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Die Perlentaucherin

© Ulrike Andrea Göckelmann


Die Männer in meinem Leben sind wie Perlen, die ich auf eine Schnur ziehe. Wieder und wieder tauche ich hinab ins tiefe Dunkel, um nach ihnen zu suchen. Irgendwie sind sie alle gleich und doch unterscheidet sich jede von der anderen. Ich hänge mir die Kette wie eine Trophäe um den Hals.
Als ich Chong kennen lernte, hatte ich eine milchig-weiße Haut, blutrot gefärbte Lippen und glattes, nachtschwarzes Haar. Ich trug enge Röcke und luftige Hemdchen und wenn ich auf hochhackigen Schuhen mit wiegendem Gang heiße Platten mit duftenden Gerichten durch Chongs Restaurant trug, in dem ich damals mein Geld verdiente, wippten beim Gehen meine Brüste. Das Wiegen in den Hüften ist eine Gewohnheit, die ich beibehalten habe aus meiner Zeit als Tänzerin. Überhaupt habe ich alle möglichen verrückten Sachen gemacht, um Geld zu verdienen und Menschen kennen zu lernen, so wie Schriftsteller dies häufig tun. Nur auf der Straße gebettelt habe ich nie und auch niemanden übers Ohr gehauen. Vielleicht ist das der Vorteil, eine Frau zu sein: es ist immer noch keine Schande, sich gelegentlich von einem Mann aushalten zu lassen, mit dem man zusammen ist. Wie dem auch sei, ich heiße Agnes, aber meine Freunde nennen mich Marja, nach meinem größten, weiblichen Idol Marilyn Monroe (mein männliches ist natürlich Henry Miller). Chong fand noch einen chinesischen Namen für mich: er nannte mich Yumei, was so viel heißt wie Traum.
Es war diese verrückte Zeit, als ich in Chong verliebt war. Wir telefonierten fast täglich miteinander und ständig schickte er mir wunderschöne Bilder durchs Faxgerät, meistens malte er mich als Nymphe mit fliegenden Haaren, denn eigentlich ist Chong Maler, das Restaurant hat er nur als Geldquelle. Heute lebt er in Shanghai und ich in Deutschland. Hier ist der Teufel los, na ja, besser gesagt, war, als ein paar verrückte Araber zwei Flugzeuge in das Herz Amerikas steuerten und die Türme des World Trade Center zum Einsturz brachten. Aber kaum wächst auch nur ein bisschen Gras über eine Sache, spricht kein Mensch mehr davon, obwohl es kurz vorher so aussah, als würden alle übereinander herfallen und sich die Augen auskratzen. So ist es auf der Welt, in der Politik und mit fast allem: aus den Augen, aus dem Sinn. Nur die Liebe ist eine Ausnahme, vielleicht, weil nur die Liebe zählt. Eros ist eine Lebenskraft, erst Yin und Yang gemeinsam ergeben ein Ganzes.
Chong, meine Muse, meine Sehnsucht, meine Kraft, mein Glücksstein, mein Talisman, mein Beschützer, mein Schutzengel, welchen Namen soll ich dir noch geben? Welchen hast du verdient? Jeden, der dir sagt, dass du für immer einen Platz in meinem Herzen einnimmst. Als junger Mann trugst du das Haar lang und im Nacken zu einem Zopf gebunden. Ich habe immer versucht, mir vorzustellen, wie du damals wohl ausgesehen haben magst. Deine Hände waren immer noch sehr schön, als ich dich kennen lernte, mit zartgliedrigen Fingern, die typischen Hände eines Künstlers. Sie umfassen zärtlich meine Hände, schützen sie vor der Kälte und langsam, ganz langsam ziehen die Fingerspitzen die Linien meiner Handfläche nach, so als wollten sie eins werden mit ihnen auf ihrem vorgezeichneten Weg.
Hier in Deutschland ist es zurzeit kalt, liebster Chong, wir haben Winter und es hat dieses Jahr so viel Schnee gegeben wie schon seit Jahren nicht mehr. Manchmal irre ich traurig durch diese leere Stadt, ich kenne jede Straße, jedes Geschäft, ich weiß, an welcher Ecke der einarmige Bettler sitzt und wo der Mann steht, der den Leierkasten dreht. Ruhelos streife ich umher, wie eine streunende Katze, immer auf der Suche nach einem Platz zum Schreiben. Damals sagtest du: "Wozu willst du arbeiten? Ich habe genug Geld, das Geld ist nur Papier. Schreib deinen Roman!" Du warst überzeugt davon, dass ich eines Tages etwas wirklich Bewegendes zustande bringen würde. Wir träumten diesen wundeschönen Traum, aber dann ist alles ganz anders gekommen.
