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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Marathon: acht Buchstaben mit Konsequenzen

© Christian-Albrecht May


Ich laufe und habe Debussy in meinen verkaterten Oberschenkeln. Leicht wie eine Wolke perlt der Schweiß, zum Verzehr der gierigen Sonne. Mittagszeit und verloren in einem Seitental des Vorgebirges. Die trockne Zunge lechzt nach Tönen der Selbstüberwindung. Der Weg - ein Weg zurück?
Ich biege in die schattige Allee und rieche das frische Harz der gefällten Bäume. Ich bin unterwegs, träume und strapaziere mein Durchhaltevermögen.
Der Blick auf die Uhr lohnt sich nicht, denn er zeigt nur Schein: subjektiv bin ich schon längst jenseits meiner gesetzten Grenze. Im Traumland des immerwährenden Vorwärts der Einzelnen. Wie die Finger über die Tastatur fliegen meine Gedanken von hier nach dort und überkreuzen sich stetig. Das war es also, der ersehnte Zielpunkt der völligen Erschöpfung, die sich in ungeahnte Energie metamorphosieren sollte. Ich bin leicht wie eine Feder, die mit Bleigewichten an die Erde gepresst wird, eine Erde, die durch eine beschleunigte Rotation ihre Gravitation kurzfristig verdoppelt hat.
Vielleicht sollte ich in die andere Richtung laufen, um sie zu bremsen? Dann käme ich noch einmal in den Genuss des frischen Harzes, der sich zwischenzeitlich in trockenes Heu verwandelt hat. Ich weiß die Berge am Horizont, aber ich sehe sie nicht durch die salzverkrusteten Lidränder. Das dunkle Blau mit weißen Fetzen, an das helle Azur des Himmels anschließend.
Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dabei waren es wahrscheinlich noch keine fünf Minuten, seit ich die letzte Station passiert habe: Bananenstückchen, einen Becher mit isotoner Flüssigkeit. Es war die letzte, soviel habe ich mitbekommen. Ich bin noch nie so mechanisch gelaufen, wahrscheinlich weil ich gar nicht mehr laufe: es läuft mich. Schritt für Schritt. Ungeachtet meiner gelegentlichen Versuche steuernd einzugreifen. Da es sowieso eigentlich alles weiß, gibt es keinen Grund darüber Gedanken zu verschwenden. Bleibt der Geruch der letzten Strecke, der Geschmack von Eisen, der die Bananenreste unerbittlich verdrängt, und das Geräusch menschlicher Stimmen, die es vorantreiben. Ich sehe von oben auf einen Körper der vorwärtsdrängt, ein schöner Körper, wie mir scheint. Daneben weitere, doch mich interessiert vor allem der eine: er ist ein wenig langsamer als die anderen. Vielleicht auch nicht ganz so perfekt ausgestattet: ein paar unproportionierte Fettlager an den Hüften, schmächtige Oberarme, einen erhitzten Kopf. Der Blick aus den Augen dieses Kopfes ist mir vertraut: die Landstraße, den Feldweg entlang, geradeaus.
Zwei Monate davor:
Die Landstraße da vor, dann den Feldweg links rein und immer geradeaus.
Danke. Ich schaue dem freundlichen Wanderer noch kurz nach und setze dann meine Übungsrunde fort. Training. Ich habe immer über die Leute gelächelt, die mir von ihrem Training erzählten, und jetzt bin ich selber ganz in den Jargon verfallen. War es wirklich meine eigene Idee gewesen? Ich fühlte mich wie Karlson vom Dach und wollte etwas dagegen unternehmen. Studio - bereits beim ersten Mal wurde ich von einem anderen Besucher so schräg angesehen, dass ich mir vornahm, nie mehr einen Schritt über diese Schwelle zu setzen.
Etwas im Freien - was liegt näher als das Laufen? Ganz brav habe ich mir auch eine Trainingsgruppe gesucht. Sie war in der Zeitung annonciert gewesen und hatte mich spontan angesprochen. Somit hatte ich einen Trainer und Trainingsstunden. Ich wollte zunächst nur von Übungsrunden sprechen, aber diese Sprache war bei allen anderen nicht angesagt und als Einzelkämpfer wollte ich hier nicht gelten - dafür war ich zu schlecht.
Der erste Erfolg motivierte stark. Nach drei Wochen konnte ich bereits vierzig Minuten ohne Pause zurücklegen, freilich noch in einem sehr gemäßigten Tempo. Wir sollten uns Ziele setzen, doch alle die ich nannte wurden als zu leicht abgetan. Irgendwann stand dann das Wort Marathon in der frischen Waldluft und konnte von keinem Rauschen übertönt werden. Ich traute mich nicht zu widersprechen - außerdem hatte mich der Zipfel des Rauschtuches gepackt, das sich über alle Sportler ausbreitet. Woher kommt der Name Wettkampf? Ist es eine sportliche Leistung, auf die gewettet wird?
Für mich selber lautete die Interpretation: Wetten, dass ich es schaffe, auch wenn ich dafür kämpfen muss. Kämpfen mit meinen träge saugenden Gemütlichkeits-Gedanken. Hintern hoch und trainieren, für ein Ziel.
Ein Jahr davor:
Ein freundschaftliches Gespräch oder ein Dialog mit dem eigenen Gewissen in Form eines unterdrückten Gegen-Ich?
