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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der kleine Pinguin

© Sabine Adatepe


"Du kannst doch nicht mit diesem Rucksack losziehen! Wie sieht das denn aus?"
"Mama, bitte!" Yasmin ließ den leichten Tourenrucksack von der Schulter rutschen und wandte sich dem Auto zu.
"Seid ihr endlich fertig?" Der Fahrer wurde von Minute zu Minute nervöser. Im Fond saßen schon zwei Studenten, ein junges Ehepaar, er Einheimischer, sie Deutsche, und ein Mann undefinierbaren Alters, die sich als Dolmetscher zur Verfügung gestellt hatten. Genau wie Yasmin, die jetzt einstieg und verstohlen einen kleinen Pinguin in die Tasche ihrer Jeans schob, bevor sie den Rucksack unter dem Sitz verstaute.
"Pass auf dich auf, Yasmin!" Der Landrat hatte der Mutter nicht erlaubt, mit dem großzügig von seinem Amt gestellten Wagen mitzufahren. Die Transportkapazitäten nach der Katastrophe waren knapp. "Ich komm' nach, sobald die Straßen frei sind. Bitte, junge Frau, würden Sie ein Auge auf meine Tochter haben?"
Auf der dreistündigen Fahrt nach Izmit lernte sich die kleine Gruppe näher kennen. Hatten die Straßensperren und das bald Ritual gewordene Vorzeigen des Passierscheins vom Landrat mit anschließendem Durchwinken zunächst noch die Unterhaltung munter angeregt, versickerte das Gespräch, je näher der Wagen der schwarzen Front kam, die breit über der Bucht stand. Der Brand in der Ölraffinerie war noch nicht gelöscht. Nachbeben behinderten die Löscharbeiten ebenso wie die Rettung von Verschütteten.
Endlich war der Krisenstab gefunden: in einem Armeezelt vor der Präfektur des Regierungsbezirks Izmit tagte er. Meldungen flogen herein und Männer liefen hinaus. Niemand traute sich, eines der mehr oder minder stark beschädigten Gebäude zu betreten, auch das Rathaus nicht. Bisher war weder die Stelle zur Schadensmeldung eingerichtet noch irgendeine Absperrung vorgenommen. Die Erde schwankte beständig, in den ersten Minuten fühlten sich die Neuankömmlinge wie auf Wackelpudding.
"Wir brauchen hier keine Dolmetscher! Fahrt wieder nach Hause!"
Misstrauische Blicke, eindeutige Handbewegungen - und die kleine Gruppe der freiwilligen Helfer, die sich keine 24 Stunden nach dem verheerenden Erdbeben aus Istanbul auf den Weg in die am stärksten betroffene Region gemacht hatte, fand sich vor dem Zelt wieder. Im staatlichen Fernsehen hatte es mehrere Aufrufe gegeben: Personen mit guten deutschen und englischen Sprachkenntnissen sollten sich freiwillig melden, um für die erwarteten ausländischen Hilfsmannschaften zu dolmetschen. Doch weder in Istanbul noch hier schien jemand etwas davon zu wissen oder auch nur wissen zu wollen. Während die jungen Helfer noch diskutierten, was nun zu tun sei, trat ein Soldat zu ihnen: "Fahrt mal zur Feuerwache, dort sind schon ausländische Rettungsmannschaften eingetroffen."
Yasmin streichelte dem Schäferhund der Schweizer Bergwacht über den Kopf, bevor sie als erste von der Ladefläche des Lkw sprang. Schon war die Schweizer Mannschaft mit der türkischen Dolmetscherin von rufenden, flehenden, verzweifelten Menschen umringt. "Fangt hier an! Hier ist mein Sohn drin!" "Bitte kommen Sie hier rüber, wir haben Sie gerufen, hier ist eine ganze Familie eingeschlossen!"
Als die Mannschaft einen der Trümmerhaufen abriegelte, stießen und schlugen sich vor Empörung und Neid die Angehörigen von Verschütteten, die anderswo unter Trümmern lagen. Die Schweizer waren professionell genug, rasch und klar zu entscheiden, wo noch Leben zu retten und wo nur noch Leichen zu bergen waren. Nicht zuletzt die Hunde entschieden hier mit.
Yasmin vermittelte zwischen den Schweizern und lokalen Helfern, geretteten Bewohnern, Angehörigen, Polizei und Militär. Die Schweizer bemühten sich um Hochdeutsch und waren dankbar für Yasmins rasche Auffassungsgabe. So ein zartes, junges Mädchen ist doch hier fehl am Platze, hatte der Einsatzleiter am Vorabend noch gedacht. Der entschlossene Zug um Yasmins Mund hatte ihn schweigen lassen. Und nun belehrte ihn das junge Mädchen eines besseren. Sie kam hervorragend mit der außerordentlichen Belastung zurecht. Als zwei Kinder aus den Trümmern gezogen wurden, liefen ihr vor Freude Tränen über das Gesicht. Einfühlsam dolmetschte sie die Fragen des Schweizer Mediziners und die kaum verständlichen Antworten der matten Kinder.