Die Schnur, die ich spanne, reicht von hier bis über den Pazifik, von heute über gestern und morgen bis in die Unendlichkeit. Ich spanne meine Schnur in den Himmel, von mir zu dir. Wozu brauchen wir ein Haus? Das ganze Universum gehört uns! Die Luft, die wir atmen, gehört uns; die Vögel singen nur für uns - so groß ist das Leben! Unsere Seelen gehen darin spazieren und berühren einander zärtlich.
Als ich sechzehn war, liebte ich einen blonden Jungen mit blauen Augen, Firstlove, und er liebte mich. Als er starb, wollte ich auch sterben. Ich hörte auf zu essen. Meine Mutter weinte mit mir und schnitt mir das Brot in kleine Häppchen und fütterte mich damit, wie sie einst ihre kleine Marja gefüttert hatte. Die Welt war eine dunkle Kammer geworden. Alles, was hell und licht gewesen war, Freude, Glück, Hoffnung, alles war mit einemmal nur noch grauer, trüber Nebel.
Und dann lernte Marja Ava kennen. Ava war der kühle Brunnen, der sie tränkte und der sie vor dem Verdursten rettete. Ava und Marja - sie wurden unzertrennlich. Ava war das Gegenteil von Marja. Marja war eine bittere Mandel, Ava eine Fontäne! Ava war Stripteasetänzerin und gelegentlich Prostituierte. Sie trug das schwarze Haar kurz, hatte eine vollschlanke Figur, kleine, feste Brüste und zarte Fesseln. Ihre nussbraunen, schräg geschnittenen Augen, ihre kleine Nase und ihr wohlgeformter Mund ließen ihre asiatische Herkunft erkennen. Ihre Mutter war Thailänderin, ihr Vater deutscher Diplomat gewesen.
Neben Ava wirkte Marja wie ein Straßenköter. Ava trug nur schwarze, eng anliegende und tief dekolletierte Kleider. Sie rauchte Zigaretten in einer Zigarettenspitze, die ihr die Mutter eines Freundes einst geschenkt hatte und die diese als Andenken an ihre Jugendzeit in Amerika aufbewahrt hatte.
Marja fühlte sich am wohlsten nackt. Sie hatte angefangen zu schreiben, gegen den Schmerz und gegen das Loch, das der blonde Junge in ihr zurückgelassen hatte. Ihr Tagesablauf glich dem eines Tiers. Sie schlief so lange, bis der Hunger sie weckte. Dann kochte sie Kaffee für sich und Ava und während Ava sich langsam für ihre Arbeit zurechtmachte, badete, sich die Augen mit kohlschwarzem Kajal umrahmte, die Lippen mit ihrem velvetroten Chanellippenstift nachzog und einen Joint rauchte, saß Marja im Bademantel in der Küche oder an irgendeinem Tisch in ihrer gemeinsamen Wohnung und schrieb. Sie hörte erst auf, wenn Ava müde und mit verwischtem Make-up nach Hause kam, die Leopardenhandtasche in die Ecke warf, die hochhackigen Lackpumps von den Füßen kickte und sich aufs Sofa fallen ließ. Aus der Handtasche, die sich auf dem Boden geöffnet hatte, quollen Bündel von Geldscheinen, Geld ohne Sozialversicherung, ohne Lohntüte, einfach in die Tasche oder in den BH gestecktes Geld für 'besondere Dienste' nach dem Tanzen.
Marja verehrte Ava grenzenlos. Sie ließ ihr die Wanne mit heißem Wasser vollaufen, massierte ihr den Rücken, seifte sie ein, streichelte und tröstete sie. Wenn Ava fertig gebadet hatte, kroch Marja in das lauwarme Wasser und reinigte sich still und leise. Wenn sie dann gemeinsam unter die weiße Bettdecke krochen, wärmten sie sich gegenseitig die Füße, lasen sich gruselige Geschichten von E.A. Poe oder E.T.A. Hoffmann vor, bevor sie sich zärtlichen Liebkosungen hingaben, die sie langsam in den Schlaf des Vergessens hinübergleiten ließen.
