Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis
www.online-roman.de
Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Man trifft sich immer zwei Mal im Leben
© Kerstin Friedrich
Es regnete in Strömen, als Laura das Büro verließ. Sie ärgerte sich, dass sie keinen Regenschirm dabei hatte. Doch zum Ärgern blieb nicht viel Zeit, denn sie musste unbedingt die 5.30 Uhr Bahn schaffen. Sie hatte schließlich Alex versprochen, zu seiner Schulaufführung zu kommen. Lächelnd erinnerte sie sich an seine zahlreichen Proben vor dem heimischen Spiegel. Ihr kleiner Robin Hood nahm seine Rolle sehr ernst. Noch nie zuvor hatte Laura ihren Sohn so nervös gesehen. Die ohrenbetäubende Sirene eines vorbeifahrenden
Krankenwagens holte sie zurück in die nasskalte Realität dieses grauen Novembertages.
Zügigen Schrittes lief sie die lärmende Hauptstraße entlang. Das laute Hupen der gereizten Autofahrer und die allgemeine Hektik zu dieser Stunde bereiteten ihr Kopfschmerzen. Was hätte sie jetzt für ein heißes Bad und ein wenig Ruhe gegeben. Stattdessen kämpfte sich Laura durch die Gänge der dunklen U-Bahnstation. Wie ein aufgeschreckter Haufen Ameisen liefen die Passanten in alle Richtungen. Als sie die Lautsprecheransage der Bahn vernahm, war sie noch nicht auf dem Bahnsteig. Von Panik erfüllt, rannte sie die
Stufen hinunter. Die aussteigenden Fahrgäste strömten ihr entgegen. Sie hatte das Gefühl, auf der Stelle zu gehen. Doch in letzter Minute erreichte sie die Tür des letzten Wagons. Hinter ihr schlossen die Türen.
Bis zum Hals spürte sie ihren Herzschlag. Erst jetzt nahm sie ihre vom Regen durchnässte Kleidung wahr. Ein unregelmäßiges Muster dunkler Spritzer säumte ihre Hosenbeine. Erleichtert erspähte Laura einen Sitzplatz. 25 Minuten entspannter U-Bahnfahrt lagen vor ihr. Ihre Augen wanderten die Sitzreihen entlang. Zwei kichernde Teenager, eine junge Mutter mit ihrem zufrieden glucksenden Baby, ein Liebespaar, zwei tratschende Hausfrauen, die sich angeregt über eine vermeintliche gemeinsame Bekannte unterhielten. Daneben
musterte sie einen Rentner, der sich, sichtlich vom Gespräch seiner Nachbarinnen gestört, in seine zerknitterte Zeitung vertiefte. Amüsiert beobachtete sie, wie der alte Mann gereizt mit den Augen rollte und tief durchatmete. Für einen Augenblick fesselte ein Punk mit schwarz lackierten Fingernägeln ihre Aufmerksamkeit, bevor ihr Blick weiter die Bank entlang schweifte.
Schließlich blieben ihre Augen an einem jungen Mann Mitte 20 haften. Er las in einem Buch, tief in seinem langen Mantel vergraben. Irgendetwas an ihm zog ihre volle Aufmerksamkeit in seinen Bann. Sie wusste nicht, was es war. Sie hatte das Gefühl, den Unbekannten schon einmal gesehen zu haben. Sie ging gedanklich die Gesichter der gesamten Nachbarschaft durch. Doch Laura konnte das Gesicht keiner Adresse zuordnen. Ihren starrenden Blick spürend, schaute der junge Fahrgast auf. Diese Augen! Seine hellblauen, kühlen
Pupillen bildeten einen scharfen Kontrast zu seinem dunkelbraunen, kurz geschnittenen Haar. Sein abgeklärter Blick wollte nicht zu seinem sommersprossigen jungen Gesicht passen. Jetzt wusste sie genau, dass sie den Fremden nicht zum ersten Mal gesehen hatte. Unsicher wich Laura seinem Blick aus. Nervös kramte sie in ihrer Handtasche, auf der Suche nach Ablenkung. Ein plötzliches Gefühl des Unbehagens überfiel sie. Sie merkte, wie sich ihr Pulsschlag erhöhte, wie sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten.