Erst bei Einbruch der Dunkelheit am späten Abend kehrte die Mannschaft mit Yasmin zum Stützpunkt in der Hauptfeuerwache zurück. Yasmin konnte sich vor Erschöpfung kaum auf den Beinen halten. Während des Einsatzes war keine Zeit für persönliche Gespräche, geschweige denn für Gefühle gewesen. Nun bestürmten die Schweizer die junge Türkin mit Fragen. Ja, sie war in Istanbul geboren, aber in Köln aufgewachsen. Sie lachte, der bleischweren Glieder zum Trotz, als Hans ihr auf den Kopf zusagte, sie habe sicher Ballettunterricht gehabt, wie seine Schwester in Basel. Sie wusste, dass ihr Gang noch heute unverkennbar die Ballerina verriet. Doch sie hatte mitten im ersten Semester das Studium bei Neumeier in Hamburg abbrechen müssen. Die Mutter in Istanbul nötigte sie zur Rückkehr, als der Vater in Köln nicht länger bereit war, ihre Ausbildung zu finanzieren: Onkel Ahmet hatte sie mit Hermann gesehen. Hermann, der ihr zum Abschied den kleinen Pinguin geschenkt hatte, den sie seither als Talisman bei sich trug. "Er wird dich schon auf deinen eigenen Weg zurückführen, wenn du ihn nur treu hütest", hatte Hermann ihr zugeflüstert, bevor der Vater sie zum Einchecken zerrte. Sie tastete unwillkürlich nach dem Stoffpinguin in der Hosentasche, den sie, in schmerzlicher Ermangelung des so lange erfolgreich vor der Familie verheimlichten Freundes, Hermann genannt hatte. Die Schweizer nickten, als sie sagte: "Und jetzt wohne ich bei Mama in Istanbul."
"Und was machst du beruflich?", fragte Anja, die Deutsche, die als Dolmetscherin mit dem gleichen Wagen aus Istanbul gekommen war. Yasmin ließ den Kopf hängen. "Nichts, vermutlich", warf Mustafa ein, der den Wagenpark der Feuerwehr mit Benzin versorgte, damit die Rettungsmannschaften mobil blieben. "Papa schickt doch sicher wieder Geld, seit sie brav an den Herd zurückgekehrt ist, oder?" Entrüstetes Gemurmel hob an, auch wenn niemandem die bittere Ironie in den Worten dieses jungen Mannes entgangen war, der selbst vor ein paar Jahren von der Familie in die Türkei zurückgeschickt worden war. "Damit ich nicht auf die schiefe Bahn gerate", hatte er die Begründung des Familienrates lakonisch wiedergegeben. Yasmin funkelte ihn aus ihren dunklen Augen böse an. Doch sie sagte nichts, zog sich stattdessen nach dem anstrengenden Tag in ihren Schlafsack am Rande des Parkplatzes zurück.
Als die Mannschaft am nächsten Tag zum letzten Einsatz vom Lkw sprang, hatte Yasmin sich schon fast an den Anblick der Toten und Leichenteile und den Geruch der in der Sommerhitze viel zu schnell einsetzenden Verwesung gewöhnt. Wurde jemand lebend unter den Trümmern hervorgezogen, empfand sie das wie einen persönlichen Triumph. Die Trümmer eines vierstöckigen Wohnhauses lagen hier in einem einzigen Haufen Schutt, und doch hatten die Hunde angeschlagen. Während die Schweizer sich behutsam Millimeter für Millimeter vorarbeiteten, bemühte sich am anderen Ende des Trümmerhaufens eine Familie darum, eine verschüttete Frau herauszuziehen. "Das ist unsere Schwester! Heute ist der dritte Tag. Wir müssen sie bis zur Dämmerung begraben haben. Sonst finden die Engel sie nicht ...", erklärte ein junger Mann weinend, als die Schweizer die Familie von den Trümmern jagte. Durch die Bewegung an unterschiedlichen Stellen hatte der ohnehin instabile Schutthaufen bedenklich zu schwanken begonnen. "Sie ist tot, lasst uns die Lebenden retten! Sonst seid ihr Schuld an deren Tod!", schnitt der Einsatzleiter kategorisch alle Argumente ab. Mit blutendem Herzen dolmetschte Yasmin.
Nach Stunden zog die Mannschaft einen jungen Mann aus den Trümmern. Grau von Staub und Sauerstoffmangel, wurde er auf die Trage gehoben, fast unversehrt. Er konnte nicht sprechen, doch er richtete sich auf und schaute erstaunt um sich. Auferstanden von den Toten, dachte Yasmin. Sie weinte erst, als die Familie der toten Schwester und andere, die keine Angehörigen hatten retten können, sich wütend auf den Mann auf der Trage stürzten und ihn wüst beschimpften, bevor die Retter ihn in der bereitstehenden Ambulanz unterbringen konnten. Sie weinte vor Freude über die Rettung und vor Entsetzen über die Menschen.
