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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Eine kleine, aber wahre Geschichte

© Stephanie Maharaj


Es war zum Verrücktwerden! Wo war nur dieser Schlüssel? Ich hatte den halben Nachmittag damit verbracht, danach zu suchen. Er konnte überall sein. Und ich suchte überall. Jedes Blatt Papier hob ich hoch, durchwühlte das Durcheinander auf dem großen Esstisch - aber nein, da konnte er ja gar nicht sein. Zu hoch für Leonie. Ich überlegte. Schließlich krabbelte ich auf allen Vieren durch die Wohnung. Ich schaute unter jedes Möbelstück, hinter jeden Blumentopf, wühlte immer wieder durch alle Klamotten, die verstreut im Zimmer herum lagen, schob das Spielzeug beiseite. Nichts. Ordnung zu halten ist nicht meine Stärke, doch seit wir zu zweit sind, komme ich gegen das Chaos gar nicht mehr an. Wenigstens meine Tochter Leonie stört sich nicht daran.
Sie krabbelte fröhlich quietschend hinter mir her und amüsierte sich köstlich darüber, dass ihre Mutter auf allen Vieren leise vor sich hin fluchend durch das Zimmer kroch. Ich wagte nicht, Leonie zu schimpfen, obwohl mir danach zumute war. Schließlich konnte Leonie nichts dafür. Ich war es doch selbst schuld, wenn ich dem Kind immer wieder den Schlüsselbund zum Spielen gab. Am Ende ärgerte ich mich jedes Mal über diese Dummheit. Leonie liebt den Schlüsselbund. Sie liebt das Geklimper und sie liebt es, darauf herum zu kauen. Und sie liebt es, ihn verschwinden zu lassen. Diesmal hatte sie wirklich ganze Arbeit geleistet. An dem Schlüsselbund baumeln ein halbes Dutzend Schüssel und ein Delfin aus Plexiglas, in dem in hellblauer Flüssigkeit ein kleines Segelboot schaukelt. Leonie hatte mit ihren 10 Monaten längst begriffen, dass der Schlüssel etwas sehr Wichtiges war. Erst wurde vor jedem Weggehen lange danach gesucht, denn ohne ihn gingen wir ja nie vor die Tür. Und dann nahmen wir ihn überall hin mit. Das machte ihn besonders spannend.
Doch nun war er weg. Im Grunde war das nichts Außergewöhnliches. Die Suche danach war ein fester Bestandteil unseres Alltags.
Doch wenn ich ihn selbst verschwinden lasse, dauert die Suche nicht sehr lang. Ich muss mich nur daran erinnern, wie ich das letzte Mal nach Hause gekommen bin. Oder besser, womit. Kam ich vom Supermarkt, bepackt mit Rucksack und Tüten voller Lebensmittel, ließ ich den Schlüssel meist irgendwo auf dem Weg zur Küche fallen. Hatte ich die Post rauf geholt, landete er irgendwo zwischen Eingangstür und Schreibtisch. Klingelte beim Hereinkommen das Telefon, fand ich den Schlüssel später mit großer Wahrscheinlichkeit zwischen den Sofakissen. Wenn der Schlüsselbund auch keinen festen Aufenthaltsort hatte - dabei nehme ich mir nach jeder Suche vor, endlich ein Schlüsselbrett anzuschaffen - so habe ich doch gute Chancen ihn zu finden, wenn ich mich daran erinnere, auf welche Weise ich die Wohnung zuletzt betreten habe.
Doch Leonie war Weltmeisterin im Verstecken. Seit sich das Mädchen auf allen Vieren fortbewegen konnte, wurde jeder Winkel und jeder erreichbare Gegenstand in der Wohnung mit Wonne untersucht. An diesem Morgen hatte sie den Schlüsselbund auf ihre Entdeckungsreise mitgenommen. - Und seither war er wie vom Erdboden verschluckt. Nie wieder würde ich Leonie den Schlüssel zum Spielen geben. Nie wieder! Und wenn sie noch so bettelte. "Sag mir, wo du den Schlüssel versteckt hast, Leonie. Wir wollen doch einkaufen gehen. Und danach auf den Spielplatz. Du willst doch bestimmt auch raus. Los, sag schon. Wo ist er?" Ich wiederholte die Frage immer wieder. Ich bin überzeugt davon, dass Babies viel mehr verstehen, als die meisten Leute ihnen zutrauen. Es würde mir nie einfallen, mit meiner Tochter in dieser albernen Babysprache zu sprechen. Ich rede immer ganz normal mit ihr, eben wie mit jemandem, der alles versteht. - Leonie konnte noch nicht sprechen, oder jedenfalls die Laute noch nicht so formen, dass man verstehen konnte, was sie damit meinte, aber ich sehe den großen klugen Augen meiner Tochter an, dass sie aufmerksam zuhört und sehr gut begreift, was ich sage. - Wenn sie will. -