- Bringst du deinen Hintern überhaupt noch hoch? Also ich könnte das nicht ohne mein Training. Setz dir doch auch ein Ziel!
- Oh, lass mich mit deinen Sportambitionen in Frieden! Du weißt genau, dass das nichts für mich ist. Schau dir doch die Gestalten an, die so etwas machen. Passe ich da etwa dazu?
- Jetzt mach aber einen Punkt. Da passt jeder dazu. Wie du das Ganze angehst ist deine Sache, aber mir kannst du nicht weiß machen, dass es Menschen gibt, die gar keinen Sport ausüben können. Das ist reine Ausrede. Faulheit.
- Danke.
- Oh bitte. Ich könnte ja jetzt noch fortfahren und dir erzählen, dass du mit deiner Trägheit auch die Gemeinschaft schädigst, nicht nur dich. Du erhöhst die Krankenkosten ...
- Na warte mal, ich war in meiner ganzen Arbeitszeit bisher eine einzige Woche krank.
- Noch, warte erst mal weitere zehn Jahre ab. Das sind Langzeiteffekte.
Jedes Gramm zu viel fällt da ins Gewicht. Lass es Gelenkabnutzung sein, oder Herzprobleme.
- Ich bin ein Schmarotzer, oder was?
- Wenn du das so sagst ...
- Hmm. Wofür meinst du denn, dass ich mich eigne?
- Nun, laufen hat noch keinem geschadet.
- Und die Gelenkabnutzungen?
- Mit ein paar Pfund weniger auf den Rippen und ordentlichen Schuhen kann dir nichts passieren. Zur Sicherheit kannst du ja einen Laufkurs besuchen.
- Weiß ich ja eigentlich alles ...
- Na, was wartest du dann noch?
Ich lese nicht einmal die Sportnachrichten in der Zeitung. Zum Glück ist es immer eine abgeschlossene Sektion, die ich gleich zu Anfang weglege. Sport.
Wie kann man nur so viele Worte um körperliche Ertüchtigung machen. Meine ärgsten Erfahrungen stammen aus der Schulzeit: vielleicht bin ich narzisstisch. Ich war jedenfalls von Anfang an immer bei den ganz schlechten; das hat mich für den Rest meines bisherigen Lebens geprägt. Warum sollte ich mich auch anstrengen, eine Stange hochzuklettern, in einen Sandkasten zu springen, schnell zu laufen? Wozu?? Mein Leben war durch das Nichtkönnen nicht gefährdet, im Gegenteil: wenn ich die ganzen Schrammen und Verletzungen sah, die man sich beim Ausüben solcher unnützen Aktivitäten zuziehen konnte, dann wollte ich so etwas auf alle Fälle vermeiden. Ein Verständnis, dass ein gesunder Körper einen gewissen Grad an Bewegung braucht, um gesund zu bleiben, war mir gänzlich abgängig. Es wurde mir auch nicht vorgelebt.
Der Sportlehrer mit der Trillerpfeife im Mund. Und eins und zwei ...
Schwimmen, das war das einzige, was mir Spaß machte. Aber das war gerade mal ein halbes Jahr in der sechsten Klasse. Und wirklich glänzen konnte ich auch da nicht. Den Ego-Trip konnte ich mit anderen Dingen ausspielen, und deshalb wurden sie für mich wichtiger. Ich bin ein schlechter Verlierer, wie wahrscheinlich viele von uns. Deswegen strengt man sich in den Bereichen, in denen man keine Lorbeeren ernten kann, auch gar nicht an. Anderen geht das vielleicht so mit dem Singen, oder mit Sprachen. Bei mir war es der Sport.
Zurück in der Gegenwart:
Ich bin gerade durch das Ziel eines Marathon gelaufen, mein Körper hat alle seine Reserven mobilisiert und er hat mich nicht im Stich gelassen. Was ist mein erster Gedanke? Es ist Freude, angekommen zu sein. Doch das ist eigentlich kein Gedanke, sondern ein Gefühl, ein unbeschreibliches Gefühl, in dem man verweilen möchte, eingehüllt wie in ein weiches Frottehandtuch nach einem langen Bad. Streicheleinheiten; ein warmes wohliges Wiegen in der endlos werdenden Welt der Sekunden. Habe ich mich je schon einmal so einem Gefühl hingegeben? Es überwältigt mich, lässt mich nicht los. Wirbelt Erinnerungen an die erste Nacht mit meiner Frau empor. Wird es ebenso lange anhalten? Es ist anders und doch vergleichbar - süchtig machend in seiner Intensität.
Doch was ist der erste Gedanke? Nein, ich will es nicht glauben, auch wenn ich weiß, dass es mit Glauben gar nichts zu tun hat. Es ist da. Er ist da, der Gedanke: wann gibt es wieder einen Marathon. Mit einmal verstehe ich, warum Menschen den Sport lieben, ganz ohne äußere Zwänge: die persönliche Leistung ist es, die einem neue Nahrung gibt, einen bei der Stange hält. In das überwältigende Gefühl, es geschafft zu haben, mischt sich der Ehrgeiz: nächstes mal eine bessere Zeit. Während ich noch taumle und meinen Kuchen esse, etwas trinke, sehe ich die Augen der vielen anderen, die mitgelaufen sind. Einige schon wieder ganz erholt, andere noch schwer atmend. Alle Augen bestätigen meine Gedanken, den einen großen Gedanken, die Rauschdecke als anonymes Gemeinschaftserleben.
Ich werde weiterlaufen. Gleich morgen.



Eingereicht am 17. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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