Ein starkes Nachbeben am späten Abend unterbrach die Essensausgabe bei der Feuerwache. Irgendwo war Feuer ausgebrochen. "Yasmin! Ist Yasmin nicht hier?" Suchend und rufend lief Semra über den Parkplatz. Die Studentin war am Nachmittag mit einer Gruppe weiterer freiwilliger Helfer aus Ankara eingetroffen und hatte die Koordination der Dolmetscherzuteilung übernommen, da sie mehrere Sprachen beherrschte. Yasmin drehte ihr rasch den Rücken zu und sagte zu Anja: "Ich bin nicht da. Es reicht mir für heute. Sie soll jemand anderen losschicken." Sie biss in ihren Käsetoast und trank einen Schluck aus der Wasserflasche. Anja lächelte und beobachtete dann Semra, die in der einbrechenden Dunkelheit einzelne Personen in den Grüppchen rund um den Parkplatz nicht ausmachen konnte. Anja sah, wie sie resigniert die Schultern zuckte und sich an eine Frau an der Auffahrt wandte. Ein weiterer Blick auf Yasmin, die erschöpft an ihrem Toast kaute, veranlasste sie, selbst aufzustehen. "Ich seh' mal nach, was da los ist."
Wenige Minuten später kam sie zurück, an ihrer Seite eine ältere Frau mit kurzem Haarschnitt, fahrigen Bewegungen und müdem Gesichtsausdruck. "Yasmin ..." Bevor Anja weitersprechen konnte, hatte Yasmin sich umgedreht, sprang überrascht auf und umarmte ihre Mutter, die den in Istanbul unterbrochenen Redeschwall schier übergangslos wieder aufnahm: "Ah, da bist du ja! Warum hast du denn nicht gesagt, dass du hier bist? Das nette Mädchen hat doch laut nach dir gerufen! Na, Hauptsache, ich hab' dich jetzt endlich gefunden. Aber wie du aussiehst! Dein T-Shirt ist ja völlig verdreckt! Wo ist denn deine Bluse?"
Yasmin löste sich still aus der Umarmung, setzte sich wieder und biss in einen neuen Toast.
"He, Yasmin! Ich komme dich doch abholen! Ich war schon bei Tante Gülizar, sie hat beide Beine verloren und das Haus ist auch hinüber, aber sie lebt. Und dein Onkel war in der Nacht gar nicht Zuhause. Wir haben ein Riesenglück! Komm, wir fahren gleich hin."
"Mama, ich komm' nicht mit."
"Was soll das heißen? Wir müssen uns doch jetzt um die Tante kümmern ..."
"Mama, ich werd' hier noch gebraucht."
"Ach was, hier sind doch so viele andere Dolmetscher jetzt. Die können auch sicher viel besser Deutsch als du."
Yasmin stopfte sich den Mund voll Käsetoast und starrte auf das verdorrte Gras zu ihren Füßen. "Also, Yasmin ist sehr erschöpft, sie sollte vielleicht heute Nacht hier bleiben, dann können Sie ja morgen noch mal mit ihr sprechen", mischte Anja sich ein.
"Kommt gar nicht in Frage, ich übernachte hier nicht im Freien unter all den fremden Leuten und meine Tochter hat sich jetzt auch genug engagiert. Yasmin! Komm jetzt!"
Yasmin stand auf, steckte eine Hand in die Hosentasche, in der anderen hielt sie den Toast. Sie sah ihrer Mutter in die Augen. Den Pinguin fest umklammert sagte sie bestimmt: "Ich komm' nicht mit, Mama. Grüß die Tante von mir." Sie drehte sich um und ging mit festen Schritten davon. Auch wenn ihr Gang noch immer an den eines Pinguins erinnerte, stand sie jetzt mit beiden Beinen auf dem Boden. Die konsternierte Mutter ließ sie zeternd stehen.
Drei Tage später nahm Anja sie zum Abschied in den Arm, als ihr Flug aufgerufen wurde. "Hals- und Beinbruch, kleiner Pinguin! Und ruf mich an, wenn du bei Hermann bist!" Yasmins dunkle Augen strahlten. Sie konnte nicht Modeln, wie ihre Mutter es sich für die bildhübsche Tochter erträumte. Sie musste tanzen. Und sie würde tanzen. Und dazu brauchte sie die Ausbildung an der Ballettschule. Vielleicht könnte sie ein Stipendium bekommen, sonst würde sie sich das Studium eben selbst finanzieren. Sie würde nicht bei Hermann bleiben, denn sie war in wenigen Tagen ein anderer Mensch geworden, erwachsen und selbstbewusst. Doch sie wusste, Hermann und sein Talisman würden sie auf ihrem Weg begleiten.



Eingereicht am 18. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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