Schließlich fand sie eine Zeitschrift. Übereifrig versuchte sie sich in einen Artikel zu vertiefen, doch ihre Augen wollten ihrem Willen nach Ablenkung nicht Folge leisten. Wieder und wieder wanderten sie zu dem Unbekannten. Sichtlich verunsichert von den durchdringenden Blicken, schaute der Blauäugige wieder auf. Er schien das auffällige Interesse seines Gegenübers nicht zu verstehen. Wieder wanderte Lauras Blick nervös in das Heft, das sie in ihren feuchten Händen hielt. Sie konnte nicht verstehen, warum der
sympathisch wirkende Unbekannte dieses Gefühl des Unbehagens in ihr auslöste.
Sie sehnte sich in diesem Moment nach einer Zigarette. Seit mehr als zwei Jahren hatte sie nicht eine einzige Schachtel geöffnet. Nun aber, beim Anblick dieses scheinbar fremden Fahrgastes, hatte sie das starke Bedürfnis, sich mit einer Zigarette zu beruhigen. Wieder verließen ihre Augen das Magazin und suchten diese mysteriösen Augen, von denen sie sich einfach nicht abwenden konnte.
Wie ein Blitz kehrten die Erinnerungen zurück, als sich die Blicke zum dritten Mal trafen. Bilder erschienen vor Lauras innerem Auge. Dunkelheit, eine regennasse Straße und dann der dumpfe Knall. Es war doch schon so lange her. Sie hatte diese schreckliche Nacht längst verdrängt. Wieso führte das Schicksal Laura und den Jungen jetzt wieder zusammen? Wie oft war sie damals schweißgebadet mitten in der Nacht erwacht. Wie viele Albträume hatten ihr zu jener Zeit den Schlaf geraubt?
Sieben Jahre waren seit jener Nacht vergangen. Sie erinnerte sich an den furchtbaren Streit mit Marc. Der Abend hatte so romantisch begonnen. Ihr Verlobter hatte sie mit einem Kurzurlaub in den Bergen überrascht. Die kleine abgelegene Hütte, fernab von Stress und Hektik, war wirklich der ideale Ort, um endlich wieder gemeinsam Zeit zu verbringen. Das junge Paar saß bei einer Flasche Rotwein vor dem lodernden Kaminfeuer, Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Laura konnte sich nicht an den Grund für das plötzliche
Wortgefecht erinnern. Doch den wutentbrannten Ausdruck in den Augen ihres Freundes sah sie auch jetzt noch. Immer lauter stritten sie, immer aggressiver und verletzender wurden Marcs Vorwürfe. Schließlich schnappte sie sich die Autoschlüssel und rannte aus dem Haus. "Hau doch ab!" hatte sie Marc noch rufen hören, bevor sie stolpernd und vom Regen durchtränkt das Auto erreichte. Sie erinnerte sich daran, wie sie am Steuer saß, Tränen liefen unaufhörlich ihre Wangen hinunter. Es dauerte einige Minuten,
bis Laura schließlich den Motor startete. Sie hatte gehofft, dass Marc sie zurück ins Haus holen würde. Doch das Warten schien vergebens. Der Wagen schaukelte die Ausfahrt hinauf. Erst in diesem Moment realisierte Laura die betäubende Wirkung des Rotweins. Ihre Erinnerungen an jenen Abend waren verschwommen, so verschwommen wie ihre getrübte Wahrnehmung, als sie die verlassene Serpentinenstrasse entlang fuhr. Tränen, Alkohol, Wut und der immer stärker werdende Regen verschleierten ihr die Sicht. Und dann plötzlich
der Schatten auf der Straße und der darauf folgende dumpfe Knall.
Sie stellte den Motor aus. Es war unheimlich still. Nur der Regen plätscherte unaufhörlich gegen das Auto. Die Scheinwerfer starrten in die Dunkelheit, rechts und links der Straße nichts als Wald und Feld. Sie fragte sich, was geschehen war. Hatte sie ein Reh angefahren? Lauras Hände zitterten. Sie krallte sich an das Lenkrad und schaute gebannt in die düstere Leere. Eine Mischung aus Angst und Ungewissheit stieg in ihr auf.
