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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Neues Leben

© Dieter Löffler


Licht und Schatten zogen an mir vorbei. Es wurde hell und heller, dann langsam wieder dunkel und bald wieder hell. Schon seit fünfzehn Minuten ging das so, während das gleichmäßige Rollen der Räder seinen Ton dazu gab. Die Straßenlaternen standen unbeteiligt zwischen der Dunkelheit, wie sie es immer taten. Ich selbst war an einem ganz anderen Ort und bekam nur wie durch Schleier mit von dem, was um mich herum war. Es war, als ob sich die Pedale von allein bewegten. In völliger Stille schwebte ich den Radweg entlang, während der Mond schon seit geraumer Zeit die Himmelsmitte einnahm.
Ich sah kaum etwas von diesem behaglichen Nachtbild und lebte ganz in Gedanken und Gefühl. Mir war, als ob das Leben einen völlig neuen Raum betreten hätte, einen offenen und unendlichen Raum. Ich spürte die Bewegung und war doch nicht in der Lage den Weg, der sich auftat, zu begreifen.
An diesem Abend erfuhr ich, dass ich Vater werden würde. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich es genau erfuhr. Ich kann mich nicht mehr erinnern. Mir kommt es fast so vor, als ob dieses Erfahren aus meinem eigenen Inneren ausging.
Auf der Welt kommt es ja jede Sekunde vor, dass ein neues Leben sich ankündigt. Doch was dieses eine neue Leben betraf, so war es mir schon jetzt wichtiger, als alle Welt. Ich fühlte mich unsagbar reich. Was sich in mir regte, war eine so gewaltige Bewegung, dass ich meinte, die Menschheit würde neu geboren. Alles ist möglich. So schien es mir in diesem Moment. Der Tag, das Gestern, die Nacht, alles war verschwunden. Es war, als ob ich selbst neu geboren werden würde. Es war, wie wenn sich ein Traum erfüllt, von dem ich gar nicht gewusst hatte, dass ich ihn träumte. Eine Explosion hatte das Weltall neu geschaffen.
Was dann sieben Monate und zwei Wochen später vor sich ging, war ebenfalls eine Explosion. Nachts um eins wurde Maria plötzlich von einem Ruck erschüttert. Sie stöhnte laut auf. Wie aus dem Nichts heraus begannen die Wehen. Nicht so wie es die Hebamme beschrieb, ganz langsam, alle halbe Stunde allmählich steigernd. Nein, der Sturm ging unmittelbar von Null auf Hundert los. Die gewaltige Kraft, die in Maria am Werke war, zwang sie in die Knie. Sie musste auf den Boden sinken, die Wehen kamen alle fünf Minuten. Sie spülten sich mit gewaltiger Kraft nach außen und endeten jeweils in einem Schrei. Ich begann gleich damit, alles vorzubereiten und in die Wege zu leiten. Als ich begriff, was nun passierte, holte ich den Schlauch in das Schlafzimmer und ließ das Wasser in das Geburtsbecken einlaufen. Wir hatten dieses Becken von einer Hebamme ausgeliehen und nun stand es schon seit zehn Tagen im Schlafzimmer. Als ich zum ersten Mal von diesem mobilen Becken hörte, war mir klar, dass dies genau das Richtige war für unsere Geburt. Es hatte eine Heizung und war geräumiger als eine Badewanne. So stand dieses runde Ding im Schlafzimmer und wurde nun endlich nützlich. In diesem Becken sollte Maria die ganzen nächsten Stunden verbringen. Sobald alle Vorbereitungen dazu getroffen waren, rief ich die Hebamme an. Sie versprach, gleich zu kommen. Maria stieg in das Becken und stand auf allen Vieren im Wasser. Es war wirklich eine Erleichterung für sie, war wie eine schützende Hülle, die Geborgenheit gab. Sie hatte noch nie erlebt, was nun bevorstand. In dem Vorbereitungskurs, den wir beide besuchten, konnten sie zwar einiges erfahren, doch so etwas lässt sich wohl kaum durch Vorübungen richtig lernen. "Loslassen und geschehen lassen", hieß es in der Vorbereitung immer wieder. Doch nun war die Übungszeit vorbei, und Maria befand sich mitten im Sturm. Nun lag es an ihr, das Kind zu schaukeln.
