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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Caio

© Ekkehard Hansen


Martin schaute aus dem Fenster. Dunkle Wolkenfetzen flogen vorbei, dann wurde es wieder heller, und Tropfen erschienen auf der Scheibe. Die Stadt lag grau unter ihm. Flughafen Guarulhos, São Paulo. Die Räder setzten ruckend auf der Landebahn auf.
Er hatte eine Woche im heißen Nordosten Brasiliens hinter sich. Konferenzen mit deutschen und brasilianischen Kollegen der Firma, die er kontrollieren sollte, lokale Politiker. Ein paar Stunden Strand zwischendurch, und abends dann die Essenseinladungen. Lieber wäre er allein durch die Straßen gebummelt. Die fremde Sprache war ihm längst vertraut, doch war ihm die Armut unheimlich, die hinter den Straßenecken zum Vorschein kam. Und dann die Jungen und Mädchen auf der Straße, leicht bekleidet, bei denen er nicht wusste, was sie eigentlich wollten. Wäre er jünger gewesen, hätte er vielleicht eine Begegnung riskiert, um ein Bier gemeinsam zu trinken und übers Leben zu reden, oder einfach, um einen Arm um eine Schulter zu legen, zärtlich zu sein. Jetzt aber fühlte er sich nicht mehr leicht genug, und er verbrachte seine Zeit lieber im klimatisierten Hotelzimmer.
Das Flugzeug rollte langsam zu einem Standplatz fernab des Flughafengebäudes, die Motoren erloschen, es wurde hell. Er faltete die Zeitung sorgfältig, legte sie auf den Nebensitz, nahm seine Aktentasche und zwängte sich in den Flur. Auf der Treppe nieselte ein feiner Regen; er hätte auch in London oder Amsterdam sein können. Der Bus brachte die Reisenden fast geräuschlos zum Flughafengebäude. Rasch ging er Richtung Gepäckausgabe und setzte sich in die Halle. Das Förderband rotierte bereits, und nur einige mit blauem Plastik ummantelte Kartons wiederholten die ächzende Schleife.
"Do you speak English?" Er blickte auf. Ein vielleicht zehnjähriger Junge hatte sich vor ihm aufgebaut, den Kopf schräg gelegt, und fuhr mit heller Stimme fort: "Guten Tag." Dann: "Parlez-vous français?" Dann, auf Portugiesisch: "Ich wette, ich kann mehr Sprachen als du. Ich habe schon zehn Sprachen gelernt." Martin schaute ihn überrascht an. "Wo hast du die Sprachen gelernt?" Der Junge überlegte. Dann sagte er: "Hast du Kinder?" Martin musterte den Jungen. Ein dünner Körper mit langen Beinen und Armen. Braune Haut, schwarze, etwas schräg geschnittene Augen, das schwarze glatte Haar der Indios schulterlang. Einfache Kleidung, aber neu und sauber, die Füße in blauen Plastiksandalen. Martin lachte. "Nein, habe ich nicht." "Warum nicht, magst du keine Kinder?" "Doch, ich mag Kinder, vor allem, wenn sie viele Fragen stellen. Aber sag mal, wo hast du denn die Sprachen gelernt?" Der Junge blickte unruhig umher. Sagte, "Hier und da. Einiges habe ich am Flughafen gelernt." Martin schaute suchend nach seinem Koffer. Aber noch immer drehten nur die blau verpackten Kartons ihre Schleife. Er rutschte auf dem unbequemen Plastikstuhl hin und her. Er überlegte, ob er dem Jungen Geld geben sollte. Aber dann fragte er weiter: "Bist du oft hier am Flughafen?" "Nur, wenn ich nichts zu tun habe. Dann kann ich mich mal in einer anderen Sprache unterhalten."
Martin überlegte, wie der Junge in den Bereich der Gepäckausgabe gelangt war. Er war unsicher, in welchem Ton er mit ihm sprechen sollte. So fragte er das Unsinnigste: "Wohnst du mit deiner Familie zusammen?" Der Junge streckte ihm die Hand entgegen. "Ich heiße Caio. Ich habe schon ein paar Jahre im Erziehungsheim verbracht." Er grinste. "Meine Mutter hatte nicht immer Zeit für uns, mein Vater ist schon lange tot. Dann war ich mal 'n Jahr in dem Heim, dann wieder zu Hause, dann wieder Heim, dann bin ich 'n paar Mal ausgerissen; dann habe ich mal bei einer französischen Professorin gewohnt, das war ok, da habe ich dann Französisch gelernt. Je m´appelle Caio." Er grinste. "Und dann bin ich wieder weg." "Brauchst du Geld?" Caios Augen zuckten ein wenig, erschienen dunkler. "Lass uns noch ein wenig reden. Ich mag es, mit dir zu reden." Martin errötete. Er ließ die Hand über seine Hosentasche gleiten, und fühlte die Brieftasche. Caio schaute ihm in die Augen. "Wenn du Kinder magst, solltest du auch welche haben. Bist du verheiratet?" Feiner Schweiß rann Martin von den Achseln. Vor fünf Jahren von einer kurzen Ehe geschieden, in mehr Städten und Ländern gewohnt, als andere als Urlauber besuchten, sein Leben. "Nein, ich bin nicht verheiratet. Und zu Kindern ist es auch nicht gekommen." Caio strahlte ihn an. "Ich mache dir einen Vorschlag. Möchtest du mich nicht adoptieren? Ich brauche einen Vater. Du magst Kinder. Das ist doch ganz einfach?" Das Strahlen verlor sich schon, als die Sätze gesagt wurden. Der Junge blickte in die Ferne. Martins Kopf wurde heiß. Er erinnerte sich an die Augen einer unbekannten Frau, die ihn einst ansprach, und der er nicht einmal ein Gespräch erlaubte. Aber das war ja noch ein Kind. Martin atmete tief. "Du weißt, dass das nicht so einfach geht. Und überhaupt, ich bleibe nur zwei Tage in São Paulo. Aber es ist nett, sich mit dir zu unterhalten. Du bist ein intelligentes Bürschchen." Martin lächelte schief.
Da kam auch schon sein Koffer. Zwischen zwei abgeschabten Plastiktaschen stand unversehrt sein beigebrauner Lederkoffer. Er hob ihn auf einen Wagen und sehnte sich plötzlich nach seiner Wohnung. Die zwei Tage in São Paulo würde er auch noch überstehen. Er roch schon den dunklen Nadelwald, und hörte die Stimme seiner Mutter, die ihn zum Essen rief. Er strich Caio über den Kopf und gab ihm 50 Reais. Der Junge dankte ihm und lief schnell weg. Martin rief nach einem Taxi. Er klang ein wenig heiser.



Eingereicht am 16. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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