Minuten waren vergangen, bevor sie sich aus dem Auto wagte. Das Adrenalin verdrängte den Alkohol im Blut. Sie hatte das Gefühl, hellwach zu sein. Am Hals spürte sie ihren lauten Herzschlag. Ein kurzer, gellender Schrei folgte der grausamen Entdeckung. Zuerst sah sie im Licht der Scheinwerfer die Blutlache, die sich mit dem schmutzigen Regenwasser vermischte. Dann das Bein, welches in ungewöhnlicher Weise gekrümmt völlig regungslos im Matsch lag. Der Junge schaute sie aus seinen kühlen, leeren Augen an. Er sagte
nichts. Er lag einfach da. "Hallo! Hörst du mich?", schrie Laura, "Kannst du mich verstehen? So sag doch was!" Keine Reaktion. Sie traute sich nicht, den Verletzten zu berühren. Sein Körper war seltsam verwunden und sie wagte nicht, seine Position zu verändern. Aus einer Platzwunde an der Schläfe des schmalen Kopfes floss ein schmales rotes Rinnsal. Laura schluchzte. Sie betrachtete den Jungen. Er wirkte so zart und zerbrechlich. Seine Hände waren schmal, sein Gesicht blass und sein Blick
emotionslos. Er war doch noch ein Kind. Was hatte sie getan? Sie schaute sich um. Es war kein Haus, kein Mensch in Sicht. Sie hockte über dem unbekannten Jungen, versuchte seinen Puls zu finden. Ihre zitternden Fingerspitzen spürten einen schwachen Pulsschlag an seinem Hals. Doch noch immer zeigte er keine Reaktion. Stumm und starr lag er auf dem frostigen Boden. Der Regen hatte sich in spitze, kleine Graupelkörnchen verwandelt. Lauras hektischer Atem kristallisierte in der Luft. Sie fühlte sich taub und hilflos.
Ein plötzliches Gefühl von Panik stieg in ihr auf. Sie rannte zum Auto, setzte sich hinter das Steuer, stieg wieder aus und betrachtete erneut den Jungen. Sie lief zurück, holte eine Decke aus dem Kofferraum und legte sie über seinen regungslosen Körper. Dann fuhr sie davon. Ihre Erinnerungen an die Fahrt bis zum nächsten Ort waren verblasst. Doch es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sie die Lichter einer Kleinstadt sah. An einer Telefonzelle hielt sie an und wählte den Notruf. "Bitte, bitte schicken Sie
schnell einen Notarzt. Ein Junge ist von einem Auto angefahren worden. Er braucht Hilfe!", stotterte sie mit tränenerstickter Stimme. Sie gab der ernsten, emotionslosen Frauenstimme am anderen Ende der Leitung eine Beschreibung der Unfallstelle. Dann legte sie auf. Als sie die stickige, enge Telefonzelle verließ, musste sie sich übergeben.
Als sie den Jungen jetzt in der U-Bahn sitzen sah, war sie beinahe erleichtert. Offensichtlich konnte man ihn retten. Er saß ihr direkt gegenüber - lebendig und gesund. Nun wirkte er nicht mehr so zart und zerbrechlich. Seine Handgelenke waren kräftig, seine männlichen Hände von Adern durchzogen. Sie hatte damals nicht gewusst, wie ernst sein Zustand war, wie schlimm die Verletzungen waren. In den Wochen nach dem Unfall hatte sie regelmäßig Unfallberichte in der Zeitung gelesen. Sogar die Todesanzeigen studierte
sie. Mit jedem Tag, an dem sie keine Meldung über Fahrerflucht oder einem Unfall mit Todesfolge las, schwand ihr Schuldgefühl. Sie redete sich ein, alles Notwendige für den Jungen getan zu haben. Sie redete sich ein, dass es niemanden genützt hätte, einen Schuldigen zu finden. Sie hatte nie über diesen Vorfall geredet. Niemand hätte sie verstanden. Jetzt, in diesem Moment, hatte sie das Gefühl mit diesem düsteren Kapitel in ihrer Vergangenheit abschließen zu können. Jetzt konnte sie mit ihrem schlechten Gewissen
Frieden schließen. Sie lächelte und legte die Zeitung beiseite, in der sie nicht las. Sie freute sich jetzt auf die Theatervorstellung ihres Sohnes. Noch zwei Haltestellen lagen vor ihr. Der junge Mann packte sein Buch in die Tasche. Er knöpfte seinen Mantel zu und stand auf. Als die U-Bahn bremste, humpelte er Richtung Tür. Erst jetzt bemerkte Laura seinen sonderbaren wippenden Gang. Sein linkes Bein zog er hinter sich her.
Eingereicht am 17. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.