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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Hollywoodschaukel

© Aniraak Ynloken


Der weiße Berg wackelte. Ein Zittern durchlief ihn, von innen heraus, setzte sich fort, wie die Wellen, die einem ins Wasser geworfenen Stein folgen. Von innen heraus zitterte er, schneeweiß. Rund war er und hoch, an der Spitze endete das blendende Weiß, ging nahtlos über in ein zartes Rosa, ein Hauch von Braun darunter.
Auch uns durchlief der Schauder, als wir ihn zittern sahen, diesen Berg aus weißem Fleisch. Wir saßen geduckt in den Koniferen, ja wir lagen fast, eine Wange auf den Stein gepresst, die Erde vor uns war trocken und von spießigen Wurzeln durchsetzt. Eine dünne Ameisenstraße lief neben meinem Fuß. Verlief sich an der Rinde der wachsartigen Koniferen, ein stetiger Fluss.
Wir hatten auf den Augenblick gewartet, schon seit Tagen. Es gehörte zu den sommerlichen Lieblingsbeschäftigungen von uns Kindern, uns hinter den Garagen zu sammeln, im schmalen Mittagsschatten, noch träge vom Essen, ein wenig Schlaf in den Augen. Das war unsere Zeit. Die Zeit, in der die Erwachsenen uns vergaßen. Die Väter sowieso, die waren schon frühmorgens zur Arbeit gefahren, als wir noch genießerisch im Traum lagen. Jetzt saßen sie in ihren Büros, wo wir sie nur alle heiligen Zeiten einmal besuchen kamen.
Aber auch die Mütter hatten uns vergessen in der Zeit der dünnen Schattenstriche, wenn die Hitze über dem Tal lag. Wenn sie uns abgefüttert hatten, den Tisch abgeräumt, das Geschirr gewaschen, die Schürze fein säuberlich an den Haken gehängt, dann hingen sie ihren eigenen Gedanken nach irgendwo in den kühlen Häusern. In der Zeit waren wir ganz uns selbst überlassen.
In der Zeit, da wir unsere eigenen Herren waren, in der heißen Frühnachmittagssonne, unbeachtet und unbeobachtet, wurden wir selbst zu Beobachterinnen. Spione waren wir, Agenten. Wir brannten nur darauf, dass die Birken neben den Garagen zu säuseln aufhörten. Wir warteten auf diese Stille, in der alles immer langsamer wurde. Beharrlich warteten wir, Schweißtropfen auf Stirn und Nacken. Dann trafen wir uns im schmalen Schatten der Garagen, eng an das blaugraue warme Blech gedrückt, das hinter dem Rücken an manchen Stellen abblätterte, sich abziehen ließ wie die zarte Birkenrinde. In Streifen, kleine Brautschleier, Seidenpapier. Schweigen.
Wenn dann alle versammelt waren, zogen wir die Sandalen und Holzschlapfen aus, mit denen man so leicht umknickte und sich noch viel leichter verriet, weil man mit ihnen nicht schleichen konnte. Wir stellten sie fein säuberlich nebeneinander, die Schuhe, sie würden unsere Rückkehr geduldig erwarten. Die Roller lagen in den Büschen.
Dann schlichen wir den Schattenweg entlang, der um die Gartenmauern lief, handbreit war er und der Asphalt dort schwarz, wie die Sonne weiß war, so grell. Im Schatten patschten leise unsere Sohlen, wir bogen die überhängenden Äste beiseite, gebückt unter den Hecken, den kleinen roten Blüten, den Bienen hindurch liefen wir die lange Gasse hinauf. Wie weiße Soldaten standen die Häuser, die Rollos Augenhöhlen, und schliefen. Drinnen im kühlen Bauch saßen die Mütter und dachten ihre eigenen Gedanken.
Beim letzten Haus, dort wo die Gasse eine enge Linkskurve beschrieb, sahen wir uns um, noch immer im Schatten unter den Hecken. Wir atmeten aus und tief ein, dann winkte die erste mit der Hand, das war das Zeichen.
Die Gasse schlief in der Hitze wie die Häuser, wir huschten über den Boden, die Zehen aufgestellt wie Eidechsen, um der Hitze zu entkommen. Sie brannte auf den Sohlen.
Auf der anderen Seite schnell weiter, die Kurve hindurch und abgebogen in den schachtartigen Gang zwischen den Gärten und dem angrenzenden Grundstück, wo hinter dem Maschendrahtzaun Ribisel standen. Hier roch es nach Urin und Moos, die Sonne kam hierher kaum, berührte den Boden nie. Zu hoch waren die Koniferen, uns grauste vor dem modrigen Boden. Die Spannung band uns zusammen, eins nach dem anderen verschwanden die Kinder in dem feuchten Spalt. Wir unterdrückten den Ekel und ein Kichern. Verschnauften. Gingen in dem Riss in die Knie, um unter den Wachsbäumen durchschauen zu können, Spione, die wir waren.
Ganz nahe an der Erde hatte der grüne Vorhang ein Ende, stieß nicht an den Boden, ließ für ein schmales Auge den Blick in den Garten frei. Man musste das Ohr auf den Boden pressen, wie Elefanten klangen die Ameisen, sie scharrten und klopften. Oder war es das Herz? Das Ohr am schleimigen Grund, vor uns die trockene Erde unter den Koniferen, die rissigen Wurzeln wie die Hände der Mutter, dann der Rasen im gelben Licht. Und auf der Terrasse, wir hielten den Atem an, auf der Terrasse, auf der orange-grün geblümten Hollywoodschaukel das Ziel unseres Abenteuers. Dort lag sie aufgetürmt; die Schaukel, die weiß lackierten Stangen, quietschten leise. Der Stoff seufzte unter der Last des Fleisches. Frau Koller ragte zwischen Polstern und Baldachin weit in die Höhe. Der Schweiß brach aus, auf Stirn und Nase, uns durchlief ein Schauder. Im Rhythmus mit ihrem Atem ging er durch uns, ganz Gleichklang, wie ein Stromstoß, wenn du auf der Weide den Kuhzaun berührst.
