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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Heimkehr
© Kristina Kinne
Aber der ältere Sohn war auf dem Felde. Und als er nach Hause kam, hörte er das Singen und den Reigen (…). Da ward er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn.
Er aber antwortete und sprach zum Vater: "Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich sein kann. Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der dein Gut mit Dirnen verprasst hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet." (…)
Lukas 15, 25-30
Er betrat die Halle, sein Ärger nur halb beschwichtigt. Des Vaters Arm um seine Schultern geschlungen, betrachtete er die festliche Menge. Bis er ihn sah, seinen Bruder, in festliche Gewänder gekleidet und den wertvollen Weinkelch in der Hand, den der Vater nur für besonders geehrte Gäste hervorholte.
Als hätte er den Blick gespürt, schaute sein Bruder auf und ihn an, und für einen langen Moment kreuzten sich ihre Blicke.
Dünn ist er geworden, dachte der eine. Hager und abgezehrt.
Ernst ist er geworden, dachte der andere. Schweigsam und in sich gekehrt.
Sie gingen auf einander zu, und der jüngere Bruder reichte dem älteren den Kelch.
"Er steht dir mehr zu als mir", sagte er.
"Nein", sagte der Ältere und gab den Kelch zurück. "Dieses Fest heute gilt dir." Und sein Ärger löste sich auf, denn er hatte das Leid in den Augen seines Bruders gesehen. "Willkommen daheim", sagte er und lächelte und umarmte seinen Bruder unter den frohen und zustimmenden Blicken ihres Vaters.
Und in diesem Moment wusste keiner der beiden, wer von ihnen endlich heimgekehrt.
Eingereicht am 17. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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