?" Ich muss sie völlig entgeistert angesehen haben, bevor ich stammelte: "Nee, ist nicht so dringend. Komm ... komm einfach vorbei, wenn's dir passt!" Konsterniert zog ich von dannen und sah mich nach ein paar Metern noch einmal ungläubig nach ihr um. Sie lächelte mich an, verzog ihren
Mund kurz zu einem traurigen Gesicht, so als wollte sie sagen: "Tut mir Leid, Junge!"
War ich vorher ziemlich sicher gewesen, dass sie ähnlich in mich verliebt war wie ich in sie, so hatte ich nun erhebliche Zweifel. Hätte sie nicht jederzeit, selbst wenn sie viel zu tun hatte, Zeit für ein kleines Bürogespräch mit mir finden können, wenn sie denn in mich verliebt gewesen wäre? Ich glaubte schon, und deswegen kamen nun alle die Zweifel wieder hoch, die ich vor dem Urlaub so erfolgreich bekämpft hatte und über die unsere letzten Begegnungen erhaben schienen. Gut, es war fast ausschließlich ich,
der auf sie zugegangen war, doch das führte ich auf ihre Schüchternheit zurück, für die es trotz ihres offenen Wesens Anzeichen gab. War nicht auch in ihrem strahlenden, beinahe übertriebenen Lächeln eine gehörige Portion Unsicherheit zu erkennen? Ich fand schon. Doch das machte sie mir nur noch sympathischer.
Das Wochenende verbrachte ich zwischen Hoffen und Bangen. Vielleicht hatte sie ja wirklich enorm viel zu tun und wollte sich mir in aller Ruhe widmen.
An solche Strohhalme klammerte ich mich. Dann kam Anna am Montag vorbei. Das Word-Problem war schnell gelöst, anschließend plauderten wir über private Dinge: Meinen Italienurlaub, Bücher, Musik ... Nach etwa einer halben Stunde sagte ich zu ihr: "Es ist echt schön, mit dir zu reden. Sollen wir das Ganze mal an einem der nächsten Abende fortsetzen, in einer Kneipe oder einem Restaurant? Ich lad' dich ein!" - "Oh, tut mir Leid", entgegnete sie sofort, und das Lächeln schwand aus ihrem Gesicht.
"Aber ich nehme keine Geschenke an, nicht einmal von meinen Eltern und meinem Bruder!" Wieder war ich überrascht, doch ich fing mich schnell: "Du willst also autonom bleiben", sagte ich mit einem unsicheren Lächeln, und sie stimmte mir zu, allerdings ohne Überzeugungskraft. Ich sagte ihr noch, dass das Angebot stehe und sie jederzeit darauf zurückkommen könne. Wir unterhielten uns weiter und sie kam auf einen jungen Mann aus ihrer Kollegenclique zu sprechen. Der habe sich mehrere Tage frei
genommen, um sich ganz zurück zu ziehen und mit der Welt ins Reine zu kommen. Sie habe schon Angst gehabt, dass er sich etwas antun wolle, doch er habe sie beruhigt. "So schlimm?", fragte ich und fügte gleich an: "Na, hoffentlich geht's ihm bald wieder besser!" - "Nicht, solange ich hier arbeite", sagte sie mit einer Mischung aus Stolz und Mitleid. Mir war zwar nicht entgangen, dass ihr Kollege Interesse an Anna gezeigt hatte, doch ich war überrascht, dass es zwischen ihnen quasi
schon zum Showdown gekommen war. Ich griff das Thema auf, erzählte, dass ich mich schon häufiger verliebt hatte, ohne auf Gegenliebe zu stoßen und dass ich mit einigen dieser Frauen heute gut befreundet sei. Sie habe so etwas auch schon erlebt, aber sie verliebe sich nur selten. Nach der Trennung von ihrem letzten Freund, mit dem sie fast zwei Jahre zusammen gewesen war, habe sie ebenso lange gebraucht, diese Beziehung zu überwinden. "Und zurzeit?", fragte ich, während es mir immer wärmer ums Herz wurde.
Ich musste es jetzt wissen, egal in welche Richtung es ging, aber alles war besser, als weiter mit der Ungewissheit zu leben, immer zwischen Hoffen und Bangen. Es sollte nun ein Ende haben, deshalb hatte ich diese Frage riskiert. "Es gibt niemanden", sagte sie knapp, und nachdem sie meinen intensiven Blick bemerkt hatte, fügte sie sehr bestimmt hinzu: "Lass uns bitte das Thema wechseln. Es gibt niemanden, für den ich mich interessiere, okay?" Okay, das war's dann! Wir plauderten noch ein wenig
weiter, weil ich nicht wollte, dass sie von mir dachte, ich würde mich nur mit ihr unterhalten, weil ich etwas von ihr wollte. Zum Abschied lächelte sie mir wieder herzzerreißend zu, als wäre nichts gewesen, drehte sich extra noch einmal zu mir um, bevor sie die Tür schloss. Aus dieser Frau sollte man nun schlau werden!
Die Tür zu einer Zukunft mit ihr war nun genauso verschlossen wie meine Wohnungstür nach der Rückkehr aus Italien. Schade! Ich hätte sie beide lieber offen gesehen.
Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
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