Seit sie im Wasserbecken war, gelang es ihr mehr, sich der Kraft, die sich aus ihrem Schoß ausbreitete, hinzugeben. Das Wasser trug sie und ließ sie entspannen. Um sich selbst zu unterstützen, fing sie an, tiefe Vokale zu tönen. Dann traf die Hebamme ein. Ich hatte inzwischen das Schlafzimmer weiter vorbereitet. Zwei Kerzen waren angezündet, das übrige Licht wurde gelöscht. Draußen war es kalt, es war Mitte Januar, und ich drehte die Heizung ganz auf. Dann holte ich Handtücher. Als dann alles ziemlich ruhig war, wollte ich ein Duftlicht anzünden. Maria waren in diesem Moment aber alle Düfte zuwider, und so blieb es bei der reinen Luft. Die Hebamme fand alles gut vorbereitet und wunderte sich, dass es mit den Wehen schon so heftig zuging. Sie meinte, dass schon einiges geschafft sei.
Nachdem nun alles und jeder an seinem Platz war, legte sich eine Stille über das Geschehen. Es war eine besondere Stimmung, die erfüllt war von einer unbeschreiblichen Gegenwart. Es war, wie wenn uns Engel in einen Raum jenseits dieser Welt tragen würden. Alles war ganz ruhig. Was passierte, passierte in einfachem und dem reinem So-Sein. Vor Maria lag zwar noch ein gutes Stück Weg, aber jede Strecke schien ohne Bedeutung. Es war, als ob sich Zeit und Raum auflösen würden. Die heftigen Wehen, das Stöhnen und Tönen, das aus Maria drang, widersprachen der Stille nicht. Es gab nichts außerhalb von diesem Jetzt. Die Kraft ging durch Maria und sie kam aus Maria. Sie erfüllte den ganzen Raum. Es gab nur dies Eine. Und dieses war in den Wehen, genauso wie in der Stille, war in meiner Frau, genauso wie in dem Kind. Auch die Hebamme und ich wurden davon berührt. Ich saß neben dem Becken und war still. Es gab nichts zu tun, ich sollte nur da sein. Doch auch ich ging innerlich einen Weg. Seit ich so am Becken saß und die Hand meiner Frau hielt, tauchte auch ich in ein Wasser ein. Es war das Urmeer, das mich umgab und Urzeit in der ich mich bewegte. Ich kann es schlecht beschreiben. Es war, als wären wir alle Urtiere geworden. Nach außen hin war ich völlig ruhig, doch in meinem Inneren bewegten sich riesige Wellen. Es war keine Spaltung in mir, nicht im Geringsten. Ich war stiller Zeuge und gleichzeitig tosende Welle.
Als Maria dann bald vier Stunden im Wasserbecken war, veränderte sich der Raum allmählich. Die Tiefe und die Unmittelbarkeit blieben wie sie waren, doch es kam etwas dazu, was sich bisher noch nicht gezeigt hatte. Die Geburt geriet scheinbar ins Stocken, Marias Kräfte ließen irgendwie nach. Es wurde für sie immer mühsamer, weiter zu machen. Es war an der Zeit, das Kind auf das letzte Stück des Weges, hinein in die neue Welt, zu bringen. Doch dieses zog sich und zog sich. Es ging nicht voran. Die Wehen hatten viel Kraft gekostet. Es schien, als wäre nicht mehr genug davon da. Nun tauchte etwas Bedrohliches auf. In der friedlichen Stille gab es plötzlich Angst. So war es zumindest für mich. Es gab aber nun kein Zurück mehr, es gab kein Ausweichen oder Davonlaufen. Vorwärts, immer vorwärts, musste es gehen. Und da stand er nun plötzlich. Da stand nun der Tod mitten im Raum. Zu der Geburt des neuen Lebens hatte sich der Tod gesellt. Ich bekam wirklich Angst, blieb aber weiterhin still. Es ging nicht um mich, ich war nur tatenloser Helfer und Zuschauer. So setzte ich mich still, und ganz für mich allein, mit dem Tod auseinander. Ganz deutlich stand er vor mir. Es wollte nicht mir an den Kragen. Nein, er hatte es auf Maria abgesehen.