Die schwarzen Haare, glänzend, als wären sie mit Butter eingeschmiert, glänzend wie Ostereier. Darunter ihr Gesicht, rot wie aufgeschminkt, eine breite Nase, ein blutroter Mund, ein Mündchen nur, als hätte sie sich verletzt. Die eine Wange schlaff, die andere rund. Und um das Gesicht das weiße Fleisch, Wachs und Marmor, durch das in regelmäßigen Abständen ein Zittern lief, vom Hals aus über die Arme, diese pludrigen Arme, die in winzige weiße Finger mündeten, an jedem ein knallroter Katzennagel, geschärft gegen böse Blicke, verbotene schmale Augen, die unter den Koniferen durchlinsten. Sie hätte uns damit ohne weiteres die Augen auskratzen können, wenn sie gewollt hätte. Die Frau Koller. Aber sie wusste nichts. Sie hatte ihr Fleisch auf der Hollywoodschaukel verteilt. Schicht um Schicht. Vanilleeis, Schlagobers. Die Arme staken in einem Federbett aus Fleisch, Berge auf dem Berg die Brüste, zwei köstliche Sommerwolken in reinem Weiß. Sie bebten wie Pudding. An der Spitze, am höchsten Punkt die rosa Brustwarzen, diese Knöpfchen mit einem Stich ins Braune, Erdbeer- und Schokoladeeis. Ich wusste ohne hinzusehen, dass die anderen das Gleiche dachten. Dass wir später zum Greißler gehen würden, nach vier dann, nach der Mittagspause, und uns einen Eisbecher kaufen würden, Vanille, Erdbeer und Schokolade. So wie Frau Koller, Eiscreme und Verlockung. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. Ich hätte gerne dieses Fleisch berührt. Gewusst, ob man darin versinkt wie in einer Wolke, in Watte. Oder ob es fest ist, kühl und fest wie Stein.
Die Ameisen schabten neben meinem Ohr, das heiß war auf dem kalten Stein.
Die Masse im Garten verschwamm, löste sich auf, wurde zu Schnee, darüber der bunte Baldachin, vor mir atmete meine Schwester.
Ich schloss das schmale Auge, schloss es kurz um es scharf zu stellen. Unter dem Lid blieb ein Abdruck von Orange und Grün und gleißendem Weiß. Rundum ein Regenbogen, als hätte Frau Kollers Silhouette einen Schatten, auch er bebte. Das Auge ging auf, schlüpfte zurück in seine Position, ganz nah war die Frau plötzlich. Unter Knirschen und einem gehauchten Stöhnen, - war sie es oder die Schaukel? - , drehte sich der weiße Koloss, drehte uns den Rücken zu, Moby Dick tauchte aus den Wellen, riss uns mit sich, hin zu dem riesigen Hintern, der sich hoch aufwölbte, der in den Baldachinhimmel stach, gleißend. Ein roter Fleck an der höchsten Stelle, ein kleiner roter See, ich hätte die Hand darauf legen wollen. Auf dieses Fleisch im Sommerlicht, das der Hitze trotzte, heil blieb unter dem unbarmherzigen Licht. Das Zittern legte sich, mit meinem Herzschlag bebte der Oberschenkel noch nach, fand schließlich Ruhe, nur die Zehen, so klein und weiß wie die Finger, zuckten.
Wie hingespuckt die Nägel, auch sie rot, blutrot. Im Haus klingelte das Telefon. Wir hielten den Atem an.
Mit der Trägheit eines großen Tieres erhob sich das Fleisch, baute sich nach und nach zu einem Menschen, einer nackten Frau auf, setzte sich zusammen, jeder Polster an seinem Platz. Die Schaukel quietschte, als die Füße in elegantem Schwung ihr Bett verließen, den Boden suchten, die Zehen schnupperten am Rasen, suchten nach den Pantöffelchen mit dem Pompon drauf, schlüpften federleicht hinein.
Ohne zu rucken, in einer geschmeidigen Bewegung verwandelte sich das aufgetürmte Fleisch, spannte sich in die Haut, kroch an seinen Platz, wurde straff und prall unter der Hülle, die es umfing.
Das Klingeln breitete sich über den Rasen, floss auf uns zu, während Frau Koller mit wippendem Busen, die rosa Nippel ihr stramm vorauseilend, ins Haus schwebte. Nur die Hollywoodschaukel bebte, als läge der Geist des Fleisches noch auf ihr. Eine Ameise krabbelte mir ins Ohr, ich schrak auf.
Mit mir die anderen, so wie man aus einem Traum erwacht. Auf den Wangen waren wir gezeichnet, hatten das Mal der Sehenden, der Wissenden. Das Fleisch hatte von uns Besitz ergriffen. Und das schlechte Gewissen. Wir traten den Rückzug an, schweigend. Auf der Nase standen die Schweißtropfen, Erdkrümel klebten auf der Haut. Im Schatten der Garagen saßen wir, inzwischen war er gewachsen, der Schatten, zogen unsere Schuhe an. Wir sahen einander nicht an, wir warteten. Warteten, dass der Eindruck des Fleisches verblassen würde und der Sommer zurückkehrte. Ich seufzte.



Eingereicht am 16. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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