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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Vom Prozess des Alterns und der Reife. Zu gegebenem Anlass
© Natalie Jandl
Als Kind war ich Predigerin. Ich predigte allen Menschen, denn sie brauchten mich. Ich war klug und sie interessierten mich nicht. Sie taten Dinge. Das reichte mir.
Ich bin auf dem Land aufgewachsen. In einem Dorf voller Gesichter, die ich kannte. Und die Gesichter, die ich kannte, kannten mich. Denn der Mittag gehörte der größten und einzigen Kreuzung des Ortes. Dort stellte ich mein Fahrrad in der Mitte ab und mich auch. Ich hielt die Autos an und bat sie die Scheibe herunter zu kurbeln. Dann sagte ich altklug: "Wissen Sie eigentlich, dass Sie ein Umweltverschmutzer sind?" Das tat ich jeden Tag und das ganze Jahr hindurch. Ich hatte sowieso nichts anderes zu
tun, denn niemand konnte mich leiden. Später, als ich nahe der Prä-Pubertät war, predigte ich das Nichtrauchen. Ich stellte mich an die große Kreuzung, bat die Leute ihre Scheiben herunter zu kurbeln und fragte: " Rauchen Sie?" Bekam ich ein "Ja.", sagte ich: "Das ist gesundheitsschädlich!" und guckte mit ernster Miene. Antworteten die Autofahrer mit "Nein" so war ich enttäuscht. Ich trat mit dem Schuh gegen das Auto. Eines Tages hielten die Autos nicht mehr an wenn ich
mich auf meiner Kreuzung platziert hatte. Es wurden weniger von Tag zu Tag bis ich quasi unsichtbar war. Sie hatten einen Komplott geschmiedet. Dafür hatte ich nichts übrig! So ging ich in den Wald und tötete kleine Tiere: Würmer, Ameisen, Schnecken, Fliegen und auch ein paar Pilze rupfte ich ab. Ich packte sie alle in einen Eimer und schleppte sie nach Hause in den Garten. Dort hub ich voller Sorgfalt kleine Gräber aus, bettete die Tierchen sanft auf Watte und Gras und baute kleine Kreuze aus Holz. Ich schuftete
stundenlang um am Ende eines arbeitsamen Tages - endlich - eine ausgiebige Predigt halten zu können. Ich war ein reizendes Kind.
Im Sommer ging ich in den einzigen Supermarkt im Ort. Ich stellte mich an der Kasse auf und sang aus vollem Halse. Dafür bekam ich stets ein Eis. Ich war immer angezogen wie Biene Maia und ich sah auch sonst so aus wie sie. In der warmen Jahreszeit trug ich eine Frottee-Unterhose mit dem passenden T-Shirt. Gelb-schwarz gestreift. Ich war begeistert. Wenn meine Eltern morgens aus dem Haus waren zwang mich meine große Schwester, einen dieser Haarreifen mit Fühlern anzuziehen und so schleifte sie mich in die Schule.
Da saß ich dann den ganzen Vormittag mit meinen Biene-Maia-Fühlern auf dem Kopf und wenn die Lehrer mich ermahnten, ich solle die Fühler abnehmen, antwortete ich: "Meine Eltern sind Zeugen Jehovas. Die wollen das so."
Irgendwann wurde mir und meinen Fühlern keine Beachtung mehr geschenkt, sie gehörten einfach zu mir. Ich schlief mit ihnen. Sie wuchsen an meinem Kopf fest.
Als ich älter wurde, wollte niemand 'mit mir gehen'. Ich erzählte, ich hätte eine seltene Krankheit, die leider sehr ansteckend sei. Ich warnte, dass jedem, der mich küssen würde, sofort Biene-Maia-Fühler wachsen würden. Vielleicht aus dem Kopf, vielleicht aber auch aus dem Hals oder dem Gehirn. Ich hatte niemals Freunde. An meinem achtzehnten Geburtstag dann, nahm mich meine Mutter zur Seite und erkundigte sich zaghaft ob es nicht an der Zeit wäre, meinen Haarreif abzulegen. "Schließlich bist du jetzt erwachsen!",
sagte sie und sah mich sanft aber auffordernd an. Häää...? Ich begriff nicht was sie von mir wollte und verharrte regungslos. Sie erhob ganz langsam ihre Hände und nahm mir das Ding einfach vom Kopf. Da stand sie nun vor mir und hielt die Fühler in ihren Fingern. Einfach so. Ich betastete meinen Kopf. Nichts. Keine Fühler mehr. Ich fiel in Ohnmacht.
Was folgte, war eine lange Zeit der 'Bewusstlosigkeit', so berichtet man mir jedenfalls. Sie war herrlich vollgestopft mit nährenden Lebnissen. Alle zu ihrer Zeit. Ich ging umher und predigte in sorgloser Unvernunft zwischen den Welten. Niemand verstand ein Wort. Ich auch nicht und es war wunderbar.
Als es so sein sollte - weil der Zeit Reife gebührt - erwachte ich prompt: Ich war plusminusdreißig. An meiner Seite saß eine Frau mit leuchtendem Haar und grünen Augen. Sie hatte eine Krone auf. Noch nicht ganz bei mir und überwältigt von ihrer Schönheit rang ich um Atem. Sie küsste mich.
Tja, und seither sind wir ein Paar! Unseren Kindern wachsen Fühler. Irgendwo. Aber das sagte ich ja bereits. Oder?
Eingereicht am 17. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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