Die Geburt ging voran ohne Pause und doch gab es dabei kein Vorwärts mehr.
Um ins Krankenhaus zu fahren, war es zu spät. Die Hebamme meinte zu Maria: "Du musst da jetzt durch, etwas anderes gibt es nicht." Sie blieb dabei aber ganz ruhig und wirkte sicher. Ich aber konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Maria das noch lange so aushalten würde.
Maria kämpfte tapfer weiter, und die Hebamme drängte sie, nicht nachzulassen. Ich wusste nicht, ob wirklich Gefahr besteht, oder ob dies alles ganz "normal" war. Doch ich konnte ja schlecht fragen. Ich wollte Maria keinesfalls belasten. Um bei ihr bleiben zu können, musste ich also da bleiben. Ich musste dem Tod ins Auge blicken. Alles Denken und jegliche Vernunft waren hier machtlos. Es könnte sein, dass Maria sterben musste. Ich spürte meine Liebe zu ihr, und ich spürte auch meine Liebe zu dem Kind. Ich betete leise und wendete mich an Gott. Während ich nach außen weiterhin still blieb, kämpfte ich innerlich mit Gott. Es hatte keinen Sinn, ich konnte nicht gewinnen. Ich war gezwungen den Tod zu akzeptieren. Es gab kein Entrinnen, ich musste kapitulieren. Ich musste bereit sein, alles anzunehmen, wie es auch kommen würde. Mir blieb kein anderer Weg. Also stimmte ich zu. Ich willigte ein, auch den Tod anzunehmen. Ich musste mitten durch alles hindurch. Leben, Geburt und Sterben, alles war zur gleichen Zeit da. Unbegreiflich, aber wahr.
Ich saß neben dem Geburtsbecken und sah, wie Maria ihren Kampf führte. Jeder Schrei und jedes Mühen galten dem Kind. Sie hatte sich selbst vergessen und kämpfte nur um das Leben des Kindes. Vielleicht war es da ganz gut, dass auch ich meinen Kampf zu kämpfen hatte, und dass mein Kampf Maria galt. Ich hatte nur sie vor Augen, das Kind sah ich nicht in Gefahr.
Ich weiß nicht, ob Maria eine Wahl hatte, ob sie etwas zu entscheiden hatte.
Ich denke, sie tat, was sie tat. Sie tat, was in ihrer Natur lag, zu leben für das Kind. Und wenn es sein müsste, auch für es zu sterben.
Die Wehen dauerten nun schon fünf Stunden, und sie waren von Anfang an stark. Die Pausen dazwischen waren kurz. Es blieb kaum Zeit zum Ausruhen.
Jede Geburt ist unterschiedlich, wie auch jedes Leben. Dieses hier musste ein stürmisches sein. Maria musste das Kind vorwärts drängen. Sie musste sich öffnen und gleichzeitig pressen. Das Kind wollte nicht heraus. Maria redete ihm zu, soweit sie dazu noch in der Lage war, neben dem Pressen.