Marja lernte von Ava. Wie man sich die Augen mit schwarzem Kajal umrahmt, die Lippen blutrot und das Haar schwarz färbt, sich in engen Kleidern und hochhackigen Schuhen in den Hüften wiegt, einen Joint raucht und Männer verführt. Als Marja eines Morgens erwachte, lag Ava nicht neben ihr. Die Leopardenhandtasche war weg, der velvetrote Chanellippenstift und der schwarze Kajal. Marja begann, sich anzukleiden, so, wie sie es von Ava gelernt hatte. Sie schüttelte ihre langen, schwarzen Locken, ging in die Stadt, kaufte sich einen velvetroten Chanellippenstift, einen schwarzen Kajal und eine Leopardenhandtasche. Dann fragte sie in den Bars, die sie kannte, nach Arbeit. Sie bekam Arbeit und sie wiegte sich in den Hüften, so, wie sie es von Ava gelernt hatte. Sie verdiente genug Geld, um Champagner zu trinken und in Hotels zu wohnen. Aber sie war einsam. Sie musste sich wieder verändern, wie ein Chamäleon die Farbe wechseln, um zu überleben.
Welche Farbe hatte sie angenommen, als sie Chong begegnete?
Ich bin ein Mosaik aus vielen bunten Steinen, bin Yumei, ein Traum, bin eine Erscheinung, bin das, was du in mir siehst, bin meine eigene Erfindung. Ich sehe in Chongs Gesicht, dieses Gesicht, das mir so viel erzählt, so viele Geschichten verbergen sich darin, unterdrückter Schmerz, Qual, Freude. Er weint. Meine Hand berührt leicht seine Wange. Ihr braucht so viel Liebe, nur die Liebe vermag euch menschlich zu machen.
Ich denke an Angel, der sich immer ein bisschen gegen die zarten Berührungen zu wehren scheint. "Mach mein Hemd nicht schmutzig mit deinem roten Maul!", pflegt er zu sagen, wenn ich meinen Kopf an seine Schulter lege, voller Erwartung, dass er mich zärtlich küsst. Meine Berührungen dringen trotzdem durch seine Haut, hin zu seinem Herzen und seiner Seele und machen ihn friedlich. Nur Yin und Yang ergeben ein Ganzes.
Gott, du hast mir eine große Aufgabe gegeben: so viel harte Männerherzen zu schmelzen. Ich muss sie alle lieben, alle, die du zu mir schickst! Nebenbei setze ich mich an den Küchentisch und schreibe, schreibe mich durch mein Leben, verstehe es nur schreibend. Es ist ein Tasten, ein Streicheln, ein langsames Aufbrechen des Kerns, bis alles weich und fließend vor mir liegt, über die Ufer tritt. Die Grenzen verschwimmen, so wie wenn du mich öffnest, Bluebird, meinen harten Kern schmilzt, bis ich ein grenzenloses Meer bin und du bist mein einziges Ufer, Gia Dinh.
Ich sage zu Chong: "Weine nicht, ich liebe dich!"
Sein Tränenfluss versiegt.
Drei Männer gleichzeitig zu lieben ist eine gute Kombination. Drei Aufgaben musst du erfüllen ... Drei, eine magische Zahl ...
Bluebird streichelt mich zärtlich, berührt meine Brüste, saugt an ihnen wie ein Kind, besingt meine Schönheit, öffnet mich, er hat den Schlüssel für meinen Schoß. Der Schlüssel liegt vergraben in meinem Kopf. Bluebird spricht zu mir, sein Gesang findet das Zauberwort: Sesam öffne dich! Meine Schätze liegen ausgebreitet vor seinen Augen.
Mein Zauberer
wo bist du?
Ich suche dich
und finde dich
in deinem Zauberwald
dort leuchten die Lichter so hell wie die Sterne
klingt Musik aus der Ferne
und nah, ganz nah
spüre ich deine Wärme
Du, Bluebird, mit deinen unendlichen Küssen, du berührst meine Seele, dort, wo sie sich einsam fühlt. Mein Leben ist nicht von dieser Welt, ich begreife es langsam, aber glücklich. Mein Leben lässt sich nicht messen mit der Elle der Helligkeit. Leg das Maß des Traumes an und du wirst mich finden, wirst meine Schönheit sehen und begreifen, was ich dir sein kann! Erst heute Abend ist es mir wirklich gelungen, dich Bluebird, schreibend einzufangen, erst, nachdem ich mich auch für Angel wieder geöffnet habe. Jedes kleine Körnchen Hass streut Samen in alle Richtungen. Sei wachsam, Marja!