Doch diesmal war Leonie nicht in der Stimmung zu verstehen. Sie dachte nicht daran, das Versteck preis zu geben. Sie saß da und strahlte mich an, ruderte vergnügt mit den kleinen Armen und quiekte: "Mamamama." Als wollte sie mich anfeuern, weiter zu suchen und, so wie sie selbst, weiter auf allen Vieren durch das Zimmer zu krabbeln. Das war ein feines Spiel. Für Leonie. Ich hatte es nach einer Weile aufgegeben. Gut, dann gingen wir eben am nächsten Tag einkaufen. Dann gab es eben keinen Spaziergang auf den Spielplatz, kein Eis in der Eisdiele und überhaupt eben gar nichts. Wir würden den Nachmittag Zuhause verbringen.
Ich habe nämlich keinen Ersatzschlüssel. Den einzigen, den es gibt, hat die Nachbarin. - Für alle Fälle, wenn mal irgendwas ist ... Doch die Nachbarin war an diesem Tag nicht da.
Inzwischen stattete die Abendsonne uns einen Besuch ab. Sie schien freundlich durch die hellen Gardinen und gab dem Hinterhofzimmer diese eine Stunde am Tag ein freundliches Gesicht. Ich liebe diese Abendstimmung und meine Laune besserte sich zusehends. Es war Zeit, sich um das Abendessen zu kümmern. Ich ging in die Küche. Die Küche ist klein, aber gerade groß genug, dass in der Ecke ein kleiner Tisch und zwei Stühle Platz haben. Ich mag Küchen, in den man sitzen kann. Ich durchsuchte den Obstkorb, der an einer Kette von der Decke hängt und fand eine Banane. Ich nahm sie heraus und zerquetschte sie mit einer Gabel zu Bananenbrei. Leonie war hinter mir her gekrabbelt und zog sich nun an meinem Hosenbein hoch. Sie hatte wieder etwas gefunden, woran sie knabbern konnte. Eine große Haarspange steckte in ihrer Hand und von dort aus wanderte sie in den kleinen Mund.
"Lass die nicht auch noch verschwinden", mahnte ich und da fiel mir der Schlüsselbund wieder ein. Ich wollte es ein letztes Mal versuchen: "Hey, du musst mir unbedingt zeigen, wo du den Schlüssel versteckt hast. Wir können sonst nicht weggehen. Ohne den Schlüssel kommen wir ja nicht mehr in die Wohnung rein. Du willst doch sicher auch nicht für immer und ewig hier herum hocken, oder? Also, wo ist er?"
"Dadadada.", antwortete Leonie.
"Dadada versteh ich nicht. Ich weiß nicht, was du meinst. Du musst mir schon zeigen, wo du ihn versteckt hast."
Leonie ging in die Knie und schob die Haarspange unter den Kühlschrank.
"Oh nein, Leonie, da gehört die Spange nicht hin!" Ich bückte mich und tastete unter dem Kühlschrank nach der Haarspange. Als meine Fingerspitzen die Spange berührten, hörte ich einen leisen metallenen Laut. Ich bückte mich und schielte unter den Kühlschrank. Da war er! Neben der Spange lag der Schlüsselbund. - Unter dem Kühlschrank! Auf die Idee, dort nachzusehen, wäre ich von alleine nie gekommen. Ich blickte in die leuchtenden Augen meiner Tochter, die mich verschmitzt anlächelten.
"Morgen, das verspreche ich dir, morgen bekommst du deinen eigenen Schlüsselbund", sagte ich und nahm mir fest vor, für Leonie einen Schlüsselbund aus alten Schlüsseln zu machen, die ich sicher noch irgendwo in meinen Schubladen aufbewahrte und die kein Mensch mehr brauchte. Einen Schlüsselbund, an dem ganz viel dran hing und der genauso wichtig aussah wie mein eigener.



Eingereicht am 19. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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