Der Tod blieb für mich weiterhin sichtbar, nur hatte ich mich schon etwas an ihn gewöhnt. Es konnte wohl kein Leben geben ohne ihn. Ich fragte mich, wie es dem Kind wohl ging. Ob es dies alles auch so bedrohlich erlebte. Ob es vielleicht selbst sogar Todesangst hatte. Egal, was auch passieren sollte, ich war bereit da zu bleiben. So redete nun auch ich innerlich zu ihm. Auch ich war bereit für das Kind da zu sein, egal wie die Zukunft aussehen würde.
Das sagte ich ihm. "Fürchte dich nicht. Ich will für dich da sein, egal was auch immer passiert. Sollte deine Mutter sterben, will ich dich trotzdem lieben."
Nun veränderte sich der Raum wieder. Der Tod vor allem veränderte sich. Er war nun kaum mehr bedrohlich. Ich spürte, dass er nicht gegen das Leben war.
Dass er sogar Liebe in sich hatte. In Wirklichkeit war er wohl nichts anderes als ein Übergang. Und vielleicht musste er in diesem Moment einfach mit da sein, weil auch dieser Moment nicht anderes ist, als ein Übergang.
Der Tod ist wohl nur ein Tor, egal aus dem oder in das Leben geht. Für das Kind war dieser Anfang auch ein Ende. Das Leben im Meer des Mutterbauches sollte nun zu Ende gehen. Das fiel ihm wohl schwer. Es war eh schon zwei Wochen über der errechneten Zeit.
Und endlich, der Kopf des Kindes war nun spürbar. Maria und die Hebamme konnten mit den Fingern schon den zarten Haarflaum am Scheitel des Kindes spüren. Doch noch war es nicht ganz soweit. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und es kam mir erneut wie eine Ewigkeit vor, in der das Kind in dieser Position verharrte. Doch ich hatte nun keine Angst mehr.
Es blieb nur noch ein dunkler Fleck, von dem ich nicht wusste, was dahinter lag. Doch ich spürte, dass das Leben davon ganz unabhängig war. Ich kann nicht sagen, wie lange es dauerte, doch irgendwann kam der Kopf dann ganz heraus. Dann war wieder Pause und Stillstand. Es ging wieder nicht weiter.
"Das kann doch nicht sein", dachte ich, "das Kind erstickt ja." Ich war ganz aufgeregt. Meine Gelassenheit war nun völlig hinüber. Der Kampf in mir begann aufs Neue. Was ist, wenn der Tod das Kind holt. Das war zu viel. Doch ich konnte nichts machen, konnte nur warten, musste weiter aushalten. Ich wurde durcheinander gewirbelt. Ich verlor die Haltung in mir. Nein, nun konnte ich nicht mehr da bleiben. Ich ließ los und wollte nur weg. Ich wusste nicht, wie mir geschah, wusste nicht, was im Raum geschah. Ich wusste überhaupt nichts mehr. Alles schien zu versinken und ich wurde einfach weggezogen. Es wurde schwarz. Es gab nur noch ein Nichts. Die Welt außen, die Welt innen, alles was ich war verschwand in einer bewusstlosen Leere.
"Es ist da. Es ist da" irgendwann hörte ich diese Worte. Ich erwachte wieder langsam. Ich öffnete die Augen und sah Maria vor mir, die plötzlich ganz still war. Die Hebamme hatte ihre Arme ganz im Wasser. In ihren Händen trug sie etwas. Ich weiß nicht, ob Maria vor Erschöpfung so still war oder vor Glück. Wahrscheinlich machte das kein Unterschied.
Das Kind war auf die Welt gekommen. Maria hatte es geschafft. Das Kind hatte es geschafft. Es rührte sich nicht, und es schrie auch nicht, als es aus dem Wasser gehoben wurde. Es war ganz still, doch es atmete und das Herz schlug.
Wahrscheinlich musste es sich alles erst einmal verwundert anschauen. Genau so wie auch ich in diesem Moment es tat.
"Ein Junge", sagte die Hebamme.
"Wirklich?" meinte Maria.
Ich konnte nichts sagen und war still, genauso still wie das Kind.



Eingereicht am 18. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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