Bluebird ist blond und blauäugig und wenn es dunkel wird, leuchten seine Augen so blau wie der tiefste Ozean. Er ist ein Dichter. Ich sehe ihn vor meinem Fenster stehen wie einen Minnesänger und wenn es dunkel wird, öffne ich heimlich meine Türe. Neulich sagte er zu mir: "Wenn du stirbst, werden alle deine Männer an deinem Grab stehen. Das wäre doch auch eine schöne Geschichte!" Nun, außer ihnen wird wohl niemand sonst dort stehen, denn ich pflege keinen gesellschaftlichen Umgang, bin auch in keinster Weise respektabel. Ich sage zu Bluebird: "Die Frau Witch ist doch eine gute Frau. Ich glaube, sie ist verliebt in dich. Und irgendwann wirst du heiraten wollen." Er ist entsetzt. Er will   m i c h   heiraten. Aber ich kann Bluebird nicht heiraten. Ich kann überhaupt niemanden heiraten. Wenn Bluebird Frau Witch oder irgendeine andere Frau heiratet, wird mir das Herz brechen. Aber das macht nichts. Es ist schon so oft gebrochen und immer wieder zusammengewachsen. Wenn man sich entscheidet, so zu leben wie ich, muss man damit rechnen. Das macht meine Seelenverwandtschaft zu Angel aus, deswegen sind wir schon seit Jahren ein Liebespaar.
"Sei, was du bist, gib, was du hast!", sagt eine jüdische Dichterin, ich glaube, es war Rose Ausländer. "Gewöhn dich nicht, du darfst dich nicht gewöhnen. Eine Rose ist eine Rose, aber ein Heim ist kein Heim. Sag dem Schoßhund Gegenstand ab der dich anwedelt aus den Schaufenstern. Er irrt. Du riechst nicht nach Bleiben." (Else Lasker-Schüler)
Ich suche nach den Perlen, immer wieder tauche ich hinab ins tiefe Dunkel. Ich bin eine Liebende und ich weiß, dort unten finde ich nicht nur dich, sondern auch mich selbst. Ich bin eine Leidende. Shy hat Angst und wenn er Angst hat, wird er grausam. Er tut mir wieder weh. Ich weine. Warum ziehst du mich in den Tod? Siehst du nicht die Schönheit der Welt? Öffne deine Augen, befrei dich von deiner Angst! Du musst jeden Tag von vorn beginnen und du musst wissen, dass das Geheimnis die Liebe ist, nicht der Hass!
Darius ist wieder in der Stadt. Einst war ich ein verlockender Edelstein für dich. Du nahmst ihn und deine Finger verbrannten zu glühender Kohle. Ich verstehe, dass ich mit dir spreche, weil ich voller Poesie bin. Ich will dir die Schönheit der Welt zeigen, aber du streust die Asche deiner toten Finger auf mein Leben. Wir stehen am Fenster und ich höre nicht den Sturm, der aufzieht aus dem Nichts und sehe nicht den Tiger in der Schwärze der Nacht. Ich weiß, der Tiger frisst auch Menschen, wenn er hungrig ist, deshalb will ich fliehen. Aber Darius hält mich fest und sagt: "Verstell dich! Dann schont er dein Leben!" Als was soll ich dem Tiger erscheinen? Als Vogel? Dann könnte ich ihm davonfliegen! Als Fisch? Dann könnte ich ihm davonschwimmen! Aber ich bin, was ich bin und dem Raubtier hilflos ausgeliefert.
Es ist wieder kalt geworden in dieser leeren Stadt. Ich friere. Ich zittere vor Kälte. Shy wirft nicht mehr mit Steinen nach mir, er zieht mich zurück in sein Bett und alles andere wird schal und faulig unter diesem Akt der Gewalt. Ich kann nicht einschlafen, wälze mich hin und her, bin eine, die die Liebe liebt. Ich kann nicht mit Darius befreundet sein wie ein Mann. Ich bin eine Frau und er ist ein Mann und ich liebe und begehre ihn, obwohl ich ihn viele Jahre nicht gesehen habe. Ich versuche nicht, das zu verstehn oder zu analysieren, ich nehme es hin und will es ausleben, Carpe Diem. Und wer will mein Pastor sein, mein Missionar? Wer opfert sich? Ich spiele die Spielchen, die Shy mir diktiert. Darius will alles oder nichts. Er sagt: "Ich schlafe mit dir, wenn du willst, jetzt, hier." Ich sage: "Hier, auf der Straße?" Er sagt: "Egal wo, oder in einem Hotel, wo du willst, aber du musst an die Konsequenzen denken!" Welche Konsequenzen? Das sagt er nicht, das kann ich nur ahnen. Er lässt mich nicht mehr gehen, wenn ich es tue, er will mich für sich allein haben. Der Preis der Leidenschaft ist hoch, das Schiff hin- und hergeworfen von einem Sturm zum anderen, nur manchmal ist die See ruhig, zum Atemholen, dann beginnt es von Neuem und irgendwann einmal, wenn der Nebel zu dicht wird und der Kapitän zu unvorsichtig, dann sinkt es und reißt alles mit sich in die Tiefe.
Ich bin eine schamlose Betrügerin. Ich betrüge jeden mit jedem. Und es ist die Wahrheit. Mein Verlangen ist so groß, dass ich alle Grenzen sprenge. Und wenn ich erwache, erfüllen mich Trauer und Scham und ich hasse jeden, der mich berühren durfte. Ich muss meine Gefühle zügeln. Simone de Beauvoir hat einmal gesagt: "Wer nichts empfindet, ist unfähig zu schreiben. Wenn aber Ekel und Abscheu uns ersticken, werden wir uns ebenfalls nicht ausdrücken können." Nur schreibend finde ich meine Mitte und die Distanz, die ich vom Leben und der Liebe brauche, um nicht zu ersticken. Gia Dinh. Selbst als Clochard unter einer Brücke würde ich noch schreiben, um zu überleben. Die Worte ordnen und machen Sinn. Wenn sie verstummen, verstummt auch meine Kraft. Dann bin ich hin- und hergetrieben wie ein Halm im Wind, schutzlos und ausgeliefert denen, die mich treten. Einerseits bin ich lüstern wie eine Schlange, spiele ein gefährliches Spiel; andererseits ertrage ich keinerlei Berührung, will meinen Körper verstecken.
Mit achtzehn kam der Tod zum ersten Mal, riss mir den Geliebten von der Brust und aus dem Herzen. Seitdem ist die Liebe in viele Kanäle gesickert. In tausend Armen will ich euch empfangen, ihr, in denen ich den einen suche, immer wieder nur den einen, den ich geliebt und verloren habe. Angel heute, morgen Shy, übermorgen Darius, zu guter Letzt Bluebird und dann wieder von vorn oder alle zusammen? Jeder ist es und in jedem wohnt der Tod, das Wissen um die Vergänglichkeit.
Ich beweine den toten Geliebten, Firstlove, jetzt und mit jeder neuen Liebe, die beginnt und endet. Das Gespenst des toten Geliebten verfolgt mich, es erscheint mir in Darius nussbraunen Augen, wenn sie lächeln und fortgehen und den Tod noch einmal zurücklassen.
Wann
bist du über uns hergefallen
du Tod?
Eine Lücke entsteht
und füllt sich mit Zeit
Zeit, die mich auffängt
im Flug
auf den Boden stellt
und schwer macht
Tage, die mich an das Unvermeidliche
gewöhnen
Das Grauen breitet einen Mantel über uns
wir sehen
das Kind
es riecht am Tod
Ich rufe Bluebird an. Seine Stimme tröstet mich. Ich erzähle ihm von Angel. Angel ist gleich nach dem Tod des blonden Jungen gekommen. Ich bin achtzehn. Ein Sarg wird in den Boden gesenkt. Das Bild währt mein ganzes neues Leben lang, mein neues Leben, das mit Angel beginnt. Angel ist stärker als das Bild, erst, als ich Darius verliere, später, sehr viel später, da taucht das Bild wieder auf und mir wird klar, dass es immer da war.
Es geschieht also auf dem Friedhof. Noch während Firstloves Sarg in den Boden eingelassen wird, sieht Marja Angel, sieht seine Zartheit, seine blonden Locken, seine schmalen Hände und sie träumt von diesen Händen, träumt davon, dass sie Marja berühren. Später wird sie auf den Friedhof gehen und dort wird Darius sie finden, sitzend auf dem Grabstein des toten Geliebten. Aber noch ist es Angel, der das Mädchen beschäftigt in ihrer Trauer. Er nimmt sie, als sie sich endgültig von Firstlove verabschiedet. Das Bild verblasst.



Eingereicht am 16. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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